Geprägtes Leid
„… Ich drehe mich um und sehe sie an. Sie weint. Es ist bereits zu spät diesen Wahnsinn zu beenden. Sie schaut zu Boden, wie bereits den ganzen Morgen, seit ich ihre Hände an einem horizontal, an einer Kette aufgehängten Metallrohr, an beiden Enden mit Draht fixiert habe. Da der Raum in der Waldhütte ihrer Eltern nicht hoch genug für die Konstruktion ist, muss sie knien. Die Szene erinnert an eine Kreuzigung. Die Finger sind bereits blau angelaufen und ich versuche sie nicht anzuschauen, um ihre Qualen nicht mitzuempfinden. Sie tut mir so leid. ‚Verdammte Empathie. Es sind nicht meine Hände, nicht meine Finger‘, sage ich mir immer wieder, ‚ihr Schmerz ist nicht mein Schmerz.‘ Dass ich überhaupt darüber nachdenke, macht mich wütend, wütend auf den Feigling in mir. Und das macht mich noch rasender, also ergreife ich das Teppichmesser und stelle mich hinter sie. Ich packe sie an den Haaren und halte ihr das Messer ans Ohr aber sie stöhnt auf. So laut, dass ich zurückschrecke und loslasse. Dann reiße ich mich zusammen und gehe wieder nach vorne Ich wische den Schweiß weg und schneide tief in ihren linken Daumen. Sie stöhnt wieder auf, hustet, spuckt Blut. Ich will den Ekel in mir auslöschen, doch auch diesmal komme ich nicht umhin eine angewiderte Grimasse zu ziehen.
Ich schaue mir die blutdurchnässte Schnur an, die ich durch ihre Zunge, die Brustwarzen und die Klitoris gespannt habe. Sie bildet ein nahezu perfektes Kreuz, welches nur noch in der Mitte seine ursprüngliche, weiße Färbung beibehalten hat. Für einen kurzen Augenblick verliere ich mich in den Gedanken und frage mich was ich als nächstes tun sollte. Die Gefahr einer Verunreinigung der Wunden kommt mir in den Sinn und so greife ich nach einem Behälter mit Desinfektionsmittel, den ich vorsorglich eingepackt hatte und verteile die gelartige, klare Flüssigkeit über den Schnittstellen. Sie stößt widerlich-schrille, hohe Laute aus und dennoch ertappe ich mich bei dem Gedanken zum ersten Mal während dieser absurden Tat das Richtige zu tun.
Wieder bemerkte ich wie sich alles in mir sträubt diese Folter fortzusetzen und wieder rede ich es mir ein – ‚Ich tue das Richtige. Es ist ihr Schmerz, nicht der meine!‘
Um mich etwas zu beruhigen nehme ich die Kamera und fange wieder an Bilder zu schießen. Die Blutung am Daumen scheint nachzulassen. Ein dünner, roter Streifen, schlängelt sich von der Hand bis unter ihre Achselhöhle, streift auf seinem Weg sanft zwei blaue Flecke unter der linken Brust und läuft weiter entlang der frischen Schnittwunden bis an die Taille. Dort hat sich ein rubinfarbener Tropfen gebildet der bezaubernd im Dämmerlicht dutzender Kerzen funkelt. Der Anblick ist nahezu ästhetisch. Ich gehe einen Schritt näher um das Kunstwerk besser einzufangen, mache dann weitere Aufnahmen von den Schnittwunden und den blauen Flecken, bevor ich die Kamera weglege.
Dann packe ich sie wieder an den Haaren und drücke den Kopf weiter nach hinten, bis sie laut aufschreit und die ausgetrocknete Zunge durch die Anspannung der Schnur noch weiter aus dem Mund hervortritt. Ich packe die Schnur in der Mitte und drücke sie zusammen sodass die Brüste und die Klitoris noch stärker angespannt werden. Die Schreie sind jenseits des Vorstellbaren, der Anblick so ekelhaft, dass ich den Kopf wegdrehe und plötzlich doch bemerke, wie sich eine Welle schamhafter Erregung über meinen Körper bis nach unten zum Glied ausbreitet. Gänsehaut. Immer wieder rede ich mir ein, dass alles nach Plan verläuft.
‚Wie lange sie wohl noch durchhalten wird?‘, frage ich mich und denke sogleich: ‚Es ist ja gleich vorbei, fehlt nur noch die Botschaft auf ihrer Brust.‘
Die schlechte Luft, das andauernde Gestöhne und die zunehmende Müdigkeit vernebeln meinen Geist. Also schalte ich Musik ein. Haydn, eine ruhige Klaviersonate.
Sie uriniert auf den Boden. Mir ist bewusst, dass sie es mit Absicht macht – damit ich sie wieder Schlage. Also tue ich es, trete sie einige Male in den Bauch. Ich ertappe mich bei dem Gedanken an die erstaunliche Saugfähigkeit des Teppichs ihrer Eltern. Dem sowieso schon abscheulichen Geruch im winzigen Zimmer gesellt sich nun ein beißender Urin-Geruch. Ich ertrage den ganzen Ekel und den widerlichen Gestank nicht mehr, sinke vor ihr zu Boden und übergebe mich. Dem Odeur tue ich damit keinen Gefallen. Ich hatte mir das Ganze nicht annährend so ekelhaft vorgestellt. Da sitze ich nun, neben meiner Kotze und spüre ihren unerträglichen Blick auf mir.
‚Reiß dich bitte zusammen, Steven‘, sagt sie undeutlich.
Ich schaue ihr eine Zeitlang in die Augen und tue mir selbst leid. Das Gefühl loszuheulen, sobald ich beginne zu sprechen, bewahrheitet sich.
‚Ich will nicht mehr, Veronica, ich kann nicht mehr‘, sage ich leise und schaue weg während ich mir wie ein Kind vorkomme, das gerade eine teure Vase seiner Eltern zerbrochen hat und es ihnen nun voller Reue gestehen muss.
Sie versucht den Kopf zu heben, zumindest soweit die angespannte Schnur in ihrer Zunge es zulässt und sieht mir bohrend in die Augen. Ich bemerke, dass es sie wegen der Schmerzen immense Überwindung kostet, mit mir zu reden und bereue fast diese ungeplante Unterbrechung unseres Spektakels. Doch der letzte Schritt, das Reinritzen der Botschaft in ihre Brust ist mehr als ich in meinem Zustand fertigbringe.
‚Verdammt nochmal, Steven! Wir sind doch fast fertig!‘ Mit einer derart ramponierten Zunge ist die Aussprache nicht besonders deutlich. Doch ich kann sie verstehen, spüre wie jedes einzelne Wort sich in meinen zerrütteten Verstand hineinbohrt.
‚Für dich wird es doch nie vorbei sein!‘, schreie ich heulend zurück, ‚aber ich kann einfach nicht mehr! Dir war es immer egal wie ich mich dabei fühlen werde!‘
Ihr Blick wird hart. Ich bemerke wie gerne sie jetzt frei wäre um mich wieder zu ohrfeigen. Ich sehe nur noch die Psychopatin in ihr, doch rede mir immer noch ein, dass ich ihr auf diese Weise helfe.
‚Mach mich los!‘ zischt sie, ‚dann bringe ich es eben selbst zu Ende.‘
Ich überlege ob es bei den vielen spitzen Gegenständen im Raum eine gute Idee wäre sie komplett zu befreien.
‚Mach schon… Dann ist es eben vorbei!‘, brüllt sie röchelnd, während blutverfärbte Spucke aus ihrem Mund läuft und langsam auf den Boden träufelt. Sie wirkt mit einem Mal so nüchtern und selbstbewusst, dass ich fast wieder auf sie hereinfalle und den psychotischen Ausdruck ihrer Augen nicht mehr wahrnehme. Wie schlecht ich doch unter Druck Entscheidungen treffen Kann!
Doch ich fange mich wieder und beginne apathisch meine Sachen zusammenzupacken, suche alles mit den Augen ab. Sie beobachtet mich und ich sehe wie sie vor Wut fast explodiert. Ich habe alles. Jetzt nur noch eine ihrer Hände befreien, den Rest kann sie alleine erledigen. Ich will nicht in ihrer Nähe sein, wenn sie wieder frei ist. Die rechte Hand fällt regungslos nach unten als ich sie losbinde. Es wird wohl noch eine Weile dauern bis sie sie wieder bewegen kann.
Während ich panisch alle Gegenstände und Möbel von meinen Fingerabdrücken befreie, hört sie nicht auf mich mit ihren verachtenden Blicken zu strafen. Ich warte noch um mich zu vergewissern, dass sie die Finger wieder bewegen kann. Dann schau ich sie noch kurz an, wende mich ab und gehe in Richtung Tür. Da höre ich sie wieder leise röcheln:
‚Steven, wage es ja nicht, jetzt einfach so zu verschwinden!‘
Wie versteinert bleibe ich stehen, wohlwissend, dass ich gehen sollte. Nein, rennen sollte ich, habe die Abmachung nicht eingehalten, mein Versprechen gebrochen...“
Steven Heyes wandte seinen Blick von den Notizen ab und schaute zu seiner Psychotherapeutin, Dr. med. Anna Milesto, die etwas verdutzt aber immer noch entspannt in ihrem Ledersessel thronte.
„Fertig?“ fragte sie trocken. Er nickte.
„Möchten sie etwas trinken? Sie sehen etwas erschöpft aus.“ Steven schüttelte den Kopf. „Es sei denn, sie hätten guten Scotch“, er sah sie schmunzelnd an.
„Nein, Mr. Heyes, bei den Medikamenten die sie einnehmen, dürfen Sie keinen Alkohol trinken, das wissen Sie doch“, entgegnete sie mit einem Hauch der Überlegenheit in ihrer Stimme.
Kopfschüttelnd fuhr sie fort: „Ich habe immer noch nicht verstanden warum Sie darauf bestanden, mir das Ganze erst komplett vorzulesen, anstatt das wir uns, wie üblich, einfach darüber unterhalten.“
Sie legte ihren Notizblock samt Kugelschreiber auf den kleinen Glastisch neben ihr, lehnte sich zurück und verflocht die Finger überlegen ineinander.
Dr. Anna Milesto, Diplom-Psychologin, bereitete ihre langjährige Tätigkeit als Psychotherapeutin und Familienberaterin schon lange kein Vergnügen mehr. Die Erfüllung des Lebenstraumes war an der achtundvierzig jährigen Princeton-Absolventin vorbeigegangen und das bekamen ihre Patienten regelmäßig zu spüren. Nach dem tragischen Tod ihres Mannes, nährten sich Verbitterung und Vereinsamung immer mehr von ihrem einst so starkem Lebenswillen.
„Was hat Sie dazu veranlasst diese Geschichte aufzuschreiben, würde Sie so etwas gerne erleben? Es entspricht überhaupt nicht Ihrer Natur. In Wirklichkeit würden Sie einem Menschen so etwas nie antun wollen. Verstehen Sie mich? Schauen Sie mich an, Steven… Steven…“
„Warum glauben Sie, es hätte etwas mit ‚wollen‘ zu tun?“ fragte Heyes wie aus einem Traum erwachend, „haben Sie mir überhaupt zugehört? Wie es aussieht nicht! Denn dann wäre Ihnen vielleicht aufgefallen, dass sie es selbst geplant hatte. Ich habe ihr bloß geholfen.“
„Beruhigen Sie sich bitte, ich habe Ihnen sehr genau zugehört“, Milesto erschrak etwas, natürlich ohne es zu zeigen. So hatte sie ihren sonst sehr ruhigen Patienten noch nie zuvor erlebt. Doch sie zeigte es nicht, die Jahrzehnte lange Erfahrung im Umgang mit solchen Situationen haben sie eines gelehrt – nie die Angst zeigen und sich nicht auf Provokationen seitens der Patienten einlassen. Sie warf einen Blick auf ihre Mitschrift. Eine unbehagliche Stille erfüllte den abgedunkelten Raum.
„Von welcher Abmachung hatten Sie eigentlich gesprochen, Steven?“ Fragte sie schließlich um das Schweigen zu brechen und dem angespannten, jungen Mann ihre Aufmerksamkeit zu beweisen. Sie empfand die Anschuldigung, sie habe nicht aufmerksam zugehört als kränkend und ungerechtfertigt und wollte ihm auf keinen Fall den Triumph gönnen, ihr, einer angesehenen und geachteten Psychotherapeutin, Fahrlässigkeit nachzuweisen.
„Was?“ Heyes stockte, „ach so, Sie haben also doch zugehört“, er lehnte sich langsam zurück, grinste und legte die Arme lässig auf die Stuhllehnen.
„Die Abmachung lautete es zum Ende zu bringen, also bis zu dem Reinritzen der Botschaft auf ihre Brust, Ihnen die Fotos zu übergeben und die gesamte Geschichte später zu veröffentlichen. Danach wollte ich mich umbringen“, sagte Heyes und starrte Dr. Milesto in die Augen, als erwarte er eine bestimmte Reaktion. Die Sicherheit, mit der Steven sprach, verwunderte die Therapeutin. Sie lehnte sich nach vorne und Heyes bemerkte, dass er es geschafft hatte - sie wurde neugierig, wie Eileen es vorhergesagt hatte, versuchte es aber mit aller Kraft zu verbergen. Beide schauten sich nun schweigend an.
„Die Bilder mir zu geben? Sehr amüsant. Die Frau, die Sie so bestialisch auf ihren eigenen Wunsch hin quälten, wusste also von Ihrer Therapie?“
„Ja.“
„Wie ging die Geschichte weiter?“
„Sie meinen nachdem ich mich entschloss abzubrechen?“
„Ja. Sind Sie gegangen oder geblieben?“ fragte sie mit einem selbstzufriedenen Gesichtsausdruck und setzte ein ungläubiges Grinsen auf. Ihr Patient sollte auf keinen Fall merken, dass sie interessiert war. Sie wollte sich auf keinen Fall auf sein Spiel einlassen, gleich würde sie seinen Plan durchschaut haben. Gleich würde er den entscheidenden Fehler begehen. Zudem war die Sitzung fast zu Ende und Milesto verspürte einen bereits allzu bekannten Drang den Tag sowie die Praxis hinter sich zu lassen.
„Ich ging, nein, ich rannte wie ein Wahnsinniger durch den Wald, runter zum Boot. Ich konnte ihre Schreie noch immer hören, sie hallten durch die Bäume hinweg, zerschnitten die frische Luft. Es war reiner, unverfälschter Hass der mich verfolgte. Ich fing selbst an zu schreien um ihr Gebrüll zu übertönen…“
„Schwachsinn“, unterbrach Milesto genervt und griff nach ihrem Terminplaner, „ich glaube die Zeit ist um. Bei der nächsten Sitzung können wir den Ursachen dieser Bedürfnisse in Ihnen nachgehen. Und damit meine ich auch das Bedürfnis solche Geschichten zu erfinden. Ich bezweifle, dass Sie an Pseudologia Phantastica leiden aber ganz ausschließen kann ich es auch nicht.“
Sie machte eine kurze Pause, um ihrem Patienten die Möglichkeit zu bieten sich nach dem medizinischen Ausdruck, den sie soeben verwendete, zu erkundigen, doch er saß immer noch entspannt, selbstzufrieden und ohne das geringste Anzeichen gehen zu wollen in dem Ledersessel.
„Steven“, sagte Sie mit einem Anflug von Güte und Wärme in ihrer sonst so kalten und gefühllosen Stimme, „Sie haben so eine wunderbare Freundin, liebende Eltern, einen guten Job – freuen Sie sich des Lebens, schwimmen Sie nicht in diesen dunklen Gefilden. Das Leben ist viel zu kurz dafür…“ Heyes fing plötzlich an laut zu lachen, was die Therapeutin sichtlich überraschte.
„Meine Freundin ist nicht so nett wie Sie glauben, Dr. Milesto… Sorry, Schatz… Aber ich liebe sie nun Mal…“
„Darüber können wir uns das nächste Mal unterhalten“, sagte sie bestimmt. Die Unterhaltung drohte aus dem Ruder zu laufen und ihrer Erfahrung nach, war es das Beste, eine solche Sitzung an einem anderen Tag fortzusetzen. Sie wollte gerade aufstehen als Steven fortfuhr.
„Sie erinnern sich sicherlich noch, was vor zwei Jahren so alles in Ihrem Leben passiert ist, nicht wahr, Mrs. Milesto?“ Er schlug die Beine übereinander und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Sie erwiderte seinen Blick, lehnte sich jedoch langsam und resigniert zurück.
Milesto hatte diesen Patienten erst seit vier Monaten und nun fragte er nach solchen persönlichen Dingen, welche sie nicht einmal ihren Arbeitskollegen anvertraut hatte. Sie hatte schon oft Fälle bei denen es nötig war Ruhe zu bewahren und sich nicht provozieren zu lassen. Auch diesmal musste sie auf ihre ganze Professionalität zurückgreifen.
„Spielen Sie auf den Unfall an, bei dem mein Mann ums Leben kam?“ fragte sie mit einer angespannten Gelassenheit, „ich spreche mit meinen Patienten nicht über solch persönliche Dinge.“
Heyes lachte wieder. Diesmal noch selbstzufriedener. „Nein, ich spiele auf den Konflikt mit Ihrer Tochter an. Ihr „unerlaubtes“ Zungen-Piercing, erinnern Sie sich?“
Milesto fiel sofort die unsinnige Idee ein, die ihre Tochter damals hatte. Sie interpretierte es als das schmerzhafte Verarbeiten des Todes ihres Vaters. Der Verlust eines nahestehenden Menschen konnte der Auslöser für die verschiedensten Selbstkasteiungen sein. Noch während der Überlegung wie sie möglichst distanziert Stevens eklatante Provokation kontern würde, und noch bevor sie den nächsten Gedanken fassen konnte, erstarrte sie plötzlich vor dem triumphierenden Grinsen ihres Patienten.
„Ja“, er nickte selbstzufrieden, „langsam dämmert es Ihnen, nicht wahr?“
Anna versuchte sich hektisch an die Details von Damals zu erinnern. Eileens Besuche bei den Hautärzten, Medikamente gegen Entzündungen, der verbundene Daumen, die ungewöhnliche Sitzhaltung, die geschwollene Zunge, die düstere Aura. ‚Halt!‘, sie ertappte sich dabei wie sie auf das Spiel eines Patienten einstieg. Es konnte nicht stimmen. ‚Und wenn doch?‘, die Gedanken rasten. So etwas hatte sie seit dem Tod von George nicht mehr erlebt. Sie erinnerte sich wieder an Stevens Geschichte, an die einundzwanzig-jährige Frau und die Abmachung die Bilder ausgerechnet ihr zu übergeben. Es passte alles. Sie musste jetzt reagieren, das Schweigen dauerte bereits zu lange. Er hatte zu viel Zeit bekommen ihre Benommenheit zu genießen. Sie musste wieder die Kontrolle erlangen. Doch wie? Und was, wenn er die Wahrheit sagte?
„Wieso tun Sie das?“ Mehr brachte sie nicht hervor.
„Ich halte mich bloß an Eileens Plan“, sagte Steven lächelnd.
Er kannte den Namen ihrer Tochter! Milesto versuchte sich zu beruhigen, die Informationen konnte er sich aus dem Internet oder anderen Medien beschafft haben – Auftritte bei Gala-Veranstaltungen, Zeitungsberichte, soziale Medien...
Ihr Gedankengang wurde abrupt durch ein gefaltetes Foto unterbrochen, welches Heyes lässig aus der Seitentaschen seines Jacketts zog und auf den Tisch warf. Sie starrte auf das Bild und zögerte eine Zeitlang danach zu greifen, überlegte ob sie den Mistkerl rauswerfen sollte. Doch es war bereits zu spät, sie glaubte ihm, auch wenn sie die Gründe noch nicht verstand. Schließlich nahm sie das Foto und entfaltete es. Ihr Atem stockte und ein unkontrolliertes Zucken entwich ihrem angespannten Körper. Sie sah Eileen, ihren geschundenen Körper, den verstörenden Blick, der sie verachtend anstarrte.
„Warum?“, fragte sie verstört ohne die Augen von dem Foto zu lassen. In ihren Augenwinkeln sammelten sich Tränen und ergossen sich sogleich über die bleichen Wangen.
„Warum? Sie meinen warum ich Ihrer Tochter half diesen Wahnsinn durchzuziehen oder warum sie es wollte?“ Sein arrogantes Grinsen war längst gewichen und er schaute sie mitleidslos an.
„Beides! Alles!“ Milesto musste sich beherrschen um nicht handgreiflich zu werden aber sie konnte und wollte die Wut nicht mehr verbergen. „Rede, verdammt!“ Da war sie wieder, diese ekelhaft-hasserfüllte Seite die sie mit James‘ Tod für alle Zeiten beerdigt glaubte.
„Zunächst einmal solltest du wissen, dass ich dir ebenfalls sehr genau zuhöre, Anna. Besonders dann, wenn du lügst. Wie sagtest du nochmal – der Unfall deines Mannes?“ Heyes beugte sich ruckartig vor und starrte der schockierten Frau in die Augen. Stille. Sein Blick bohrte sich immer tiefer in die verborgensten Winkel ihrer düsteren Erinnerungen.
„Ich verstehe nicht was mein Mann…“
„Du verstehst sehr genau was ich meine!“, er lehnte sich wieder zurück, „und was meine Motive angeht – mein erbärmlicher Vater, die Karikatur eines Menschen, war dir sehr ähnlich, Anna, doch hatte ich nie den Mut und die Gelegenheit mich an ihm zu rächen. Als Eileen mir immer mehr von dir und deinem gefühllos-verachtendem Verhalten ihr gegenüber erzählte, fing ich ebenfalls an, dich zu verachten und gar zu hassen. Im Moment empfinde aber eher Abscheu… und eine Art Mitleid.
„Ich verstehe nicht, ich verstehe nicht…“, stotterte sie verwirrt während sich die Tränen unkontrolliert über ihre Wangen ergossen.
Es klopfte an der Tür und die Sekretärin schaute durch den Türspalt hinein.
„Dr. Mielsto, ihre Toch…“, Eileen stieß sie beiseite.
„Schließ die Tür und lass keinen rein, ich muss was mit meiner Mutter besprechen!“, sagte sie gebieterisch während sie ihre verzweifelte Mutter anschaute.
Milesto legte das Foto auf den Tisch und nahm mehrere Taschentücher aus dem Spender. Eileen zog einen Ohrhörer heraus und hielt ihn demonstrativ vor.
„Ich habe die gesamte Sitzung mitangehört.“ Sie zog eine Pistole heraus und lud sie durch. Steven sah sie erschrocken an, von einer Waffe war nie die Rede.
„Glotz nicht so dämlich, dachtest du wirklich ich wollte einfach mit ihr reden, sie zwingen die Wahrheit zugegeben und dann wäre alles in Ordnung? Heile Welt?“
„Eileen, gib mir bitte die Waffe“, sagte Milesto ruhig.
„Du kannst sie gleich haben… sobald ich fertig bin. Ich werde kein großes Theater veranstalten, ich wollte dir nur endlich sagen, was ich nie aussprechen konnte“, sie atmete schwer, das Sprechen wurde zur Qual, Tränen brachen los. Steven überlegte was sie vorhatte und ob er eingreifen sollte.
„Als ich meinen Bastard von einem Vater umbrachte, diesen perversen Scheißkerl den du so blind und bedingungslos liebtest, als ich dich deines perfekten Lebensgefährten der sich an seinen kleinen Patientinnen und an mir verging, beraubte… tat ich es auch für dich. Weil ich glaubte, dass du es tief in deinem Innerem wolltest aber es nie fertiggebracht hättest! Aber du hast es mir nie verziehen, du hast es mich immer wieder spüren lassen wie sehr du mich dafür verachtest! Was ist, findest du ich habe endlich genug dafür gebüßt?! Du…“
„Eileen! Sei jetzt still!“, schrie Milesto wutentbrannt.
Steven schaute sie an und sein Mitleid, welches er noch vor wenigen Minuten für diese Frau empfand, verschwand. Was auch immer Eileen ihr nun antun würde, alleine für diesen gefühlslosen und hasserfüllten Ausdruck in ihrem Gesicht, hätte sie es verdient.
Der Schuss riss ihn abrupt aus den Gedanken. Wie in Zeitlupe beobachtete er wie sich winzige Bluttropfen auf seiner rechten Hand verteilten. Eileen sackte zusammen und fiel zu Boden. Die Therapeutin und ihr vermeintlicher Patient schauten sie schockiert und regungslos an. Sie hatte sich durch das Kinn in den Kopf geschossen.
Als Steven wieder zu sich kam, griff er sofort nach der blutgetränkten Pistole in Eileens Hand. Er richtete sie auf Milesto die langsam von ihrem Stuhl auf den Boden sank und auf allen Vieren zum Leichnam ihrer Tochter kroch. Er zielte auf ihren Kopf.
„Das ist alles deine Schuld du ekelhaftes, gefühlloses Miststück!“ So gerne er sie auch in diesem Augenblick umgebracht hätte, fand er nicht die Kraft dazu. ‚Gar nicht so einfach jemanden zu töten‘, dachte er und hielt sich die Pistole genau wie Eileen unter das Kinn.
„Ich hoffe Sie werden noch sehr lange weiterleben, Frau Doktor“, sagte er mit zitternder Stimme und drückte ab. Ein stumpfes Klicken ertönte. Er drückte nochmal ab, wieder nur ein Klick. Verzweifelt lud Steven die Pistole nochmal durch und drückte wieder ab. Wieder nichts. Er zog das Magazin heraus und schüttelte enttäuscht den Kopf. ‚Typisch Eileen‘, dachte er. Das Magazin war bis auf ein kleinen Fetzen Papier leer. Er erkannte ihre Handschrift.
„Falls du es bist, Steven, der das hier liest – und ich hoffe, dass du es bist, dann bitte ich dich aufrichtig um Verzeihung. Ich habe dich sicherlich nicht so geliebt wie du es verdient hättest, jedoch nicht weniger als ich jemals fähig gewesen wäre jemanden zu lieben. Deine verkorkste Nachtigall.“