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Genuss
Sie trank ein Bier, kein kaltes, kein teures. Es war erst ein Schluck, später ein zweiter, ihre Hand fast eins mit der Flasche. Ihre Haut wärmte das Glas und gab ihm Nähe. Niemand sonst gab ihr mehr Nähe, dabei wollte sie doch genau das mehr als alles andere. Das Innere, das köstliche Innere, sehnte sich dagegen danach Teil von ihr - in ihr - zu sein. Mit der bierlosen Hand griff sie aus der Packung auf dem Wohnzimmertisch eine Zigarette, schaute nicht einmal auf die Packung, verabscheute die Bilder der Packung. Sie wählte stets an der Kasse die Packung mit harmloser Warnung. Niemand will so etwas sehen, wie wenig verstehen die Leute denn bloß? Und die Kinder, all die Kinder, die die Bilder sehen müssen an der Kasse. Und die Eltern, die den Kindern dann erklären müssen, was dort Grausames abgebildet wird. Ging doch früher auch ohne Bilder, da war die Kleinkariertheit noch nicht groß geschrieben. Und jetzt darf man bald Krankheit statt Marke sagen, wenn es bald noch größer gedruckt wird. Was sie ja bestimmt sowieso machen. Manchmal legte sie ein Prospekt vom Supermarkt über die Packung. Im Augenwinkel sah man es ja doch immer mal beim Fernsehen. Ein Husten kroch ihr aus dem Hals, normal hustet sie gar nicht so oft, dachte sie. Aber wenn sie schlecht schläft, dann kommt der Husten einfach und geht einfach so lange nicht weg.
Sie ließ ihren Finger ein zweites Mal gegen das weiße Papier der Zigarette schnipsen, um die hartnäckigen Überreste des Tabaks in ein altes Trinkglas hinabgleiten zu lassen. Muss man ja nicht jeden Tag haben das Bier, aber heute passte es, gestern ja auch, aber es muss nun einmal passen. Es muss ein Genuss bleiben. Sie trank und trank, schluckte und rülpste - Es war eine Sinfonie und der Rauch schwebte wie ein Notenblatt vor ihr. Langsam drehte sich das Wohnzimmer seitlich. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass die Küche stehen blieb. Der Rauch blieb als einziges fest im Raum, bewegte sich im Lot nach oben, während sich alles um sie drehte und wand. Der Tisch hob sich erst langsam, dann noch langsamer an, fiel schlussendlich zur Seite auf die Wand gegen das Fenster. „Das stört jetzt aber“ sagte sie zu niemandem. Sie wünschte oft, es würde ihr jemand zuhören. Unter ihr wohnte früher jemand, der ihr mehrmals aus der Patsche half. Vielleicht wohnte er auch noch dort. Er machte ihr nicht mehr auf, schon lange nicht mehr. Das alte Trinkglas mit der Asche, die Bierflaschen, die Packung Zigaretten, alles purzelte jetzt über die Wände und die Decke. Sie selbst blieb fest im Sofa sitzen. Der Mann in der Wohnung unter ihr, sie wüsste zu gern, was passiert war. Wenn sich alles dreht, hat sie manchmal ganz kurz sein Gesicht vor Augen, angeekelt, entsetzt. Hatte sie etwas Falsches gesagt? Gemacht? Sie wusste es nicht mehr, sie wusste nicht einmal, ob sie sich überhaupt einmal daran erinnern konnte. Aus der Luft fing sie eine Flasche Klaren, der aus der Wohnzimmervitrine zu ihr fiel. „Mir wird das alles zu viel“ rief sie und nahm einen großen Schluck aus der Glasflasche.