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Genesis
Dunkelheit. So beginnen alle Geschichten. Nein, mit Licht. Eigentlich beginnen alle Geschichten mit Licht, kühlem Neonröhren Licht, an weissen Wänden reflektiert. Diese Art von Licht, die einem wünschen lässt es wäre dunkel.
Sehnsüchtig starrte er aus dem Fenster in die Dunkelheit. Der schwarze Nachthimmel verschmolz mit den vorbeiziehenden Bäumen, Sträuchern, Büschen und dann Häuserdächern. Das Abteil war fast leer. "Nächster Halt Prince-Street."
Die Tür öffnete und ein alter Mann stieg bei. Das flackernde, harte Licht tat seinen Zügen keinen Gefallen. Er wirkte unheimlich müde, todmüde. Der Mann setzte sich neben ihn. Aus Gewohnheit steckte er sich seine Kopfhörer in die Ohren und sah wieder aus dem Fenster. Es lief keine Musik. Wie auch, sein Mobiltelefon lag immer noch auf dem Tisch in seinem Zimmer. Noch fünf Haltestellen. Unruhig klopfte er mit seinen Fingern aufs Glas. Er roch den Schweiss des Mannes neben ihm, hörte seinen Atem, war sich jeder seiner Bewegungen bewusst. Noch vier Haltestellen. Mücken zuckten um die Leuchtstoffröhren, verbrannten sich und flogen doch wieder zurück zum verheissungsvollen Licht. Noch drei... Er sprang auf. Während er sich zwischen dem Mann und dem vorderen Sitzplatz vorbei drängte, murmelte er irgendetwas in der Art von Entschuldigung. Das Licht an der Türe blinkte schon. Hastig verliess er die Bahn.
Draussen war es angenehm kühl. Einen Moment stand er bewegungslos da. Welchen Weg sollte er nehmen? Könnte er nicht einfach zurücklaufen, vielleicht sogar einen Zug nehmen zurück in die Stadt, weg von zu Hause? Er hatte die Wahl und doch fühlte er sich als ob es keine Rolle spielte, wie er sich entschied. Das Ende blieb das Gleiche. Schachmatt.
Er steckte seine Hände in die Taschen und lief los. Es war kalt. Seine Eltern dachten, er solle ins Militär gehen. Morgen. Wie weit war es noch? Seine Eltern würden sich sorgen machen, wenn er nicht bald zurückkehrte. Er zog sich seine Baseballmütze tiefer ins Gesicht. Texas Rangers. Das Lieblingsteam seines Vaters. Natürlich liebten sie ihn, aber ihre Heimat noch etwas mehr. Und für einmal ihren Nachbarn von ihrem Sohn erzählen zu können, der seinem Land dient, der auch etwas auf die Reihe gekriegt hatte. Er spuckte aus.
Ein kleiner Park lag zwischen dieser Strasse und seinem Zuhause. Es war stockdunkel. Oder, nein, dort brannte ein Licht. Es war eine kleine Kerze, die unter einer Holzbank in den weichen Untergrund gedrückt worden ist. Darüber schlief ein Mann. Das Licht der Kerze war zu schwach, als dass er ihn genauer hätte erkennen können. Wahrscheinlich war es irgend so ein Obdachloser, von denen es in der Stadt nur so wimmelte. Sein Blick fiel auf einige Bilder, die unter der Bank zusammengeschnürt auf einem blau-weiss-rot karierten Tuch lagen. Geschützt von der noch feuchten Erde. Er hatte selbst auch mal Künstler werden wollen. Er liebte es mit einem Pinsel das weisse Papier langsam farbig werden zu lassen. Ihm eine Geschichte zu schenken, die auch ihn selbst immer wieder überraschte und berührte und doch immer auch so vertraut war, stimmte. Es gab doch so viel mehr Farben als Rot. Wieso sollte er nur noch mit einer malen dürfen?Weil es seine Pflicht war und weil es schon genug junge Menschen wie ihn gab. Künstler. Ein unsicherer Beruf in noch unsichereren Zeiten und... und er war nicht gut genug. Das war die Wahrheit.
Sein Blick löste sich vom Bilderstapel und fiel auf einige Geldscheine und Münzen, die daneben auf dem Gras lagen. Es war nicht viel. Er packte alles in seine Hosentasche und ging weiter. Es war nicht mehr weit bis nach Hause. Er war sowieso schon spät, also machte es auch keinen Sinn mehr sich zu beeilen. Oder? Seine Eltern machten sich wahrscheinlich schon Sorgen. Vielleicht dachten sie, er käme gar nicht mehr zurück. Sie werden sicher erleichtert sein, wenn er seinen Schlüssel im Schloss dreht, die Türe öffnet. Er trat ein. Das Licht war unangenehm hell und flackerte. Es dauerte einen Moment bis sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. Tote Fliegen klebten an den Glühbirnen der Lampen. Die Kühlregale summten. Er lief durch eine Reihe von Regalen und nahm sich schliesslich ein Pack Bierdosen. An der Kasse sass eine ältere Frau mit gefärbten dunklen Haaren.
"Guten Abend oder Morgen, kann ich einen Ausweis sehen? Bitte." Er hielt ihn ihr entgegen, worauf sie nickte. "Das macht dann 8.49$." Er kramte neun Dollar aus einer Hosentasche.
"Behalten sie den Rest."
Sie lächelte müde.
" Vielen Dank."
Er lächelte hastig zurück. Die restlichen Scheine und Münzen stopfte er in ein Plastik Sparschwein auf dem ein vergilbter Zettel klebte. "Trinkgeld " stand dort. Die Spardose grunzte einige Male.
"Danke."
"Auf Wiedersehen!", war alles, was er erwiderte.
Er war froh den Laden verlassen zu können. Am Horizont liessen sich schon die ersten Sonnenstrahlen erahnen. Es war nicht mehr ganz so dunkel. Er öffnete seine erste Dose Bier und nahm ein paar Schlucke. Da hörte er eilige Schritte hinter sich. Ein Mann rief: "Halt!" und "Bleiben Sie stehen." Die Schritte kamen stetig näher. Schnell drückte er sich die Kopfhörer zurück in die Ohren. Bier schüttete auf den Boden. Nun konnte er den Mann schon hinter sich keuchen hören, seinen angestrengten Atem. Nicht mehr lange und er würde die warme Luft an seinem Nacken, vielleicht auch eine schwitzige Hand auf seinem Arm spüren. In plötzlicher Panik, beschleunigte er seine Schritte. Eine Hand auf seiner Schulter.
"T'schudigung, habe sie nicht gehört."
Er zeigte aufgeregt auf seine Kopfhörer.
"Ich kann es erklären... Ich wollte nicht wirklich..."
"Nein, Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Ich wollte Sie nicht erschrecken, aber Sie haben Ihr Halstuch verloren."
Der Mann drückte ihm den rot-blauen, karierten Stoff in die Hand.
"Vielen Dank. Auf Wiedersehen!"
"Nicht der Rede wert. Auf Wiedersehen und noch einen schönen Morgen! Ein wundervoller Morgen, nicht wahr?"
Er nickte und ohne ein weiteres Wort zu sagen, setzte er seine Kopfhörer erneut ein. Nicht, dass irgendjemand eine Antwort von ihm erwartet hätte. Der Mann ging weiter und auch er ging weiter. Es war ein wundervoller Morgen und er öffnete die zweite Dose. Seine vom Bier klebrigen Hände wischte er am Halstuch ab, während die Sonne zögerlich über den Häusern auftauchte. Ein wundervoller Morgen. Es gehörte nicht ihm, das Halstuch. Nein, es war nicht seines. Rot, Blau, Weiss; Diese Farben standen ihm nicht einmal. Sollte er es einfach liegen lassen? Niemand würde es bemerken und vielleicht würde es der Besitzer so wiederfinden. Wahrscheinlich sollte er es liegen lassen. Dort, auf dem Briefkasten zum Beispiel.Für einen Moment blieb er stehen und stopfte es sich dann in seine Hosentasche.Wirklich ein wundervoller Morgen.