Generationen
Früher habe ich meinem Opa geliebt. Jetzt waren die Zeiten vorbei, er erschien mir legendlich wie ein Artefakt aus der Vergangenheit. Abeschoben. Doch an diesen warmen Tag im Sommer, bat Mutter mich, mit ihn spazieren zu gehen. Er wohnte in einen Altenheim (für mich eher ein Museum) und jeden Samstag gingen Mutter und Opa im Park spazieren. Mit grimmigen Gesicht trottete also diesmal ich, anstelle meiner Mutter, mit Opa durch den Park. Die Sonne sandte schmale Streifen Licht durch die Blätter der Bäume, irgendwo pfiff ein Vogel und ein sanfter Windhauch ging durch die Luft. Nach einiger Zeit machten wir Halt. Viel geredet hatten wir nicht, worüber denn auch? Zwischen uns lagen Generationen, die einfach nicht überbrückt werden konnten, die wie eine Wand zwischen uns standen. Wir saßen auf einer Bank und Opa schaute mich unentwegt an. Mir war das peinlich, konnte er denn nicht mal woanders hinschauen?
"Weißt du, mein Junge, wenn ich dich ansehe, dann sehe ich in einem Spiegel." sagte Opa mit seiner tiefen Bassstimme. Na toll, ich sehe also aus wie eine Mumie, dachte ich mir insgeheim. Doch laut fragte ich, ziemlich desinteressiert:" Echt? Warum denn?" Und dann fing Opa an zu erzählen:" Ich sah dir sehr ähnlich in deinem Alter. Es war nach dem Krieg, aber die Konsequenzen des Krieges schienen nur die Erwachsenen zu berühren. Inmitten zwischen den Trümmern Deutschlands wurden wir, die Jugend des Krieges, erwachsen. Wir trafen uns jeden Mittag auf einer Wiese, zu tun hatten wir nichts, aber zumindest waren wir unter uns."
Während Opa erzählte, hatte er mich immer mehr in seinen Bann gezogen. Die Welt der Jugendlichen, die er mir beschrieb, erschien mir so seltsam vertraut und doch so anders. Und mit jeder weiteren Geschichte, die Opa mir aus seiner Jugendzeit erzählte, verschwand eine Generation, die uns vorher getrennt hatte. Ich fühlte mich ihn schließlich wieder verbunden, mehr als je zuvor. "Meine Jugend hörte 1952 endgültig auf. Es war der letzte Sommer für mich als Jugendlicher. In diesem Sommer trampten meine Freunde und ich 6 Wochen durch Deutschland. Es war eine erstaunliche Reise, unser einziges Abenteuer als Jugendliche. Wir waren jung, aber schon im Alltag gefangen und außer unserer Ausbildung hatten wir nichts zu tun. Die Reise war unser Abenteuer, unsere Flucht. Wir schliefen unter Brücken und tagsüber wanderten wir mit dem Rucksack umher. Am letzten Abend hatten wir einen See entdeckt und wir zogen unsere Kleidung aus. Dann sprangen wir wie verrückt im Wasser herum und ließen uns nachher am Lagerfeuer wärmen. Wir saßen am Feuer und der Schein flackerte in die Nacht. Mücken tanzten drum herum, die Sterne erhellten den See und warfen silbernes Licht auf unsere Gesichter. Wir saßen einfach nur da, schweigend, und starrten ins flackernde Feuer. Oder wir sangen zusammen Lieder. Lieder von Liebe, von Glück und von absoluter Freiheit. Ich glaube, dies war die schönste Nacht meines Lebens. Am Ende dieses Sommers lag die Jugend hinter uns."
Schweigen senkte sich über die Bank. Opas Geschichten einer längst vergangen Jugend haben mich tief beeindruckt. Ich starrte auf den Boden und fing die Strahlen der Sonne mit meinen Augen auf. Lange Zeit saßen wir so, bis wir schließlich stumm nach Hause gingen. Ich verabschiedete mich distanziert, aber höflich von Opa und ging Richtung Marktplatz. Dort hingen wir immer alle rum, wir, die heutige Generation. Langsam ging die Sonne schon unter, doch meine Gedanken schwirrten noch immer wie verirrte Sonnenstrahlen in meinem Kopf herum.
Am Marktplatz angekommen, sah ich meine Freunde. Ein paar von ihnen saßen auf den Brunnenrand, einen Ghettoblaster aus dem laut Hip Hpo und Techno ertönte, stand in der Mitte. Die anderen fuhren Skateboard und versuchten die waghalsigsten Stunts. Ich sah dieses Bild fast jeden Tag. Wir hatten halt nichts besseres zu tun, als am Marktplatz rumzuhängen. Schon von weitem erkannte ich an der Haltung und hörte an dem Gerede, dass meine Freunde wieder gekifft hatten. Es war nichts dabei, ich kiffte auch oft genug. Aus Langeweile, um eine Zeitlang zu relaxen oder um den ganzen Shit zu vergessen. Hauptsächlich aus Langweile, denn wir hatten nichts zu tun. Keine Möglichkeit aus dem Alltag auszubrechen, kein Platz für Gedanken. Und inmitten der ganzen Technik und dem Luxus saß die Jugend und verrottete.
Die Sonnenstrahlen in meinem Kopf klärten sich plötzlich. Dann drehte ich mich um und rannte. Ich rannte den ganze Weg zurück zum Altersheim. Ich stürmte durch den Eingang und die Treppen hoch. Zimmer 102. Opas Zimmer. Ich klopfte und trat ein. Opa stand am Fenster. Er drehte sich um. Und als er mich ansah, musste ich an sein altes Gesicht denken. Und an Sonnenstrahlen. Plötzlich erkannte ich die vollendete Wahrheit und Tränen liefen über mein Gesicht, tropften auf mein Hemd. Opa umarmte mich. Er verstand mich, ohne ein Wort. Es bedurfte keine Wörter, um alles zu erklären. Lange Zeit standen wir so. Und als die untergehenden Sonnenstrahlen auf sein Gesicht trafen, sah ich, dass auch er weinte.