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Genau Null
Genau Null
Alle sagten ihr Floskeln wie „Du bist nicht schuld“, „Du konntest nichts dafür“ oder „Irgendwann musste das mal passieren“. Alles nichts gegen dieses riesengroße schwarze Loch in ihrem Bauch, in das alle ihre Gefühle in einem reißenden Strudel hineingezogen wurden. Das Loch ließ nichts als ein beißendes Vakuum übrig, das sich von den Haarspitzen bis zu den Zehen ausbreitete. Sie fühlte sich so leer als sie da auf dem Bett lag, die Beine ab den Knien über die Kante hängen ließ und sich das große Daunenkopfkissen aufs Gesicht drückte. Es füllte sich nicht mit ihren Tränen – auch die verschwanden im schwarzen Loch.
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Mit Tempo 80 durch die verkehrsberuhigte Zone. Kreischende Sirenen auf dem Dach. Die Passanten schauten ihnen gespannt und erschreckt hinterher. Die Bäume an der Straße zischten an ihren Fenstern vorbei. Quietschende Reifen auf heißem Asphalt. Vollbremsung. „Da vorne!“ sagte ihr Kollege energisch, der den Krankenwagen fuhr und deutete auf einen in sich völlig verdrehten Körper, der auf der Straße lag. Sie packten den Sanitätskoffer mit dem Nötigsten, sprangen aus dem Wagen und rannten auf den Körper zu. Wo war er? Die Menschenmasse, die ihn umringte, konnten sie aus dem Krankenwagen noch überblicken doch hier war nichts mehr zu sehen. Zum Glück bildete sich schnell eine Gasse, die sie zu dem leblosen Haufen aus Haut, Kleidern und Blut leitete.
Niederknien. Lebenszeichen prüfen. Er atmet! Er? Könnte auch eine Sie sein. Das Gesicht liegt auf dem Boden. Umdrehen. Oh mein Gott, was für ein schreckliches Bild! Nein, kein Bild. Die Realität. Wo ist das Gesicht? Nur Blut und zerfetzte Haut. So schlimm hab ich mir das aber nicht vorgestellt. Darauf war ich bei Gott nicht vorbereitet. Muss ein Kind sein, so klein... Oje, so wie das Fahrrad aussieht ist da nicht mehr viel zu machen. Ein Haufen Schrott ... der liegt mindestens – wie viel wollen das wohl sein – vielleicht zehn Meter weg. Was jetzt? Erstversorgung. Stabilisieren. Ab in den Krankenwagen, dann volles Karacho ab ins Krankenhaus. Ist ja nicht weit weg, vielleicht ist noch was zu machen...
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Sie hatte wirklich keine Chance. Es ist selten, dass die Chancen genau bei Null stehen, aber das war wohl so ein Fall. Doch meistens ist es mehr als ein Fall. Für sie war es immer mehr als ein Fall. Sonst hätte sie auch nie diesen Beruf gewählt. Das macht man aus Überzeugung, weil einem der Mensch was wert ist, weil man gern helfen würde. Doch diesem Jungen war nicht mehr zu helfen. Wenn sie etwas denken konnte, dachte sie immer nur daran, was sie falsch gemacht haben könnte. Doch meistens fühlte sie sich nur leer. Schon seit genau dem Moment als der Junge im Heck des Krankenwagens aufgehört hatte, zu atmen. Seit diesem Moment erfüllte sie diese zernagende Gewissheit, dass sie etwas falsch gemacht hat. Hat sie? Kann man etwas falsch machen, wenn die Chancen ohnehin schon genau bei Null stehen? Sie ist sich sicher: Man kann.
Sie stand auf und legte das Kissen auf das Bett. Jetzt stand sie im kalten Schlafzimmer und ging auf das Fenster mit den heruntergelassenen Rollläden zu. Als sie die noch viel kältere Klinke der Balkontüre berührte und barfuß auf die Fließen des Balkons trat, stand sie im gleißenden Licht der Morgensonne.
Sie fröstelte und dachte: „Ich habe nicht einmal sein Gesicht gesehen.“