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GemEinsamkeiten
Verdammt allein. Rauch stieg aus der Zigarette in ihrer Hand hinauf, sodass ihre schmalen hellen Lippen und ihr fahles Gesicht dahinter verschwanden. Wovor versteckte sie sich?
Ein trockener Husten entwich ihren Lippen. Den Lippen, die Sekunden zuvor noch so gierig an der Zigarette zogen, als handle es sich um das Allheilmittel all ihrer Sorgen. Zug ein. Zug aus. Während sie kleine Rauchwolken in die Luft stieß, beruhigte sich ihr Herzschlag langsam. Das Zittern in ihren Fingern ließ nach und ihr gelang es, kurz innezuhalten. Innezuhalten und ironischer Weise tief nach Luft zu schnappen. Es war die Droge, die den Menschen den Atem raubte, die es ihr nun ermöglichte endlich Luft zu holen. Sie sank auf den kalten Asphalt hinab und versuchte sich daran, ihre Gedanken zu ordnen, zu strukturieren, endlich Kontrolle zurückzugewinnen. Aber ihre Gedanken kamen und gingen, ohne anzuklopfen oder einen Besuch per Textnachricht anzukündigen. Ohne Warnzeichen schlichen sie sich in ihren Verstand, bis sie kaum noch etwas verstand. Wann hört das auf, fragte sie sich.
„Kommst du jetzt wieder rein, oder wars das?“, erkundigte sich Oliver, der barfuß in einem viel zu großen T-Shirt durch den Türspalt blickte. Er war angespannt.
„Ich brauch noch eine Minute“, ließ sie kaum hörbar verlauten. Doch Oliver hatte sie verstanden. Er kannte sie gut genug, um jedes ihrer Worte verstehen zu können. Auch wenn sie manche davon nie ausgesprochen hatte. Und doch schienen sich beide zuletzt kaum noch verstanden zu haben, sich kaum noch im gleichen Zeitraumkontinuum bewegt zu haben. Die Balkontür fiel hinter Oliver mit einem Knall ins Schloss. Er war frustriert, aber das war sie auch. Und sie schien gerade in keiner Position, ihm seinen Frust nehmen zu können. So viel wusste sie.
Das Handy in ihrer linken Hosentasche vibrierte. Wie selbstverständlich zog sie es heraus.
„Na girl, what´s up? Haben es schon wieder nicht geschafft uns zu treffen. Was geht denn so bei dir?“, hatte Felina getexted. Erneut schwankte sie. Zwischen dem Wunsch zu teilen und dem Verlangen zu schweigen. Sie hatte Felina nichts von den Schwierigkeiten mit Oliver erzählt. Überhaupt hatte sie sehr wenig aus der Beziehung mit Freunden und Familie geteilt. Überhaupt erzählte sie kaum etwas wichtiges aus ihrem Leben. Überhaupt, überhaupt fühlte sich ihr Leben nach kaum noch etwas an.
Felina. Noch eine Freundin, die sie gernhatte, mit der sie Zeit verbrachte, der sie Ratschläge gab und doch das Gefühl hatte eine unsichtbare Grenze nicht überschreiten zu können. Wie gelang es all diesen Leuten mit besten Freundinnen ständig über alles aus ihrem Leben zu reden? Für sie schien dies eine unüberwindbare Hürde. Als sei sie falsch in der Welt und je mehr wahre, wirkliche Informationen sie über sich Preis gab, umso mehr Menschen würden dahinterkommen und sie entlarven. Sie schrieb: „Hey girl. Schön von dir zu hören. Ja, bei mir ist alles gut. Bisschen Stress mit der Arbeit aber sonst Tippi Top. Und bei dir?“. Dann wischte sie sich die letzten Tränen aus dem Gesicht, steckte ihr Handy zurück in die Hosentasche und trat durch die Balkontür zurück in das Ein-Zimmer Apartment.
Schweren Schrittes ging sie auf Oliver zu. Jeder Schritt fühlte sich wie ein zusätzliches Gewicht auf ihren Schultern an. Und sie fiel, von den Gewichten bezwungen, in seine Arme.
„Es tut mir leid. Weißt du, es ist alles ein bisschen viel im Moment. Ich glaube aber, wir schaffen das. Ich bin mir sicher“, murmelte sie, tief in sein Oversize T-Shirt vergraben. In ihrem Satz die stumme Bitte zu bleiben. Nicht zu gehen, bis sie eine Chance gehabt hatte, die vorbeifliegenden Gedanken zu sortieren. Oliver nickte, legte seinen Arm auf ihre Schulter und atmete schwer. Er war kein Mann der großen Worte, aber er hielt sie fest in seinen Armen. Er brauchte die Worte nicht einmal, um ihr zu sagen, was sie doch so dringend hören musste. Er hielt sie und ließ sie sein. Das war eigentlich schon immer so gewesen.
Oliver war der einzige Mann, dem sie sich je vollkommen hatte öffnen können. Es war seine schweigsame Art, seine Ruhe und Entspanntheit gewesen, die es ihr ermöglicht hatten zu teilen, was sie sonst immer verschwieg. Demnach wusste er alles von ihr. Jedes noch so kleine Detail, ihre Sorgen und Ängste, ihre Familiengeschichte und ihre Wünsche für die Zukunft. Wie mühsam wäre es, bei jemand anderem bei Null anzufangen? Wäre es möglich dieses Level an Vertrautheit jemals wieder zu erreichen?
Sie dachte an das wohlige Gefühl im Bauch beim Gedanken daran, jemanden auf seiner Seite zu haben. Bei all den Schwierigkeiten, die sie hatte Freundschaften zu knüpfen die ähnlich tief gingen, war die Beziehung mit Oliver nahezu eine heilsame Erfahrung gewesen. Das konnte sie nicht wegschmeißen. Gleichzeitig überkam sie ein Schauer. Ein Schauer in Form eines Gedankens. Was, wenn sie und Oliver sich ineinander verhakt hatten? Wenn das zwischen ihnen schon lange keine Liebe mehr war? Was, wenn sie getrieben war, von der Angst auf sich gestellt zu sein – allein zu sein – allein zu bleiben?
Sie schluckte schwer, löste sich endlich aus der Umarmung und sah Oliver an. Oliver, der Ruhepol inmitten des Tumults, inmitten des Sturms der schnelllebigen Welt. Oliver, der trotz all seiner Ruhe in den letzten Wochen zum Mittelpunkt ihres inneren Tumults geworden war. Sie sah an ihm herab. Er war groß, überragte sie um zwei Köpfe und hatte lange schwarze Haare, die sein Kinn hinab hingen. Auch er sah sie an. Sie sah die Worte, die er gerade so mühselig formte, die fertig auf seinen Lippen lagen bereit seinen Körper zu verlassen und in die Welt hinaus gestoßen zu werden. Sie sah sie. Und er schluckte sie herunter. Dann runzelte er die Stirn und begann neue Worte zu formen, die er erneut herunterschlucken würde. Wie viel hatte Oliver bereits am Entstehen gehindert und wie viel war zensiert, um den Frieden zwischen ihnen zu wahren?
Noch einmal musterte sie ihren langjährigen Freund. Nein, ich bilde mir das nicht ein, dachte sie. Nein, das kann unmöglich sein. Ich liebe Oliver. Seine Präsenz zog ihren Blick magnetisch an. Wie könnte ich ihn nicht lieben?
„Lass uns einen Film schauen und ein bisschen runterfahren. Wie wäre es mit dem, bei dem ich letzte Woche eingeschlafen bin?“, raunte sie. Oliver nickte stumm, nahm aber als Zeichen des Einverständnisses ihre Hand.
Gemeinsam lagen sie in ihrem Bett, den Laptop auf dem Schoß, beide eine Weinschorle in der Hand. Ihr Kopf lehnte auf seiner Schulter. Ganz automatisch, als sei er für sie selbst zu schwer geworden. Ihre linken Hände fest umschlungen auf der Bettdecke zwischen ihnen. Fester, dachte sie. Fester, bevor es dir entgleitet. Langsam beruhigten sie sich. Es schien nicht mehr alles so fragil. Die Welt hatte aufgehört zu schwanken, und sei es nur für die Dauer der mittelschlechten romantischen Komödie, die sie gerade sahen.
So saßen sie dort gemeinsam. So würden sie viele zukünftige Abende verbringen. Sie fanden ihren Weg, sich und den jeweils anderen zu beruhigen. Pille Zweisamkeit gegen Krankheit Einsamkeit.
So saßen sie dort gemeinsam. Wohl wissend, dass irgendwas nicht stimmte. Wohl wissend, dass für sie jeder allein jedoch noch mehr nicht stimmen würde.
So saßen sie dort gemeinsam.
Viel weniger allein.
Viel weniger ängstlich.
Und kein bisschen weniger einsam.