Hallo Fion!
Eine Geschichte ist, flüchtig betrachtet, eine Schilderung von Ereignissen. Aber das gilt auch für eine Anekdote. Es muss also Merkmale geben, die aus einer Schilderung von Ereignissen eine Geschichte machen. Zum Beispiel die bereits angesprochene Prämisse und der Auslöser des vorliegenden Konfliktes.
Ich versuche nun, diese Dinge (und einige andere) in deinem Text zu finden.
In einem roten Reisekostüm stand ich am Kaiserstuhl, nahe dem Abgrund, schaute auf das Meer und eine Tafel, deren Text eindringlich davor warnte, den wenig soliden Kreidegrund nicht zu überschätzen!
Ein gelungener Einstieg. Da kommt bei mir Spannung auf. Was mag da passieren? Wird die Protagonistin in Gefahr geraten?
Eine Woche Rügen lag vor mir und eine Liste der Sehenswürdigkeiten.
Okay. Ein Cliffhanger. Funktioniert immer. Ich bin gespannt, wann das Abenteuer am Kaiserstuhl fortgesetzt wird.
Mein letzter Tag, allein Prora ist unbesichtigt.
Zeitsprung in die Gegenwart. Selbe Frau, anderer Ort. Wie es scheint, hat sie den Kaiserstuhl unbeschadet verlassen können.
Irgendwie ist damit die Luft raus. Es folgt ein Wetterbericht, ein paar Eindrücke zur Architektur und eine kleine Verwirrung:
Im Auto sitzend, fahre ich daran vorbei.
Muss ich mir das antun?
Damit krönt man keine Urlaubsreise.
Hier stimmt die Reihenfolge nicht. Auch eine Gleichzeitigkeit ist nicht möglich.
Vorschlag zur Umsortierung des Ablaufes:
Im Auto sitzend, […] Muss ich mir das antun? Damit krönt man keine Urlaubsreise.
[…] fahre ich daran vorbei.
Genau in diesem Moment, sehe ich etwas buntes, das mich anzieht, in einem der unteren Fenster. Parke davor, gehe hin.
Die Scheiben sind von innen mit Zeitungsausschnitten beklebt. Überfliege die Texte und Bilder. Hinter dem, durch Eigenwerbung verborgenen, Fenster vermute ich eines Malers Atelier. Lehne den Kopf an die Scheiben, spähe durch eine Lücke zwischen den Artikeln.
Sehr schön, es wird wieder interessant. Was mag dort zu sehen sein?
Das Gehirn ist ein gewitztes Organ. Es hätte mir, nachdem die Informationen der Augen ausgewertet waren, einfach: Staffelei, Leinwände, ungezählte Acryltuben nebst Pinsel, melden können, aber es nimmt den Weg über meine Seele.
Das Ergebnis; augenblicklich will ich weg von Aquarell und Tusche.
Am Nächsten Tag wird alles gekauft was Kopf, Herz und Seele brauchen.
Jetzt sitze ich vor meiner ersten Leinwand. Mein Blick fällt auf eine aufgeschlagene Illustrierte, die ein kleines Photo zeigt, von einem, sich seitlich zur Schau stellenden, Mandarinerpel.
Negativ: Aha, zwei Sätze später wird die Frage bereits unspektakulär beantwortet. Es folgt ein nicht nachzuvollziehender Entschluss der „Heldin“: Sie will weg von Aquarell und Tusche. Ich will am liebsten zurück zum Kaiserstuhl, habe aber das Gefühl, daraus wird nix.
Positiv: Endlich erfahre ich einwenig über die Protagonistin. Sie ist ein Gefühlsmensch und recht sprunghaft. Das ist hier sehr schön und knapp zum Ausdruck gebracht.
Achtundvierzig Stunden später post der Mandarin, fertig gemalt, auf meiner Staffelei.
Am gleichen Abend schlage ich einen Nagel in die Wand über dem Kamin. Dem Bild gebührt ein besonderer Platz. Inspiriert in Prorer Tristesse, ein Meilenstein, mein erstes Acryl!
Die Ente hängt, das wohlige Gefühl der Zufriedenheit stellt sich ein.
Ach, wie hübsch dieser Erpel ist.
Und im nächsten Moment ist er verschwunden.
Kleine Sachprüfung nebenbei: Die achtundvierzig Stunden sind plausibel. Das Bild wurde gemalt, nicht etwa gespachtelt, die Leinwand war bestimmt bereits grundiert, der Malerin fehlt es an Erfahrung mit den neuen Farben, sonst hätte sie es schneller fertigstellen können. Alles passt.
So, nun: Die Malerin ist stolz auf ihr Werk, sie hängt es auf, begutachtet das zentrale Thema, den Erpel, und findet diesen wunderschön … und: weg ist er! Oha, jetzt wird’s gemütlich. Was bei mir so viel heißt: jetzt wird’s spannend. Der Kaiserstuhl gerät ins Vergessen.
Eine kleine Zwischenbilanz:
Bis zum Verschwinden des Erpels gibt es eine Reihe von Ereignissen. Die Protagonistin war am Kaiserstuhl, hat danach weitere Sehenswürdigkeiten „abgearbeitet“ und am letzten Tag ihres Urlaubs ein Atelier entdeckt. Daraufhin fasste sie den Entschluss, von Aquarell- auf Acrylfarben umzusteigen. Sie kauft (irgendwo) Farben und malt einen Mandarinerpel.
Ich frage mich, wo sind da die Zusammenhänge? Der Kaiserstuhl, beschrieben als gefährlicher Ort, und fallengelassen. Rügen im Nebel, fallengelassen. Das geheimnisvolle Atelier, fallengelassen.
Was haben Mandarinerpel mit Rügen zu tun?
Warum hängt über dem Kamin kein Aquarellbild?
Und warum ist es wichtig, dieses Umsteigen auf Acryl, auf das hier recht lang hingearbeitet wurde, immerhin mit über dreihundert Wörtern.
Wie hängt dieses Wechseln der Malfarben mit dem Verschwinden des Erpels zusammen?
Diese letzte Frage ist für mich die interessanteste.
Denn in der Antwort könnte der Auslöser, die Ursache des Konfliktes stecken.
Die Wirkung, also der Konflikt selbst, ist der verschwundene Erpel.
Sobald die Protagonistin die Ursache des Konfliktes herausfindet, kann sie diesen auch lösen.
Nun, ich bin neugierig und lese weiter.
Der nächste Tag kommt, der Mandarin nicht. In mir keimt der Gedanke, einen sehr eigenwilligen Erpel gemalt zu haben.
Diese Stelle ist bezeichnend. In der „Heldin“ keimt ein Gedanke. Das ist zwar rühmlich, aber der Gedanke ist leider nicht spannend. Denn dieser Gedanke befasst sich nicht mit der Lösung des Konfliktes, nicht mit „Ursachenforschung“.
Dadurch entsteht der Eindruck bei mir – ich habe den bereits im ersten Beitrag erwähnt –, in dieser fiktiven Welt ist es fast die Regel, das in Acryl gemalte Tiere hin und wieder von der Leinwand verschwinden, genau so wie es in unserer realen Welt hin und wieder passiert, das Schlüssel unauffindbar sind.
Die fiktive Welt, so realitätsfern sie auch erscheinen mag, sollte dennoch in sich logisch sein. Das heißt: Die Protagonistin sollte die Gesetze ihrer Welt kennen. Das ist (bis zu dieser Textstelle) anscheinend nicht der Fall.
Die Protagonistin sollte auf die eintretenden Umstände in angemessen intelligenter Weise reagieren. Warum malte sie denn den Erpel nicht in Aquarell? Sicherheitshalber, sozusagen. Und wieder die Frage: Warum der Wechsel zu Acryl?
Es gibt eine Reihe Ereignisse. Doch die Protagonistin leidet nicht und hat sich auch sonst nicht entwickelt. Bis hier ist der Text keine Geschichte, sondern eine Anekdote.
Was bei einer Anekdote zu erwarten ist, ist eine Pointe nach dem Strickmuster: Stand ich doch neulich vor meiner Tür, hab meinen Hausschlüssel gesucht, und nun rate mal, wo der war?
Spannungsbögen sind bisher nur angedeutet oder gestartet, dann jedoch im Sande verlaufen. Zudem entstehen diese lediglich aus der Handlung heraus. Es gibt keine transversale Spannung zwischen Systemen wie Gut und Böse, reich und arm, Kunst und Profit usw.
Immerhin, der Erpel bleibt verschwunden, es könnte sich ein Drama Mensch gegen Natur/Physik anbahnen. Es ist ja noch nicht zu spät.
Eine Prämisse lässt sich an dieser Stelle selbstverständlich noch nicht finden. Dazu komme ich später.
Einer spontanen Informations-Ausschüttung zufolge sagt sie mir, „das Ganze erinnert an Schrödingers Katze, nur irgendwie anders herum.“ Sie zuckt mit den Schultern, versucht sich an einer weiteren Erklärung. „Die Katze in Schrödingers Kasten, ist ja lebendig und oder tot. Nur wenn man den Deckel hebt und nachschaut, bricht eine Wellensequenz zusammen.“
Schaue skeptisch.
Gut, das ist der erste kleine Schritt Richtung Geschichte. Die Freundin betreibt Ursachenforschung, sozusagen. Die Freundin ist, im Gegensatz zur Protagonistin, ein eher verstandesmäßig geprägter Mensch. Das belebt die Geschichte und treibt die Handlung endlich voran.
„Die Ente hingegen sollte da sein, ist aber bei Betrachtung des Bildes verschwunden.“ Sie lächelt mich an. „Wenn du das Bild in einen Kasten stellst und den Deckel schließt, wird sich seine Welle wieder etablieren, und ...voila, alles ist wieder in Ordnung!“
Irgendwie klingt das plausibel.
Ja, irgendwie schon.
Aber ich fürchte, es ist nicht alles in Ordnung.
Seitdem wohnt der Erpel in der Truhe, die ich unter einen Baum im Garten gestellt habe. Zwar verstehe ich kein Mandarin, meine aber, am Klang des Schnatterns uns Quakens, eine Art Wohlbefinden heraus hören zu können.
So, da haben wir den Salat.
Angenommen, der verschwundene Erpel stellte für die Protagonistin tatsächlich einen schwebenden Konflikt dar, dann ist dieses Ende nicht die Lösung.
Zur Erinnerung ein paar Aussagen der Protagonistin:
„Dem Bild gebührt ein besonderer Platz.“
„Ach, wie hübsch dieser Erpel ist.“
„Besucher belächeln meinen Meilenstein; hätte schon besser gemalt.“
Alles dreht sich um die optische Wahrnehmung. Was ja verständlich ist. Eine Malerin malt ein Bild, um es betrachten und herzeigen zu können. Genau das war auch die Absicht der Protagonistin. Sie hat das Bild nicht gemalt, um aus einer versteckten Truhe dem Geschnatter eines unsichtbaren Erpels zu lauschen.
Nun endlich zur Prämisse.
Wie ist es zu dem Erpel in der Truhe gekommen? Wie sieht es aus mit Ursache und Wirkung zwischen den geschilderten Ereignissen und dem Ende? Diesen Fragen gilt es nachzugehen.
Mag sein, dass ich was übersehe. Für mich finden sich keine Argumente, die den Erpel in der Kiste beweisen. Ein Urlaub auf Rügen führt zu einem Erpel in einer Kiste? Wohl nicht. Neue Farben und neue Pinsel? Kaum.
Wenn ein gemalter Erpel, lebendig geworden und fortan in einer Kiste lebend dem Leser plausibel gemacht werden soll, dann sollte der Text Argumente bieten, die diese Behauptung stützen.
Ansätze, nein, nicht Ansätze, Gelegenheiten sind im Text vorhanden. Sie müssten nur zu einer Geschichte aufbereitet und verbunden werden
Beispiel:
Ein seltsames(!) Atelier auf Rügen. Dann der Wechsel zu neuen, nein, nicht unbedingt neuen Farben, sondern zu anderen Farben. Vielleicht Farben aus der Hand des Malers, dem dieses Atelier gehört. Vielleicht heißt er Schrödinger oder sieht aus wie Einstein. Vielleicht will er von der Malerei loskommen, aus Gründen, die er verschweigt (während vom Hinterhof Geräusche wie aus einem Zoo zu hören sind) und schenkt der Protagonistin seine alten Farbtuben.
Oder so ähnlich. Das Entscheidende dabei sollte halt sein, dass der Leser sich am Ende zurückerinnert, an Rügen, an das Atelier usw. Dass sich der gesamte(!)Text vor seinem geistigen Auge zu einer Geschichte entfaltet. Dass der Leser erkennt: Jawohl, dort hat das Schicksal seinen Lauf begonnen und die Tragödie wäre an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit, mit einer anderen Hauptfigur, niemals passiert.
So, wie der Text im Moment gestaltet ist, vollzieht er eine Gradwanderung zwischen Geschichte und Anekdote mit deutlicher Tendenz zu letzterem.
Das Ende zeigt, weil völlig unvorbereitet, eine gewisse Dämonisierung der Natur oder kurz und hart ausgedrückt: Die Pointe ist kitschig.
Nun noch zu deinem Beitrag:
Aber schau mal, in deinem Text:
Der Chef liegt unter der Erde, du stehst vor dem Wagen und bemerkst der Schlüssel ist weg, ...
In meinem Text:
Rügen, das Bild ist gemalt, ich stehe vor der Wand und bemerke der Erpel ist weg, ...
Schon ein Konfliktauslöser:
Ich male ein Bild, und so mir nichts dir nichts ist der Hauptdarsteller weg.
Das löst schon einen Konflikt aus.
In meiner Geschichte ist der Konflikt der verschwundene Schlüssel. Der Auslöser, die Ursache, liegt woanders. Das kann man rückwärts aufdröseln.
Sie hat den Chef im Wald verbuddelt. Aber warum? Sie hatte (mein verdammter Chef) arge Probleme mit dem Typ, und sie ist offensichtlich (wer bringt schon gleich seinen Chef um) ein unbarmherziger und aufbrausender Mensch. Diese beiden Faktoren, ein äußerer und ein innerer Anlass, sind die Ursachen (die Auslöser), die zu dem Konflikt mit dem Schlüssel und seinen möglichen Folgen geführt haben.
Diese Zusammenhänge sind (einigermaßen) zwingend. Kein anderer Mensch mit irgendeinem anderen Chef wäre in diese Situation gekommen.
Du schreibst:
„Rügen, das Bild ist gemalt, ich stehe vor der Wand und bemerke der Erpel ist weg, ...“
Rückwärts aufgedröselt:
Der Erpel ist weg. Warum? Sie betrachtet das Bild. Ist das die Ursache? Nein. Sie hat das Bild selbst gemalt. Auch nicht die Ursache. Sie war auf Rügen. Liegt dort das Geheimnis, der Schlüssel, der Auslöser verborgen? Ich sage: Nein!
Alles, was zu dem verschwundenen Erpel geführt hat, ist nicht zwingend, es ist sogar beliebig austauschbar: Rügen gegen Pinneberg; das Atelier kann mit irgendeinem Irren, der am Straßenrand steht und ein Pappschild hochhält, mit der Aufschrift: Hey, ihr Aquarellfuzzies, warum malt ihr nicht mit Acryl! getauscht werden. Die Protagonistin ist gegen irgendeine andere Künstlerin austauschbar. Sie besitzt keine Eigenschaften, die zu dieser Misere führen könnten. Die meisten Maler wechseln von Tusche zu Öl oder Acryl oder Pastell und anders herum. Da passiert nix.
Die Frage ist und bleibt: Warum passiert es und warum passiert es ihr?
Liebe Grüße
Asterix