Geliebter Tod
Die altertümliche Darstellung des Todes als schwarz ummanteltes, senseschwingendes Skelett ist in unserer heutigen Zeit der Aufgeklärtheit als kindisch-naive Phantasterei verschrien, versteht man den Tod in diesen Tagen viel eher als Erlösung oder schlimmstenfalls nüchtern als Ende, jedoch, wenn der Tod dich holen kommt, und wenn er, gleich einer spät abends von allnächtlichem Umtrieb heim kehrenden Geliebten, sich mit aller Vorsicht in dein Zimmer schleicht, sich zu dir ins gewärmte Bett legt und mit seinem Atem, seinem seelenlosen Hauch über dein Gesicht streift, dann wachst du unweigerlich selbst aus tiefstem Schlafe auf, von fast wahnsinniger Furcht gerüttelt und geschüttelt; drehst deinen Kopf langsam in seine Richtung, öffnest blinzelnd die schläfrig schmerzenden Augen und schaust dem Tod ins Angesicht, in seine bestialisch grinsende Fratze, die voller allweiser, tödlicher Vorahnung und Verachtung dein Schicksal in sich birgt, die dir die Flammen des Fegefeuers in rot glühenden Augen gnadenlos und ohne das geringste Zeichen menschlich lebendigen Mitleids darlegt und tief in deine erschrockene, vor ihrem eigenen Verlust stehende Seele brennt, dich zerrüttet, entrückt und dich dir selbst stiehlt, dann, ja dann wirst du merken, dass nur die kindliche Sicht, nur die undurchdringliche Schwärze des, die blanken Knochen auf unwirkliche, geisterhafte Weise umspielenden Mantels und die blinkende, blitzende Schärfe der Sensenklinge die reine Qual und die tief schneidenden Schmerzen, welche der Tod bereitet, derart trefflich zu beschreiben vermag.
Und wie er nun neben mir lag, und wie meine Liebste mich eng umschlungen hielt, und mir ein Lied aus schadenfrohem, vorahnungsvollem Gelächter, aus klagendem Jammer und tausend endlosen, ewigen Seufzern vorsang, da ward mir klar, dass der Tod lebendig ist. So voller Leben schien mir der Tod, dass er an Lebendigkeit noch die Lebenden übertraf. Nie zuvor war mir eine solche allumfassende, allberührende Lebenskraft begegnet, wie sie unter dem schwarzen Mantel wallte und pulsierte, wie sie mir aus den bleichen Knochen, diesen Kindern des Zerfalls entgegen schlug und mich überwältigte. Und im nächsten Moment ward ich mir gewahr, dass die Kraft dieses All-Lebens auch die einzige Macht war, die sich selbst zu zerschlagen vermochte, die das Leben, dessen kleinster, unbedeutenster Teil ich war, in einem einzigen atemlosen Augenblick zu vernichten und bis auf die kleinste Zelle vollends zu zerstören im Stande war. Und da ward mir Angst, bittere, quälende Angst, die wie eine eisige Klinge in mein weinendes Herz eindrang und mein Blut, mein Leben in einem einzigen, furchtbaren Angriff aus meinem, sich wie unwürdiges Gewürm windenden Körpers jagte. Da fühlte ich eine Furcht, eine Düsternis, eine Beklommenheit in meinem sterbenden Geiste, wie sie ein lebendig Begrabener in den letzten Stunden seines Erstickens, seines sich-gewahr-werdens seiner ausweglosen Situation, im Innersten spüren muß - und tatsächlich war meine Lage im Grunde die gleiche, lag ich doch unter dem Vater aller Lebendigkeit, dem Herrn über Werden und Vergehen, dem Hüter über alles im Verfall darbende, dem personifizierten Schicksal, meinem persönlichen Armageddon; war ich doch lebendig unter dem Tod begraben.
Und obgleich es mir endlose Wochen zu dauern schien, musste es doch nur eine unermesslich kurze Zeit gewesen sein, die der Tod brauchte, mich, meinen verwundeten Geist aus meinem gesunden Körper zu lösen. Wie ein welkes Blatt im herbstlichen, trostlosen Winde ward ich getrieben durch eine unheimliche Phantasiewelt grotesker und absurder Illusionen, die mich verzauberten, in dichten, undurchdringlichen Nebel hüllten, der eine Flucht in die Sicherheit des Erwachens unmöglich machte. Überwältigt und schließlich völlig narkotisiert taumelte ich ohnmächtig durch meine Halluzinationen und brach dann verwirrt, verzagt und vollends verzweifelt völlig zusammen. So lag ich hernach eine ganze Weile zwischen meinem nunmehr toten Körper und dessen gnadenlosem Richter, dämmerte vor mich hin, mal gedankenlos, mal von einer wahren Flut bizarrer Bilder und von Tragik getränkten Gedanken geplagt, die sich in die undurchdringlichen Labyrinthe meiner losgelösten Seele ergossen. Doch in dessen Gängen verloren fieberte ich stets von neuem auf und ab, hob an, schwebte zu den Himmeln, wurde sogleich wieder hernieder geschmettert um ein weiteres Male zum Sprunge anzusetzen. Hin und her gerissen flog ich von einer Trauminsel zur nächsten, unter mir das schwarze Nichts und über mir, gleich einem lächelnden Herzen ein pulsierendes Licht. Wie die endlich erreichte Erfüllung all meiner Wünsche schien mir dieser Flug, doch gleichzeitig war er mir wie die Wurzel allen Übels, dass zu erdulden ich einst hilflos in die Welt gesetzt worden war. Doch muss jeder Fliegende, gleich ob im Traume oder im Wachen auch wieder landen und wer nicht landen kann, der fällt, stürzt ab, wird eins mit der ewig tristen, öden Unwirklichkeit des Nichts.
Es war dies mein Tod bei lebendigem Leibe, mein Sterben, dessen Ende meines Körpers Ende, nicht aber das meines Geistes war. War die Leiche, die ich kurz zuvor noch bewohnt und gar innig geliebt hatte auch so tot wie Stein, war sie auch so kalt wie Eis, ihr Ich lag doch so lebendig neben ihr, konnte fühlen mit toten Gliedern, konnte sehen mit toten Augen, weinen mit totem Herzen und denken mit totem Kopfe.
Und so entschlief ich in eine Traumwelt, in der alles, selbst ich, nichts als bloßer Traum war. Es wird die schönste und vollkommenste Reise meines Lebens werden. Und die traurigste und einsamste. Denn der Tod war ein stiller, ein geheimnisvoller Begleiter; der Tod war ein seltsamer Geselle.
[ 08.05.2002, 19:59: Beitrag editiert von: falk ]