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Geliebte Schwärze
Schwärze. Warme, süße Schwärze umhüllt mich. Ich fühle mich geborgen. Sie beschützt mich. Ich atme ein. Es riecht nach Waldbeeren und Haarspray. Haarspray? Das passt nicht in meine schwarze Fluchtwelt.
Und schon bin ich wieder im realen Leben. In der bösen Welt. Wo alles schlecht ist. Mir ist schlecht. Ich blicke mich in Mirkos Zimmer um. Auf seiner Kommode steht wirklich eine Flasche Haarspray. Und der Geruch von Waldbeeren? Da weiß ich nicht wo er her kommt. Vielleicht einfach von ihm.
Mirko. Er hat mir beigebracht in die schöne Welt zu gelangen. Ich muss nur zustechen. In meine Armbeuge. Aber Drogen sind teuer. Und ich kann sie mir nicht immer leisten. Wenn es hart auf hart kommt, dann drücke ich mir ganz lang und fest ein Shirt auf Mund und Nase. Dann falle ich ihn Ohnmacht. Ich liebe es in der Schwärze. Ich könnte auch mit einem Gürtel oder einem Band mir die Luft abschnüren, aber ich mag die andere Version lieber.
Ich sehe Mirko an. Er ist auch wieder da und schaut mich mit seinen grauen Augen an. Er hat mir erzählt, dass seine Welt weiß ist. Wie helle Sonnenstrahlen. Nur ohne das lästige Stechen im Auge. So kann er sie genießen. Meine Welt ist schwarz. Wie der tiefste Abgrund. Mirko beugt sich plötzlich vor und küsst mich. Das hat er lange nicht mehr getan. Ich klammere mich wie eine Ertrinkende an ihn. Denn nur seine Küsse und Drogen oder Luft anhalten verschönern mein Leben. Luft anhalten kann ich so oft ich will. Aber seine Küsse sind etwas Besonderes. Ich hole mir sie nicht, denn das kann ich nicht. Dazu bin ich zu schüchtern. Außerdem habe ich eine Riesenangst ihn zu verlieren. Er gehört doch zu mir. Für immer. Er und ich. Seine Lippen sind heiß und brennen förmlich auf meinen. Aber es ist ein unglaublich schönes Gefühl zu brennen. Fast noch besser als schwerelos zu sein.
Letztens kam ein Lied im Radio. „Love the way you lie“ von Eminem und Rihanna. Ich liebe dieses Lied. Denn es erinnert mich immer an Mirko, wie er mich küsst. Verlangen nach mehr durchströmt meine Adern. Mirkos Hand gräbt sich in mein verklettetes Haar. Als ich gestern von der Party kam habe ich nichts mehr mit meinen Haaren gemacht. Ich schlinge langsam meine Arme um seinen Hals. Im Hintergrund läuft die ganze Zeit das Radio. Und plötzlich erklingen die ersten Töne von meinem Lied. Und ich drücke mich enger an Mirko.
Ich bin geblendet von all den Gefühlen, die auf einmal da waren. Liebe, Sehnsucht, Lust, Angst, Brennen, noch mehr Brennen, immer mehr. Irgendwann stand mein ganzer Körper in Flammen. Jetzt liege ich hier. Neben Mirko. Durch das offene Fenster streicht Morgenwind über meine nackten Beine. Ich schließe die Augen und genieße die Unendlichkeit des Augenblicks. Aber in meinem Hinterkopf ist immer ein kleiner Teil, der nach dem T-Shirt oder der Spritze greifen will. Die kurzen Augenblicke der Schwärze genießen will. Aber ich bin grade fast glücklich.
Wäre da nicht diese Frau zuhause, die heulend vor Wodkaflaschen und dem Fernseher, in dem die alten Hochzeitsvideos laufen, sitzt. Und wäre da nicht das kleine Mädchen, welches in der Schule einschläft, weil es die ganze Nacht versucht die Mutter vom Trinken abzuhalten. Und wäre da nicht ich, die nicht mehr kann. Die sich in Partys flüchtet und lieber bei jemand Fremden schlafen würde als nach Hause zurückzukehren. Wäre da nicht ich. Darüber habe ich schon öfters nachgedacht. Aber was kommt danach? Ich weiß es nicht. Niemand weiß es.
Mirko hat den Arm um mich gelegt und zeichnet Linien und Spiralen auf meiner nackten Taille. „Du weißt was los ist, oder?“, flüstert Mirkos Stimme in mein Ohr. „Nein. Was denn?“. Frage ich zurück. Ich weiß es wirklich nicht. Mirko antwortet: „Ich frage dich jetzt ob du mit mir gehen willst. So richtig. Denn ich glaube, das wäre besser.“ Ich höre aus seinen Worten, was er meint. Er will mich beschützen. Ich sage: „Dann frag doch.“ Mirko lacht leise. „Willst du mit mir gehen? Wir beide? Für immer?“ Ich öffne die Augen und antworte: „Für immer.“ Mirko nimmt meine Hand. Seine andere zechnet immer noch auf meiner Taille. Er verschränkt unsere Finger und küsst sie. „Weißt du was? Ich liebe dich.“, erklärt er mir. Ich überlege kurz was ich sagen soll. Vor dem Unfall meines Vaters hätte ich Wochen oder Moante gewartet bis zum ersten „Ich liebe dich“. Aber mein Leben ist kurzlebig geworden. Ich lebe nur noch für den Moment. Also sage auch ich: „Ich liebe dich.“ Dann schließe ich wieder die Augen.
Mirko hat mir ein T-Shirt von sich gegeben. Dazu meine zerrissene Strumpfhose von gestern und den schwarzen Gürtel. Wo mein dunkelgraues Kleid ist weiß ich nicht. Als ich von der Party kam hatte ich nur noch meine Strickjacke an. Darunter nur einen schwarzen BH. Mirko hat mich mit zu sich genommen. Draussen herschen 15 Grad, aber mir ist nicht kalt. Ich laufe durch den Nieselregen und lasse meine Gedanken schweifen. Mirko muss noch arbeiten und ich habe gesagt: „Ich hab Lilli versprochen, dass ich noch einmal vorbei komme.“ Das habe ich nicht, aber das ist nicht wichtig. Er soll denken, dass ich nicht allein bin. Sonst macht er sich wieder Sorgen. Denn er will eigentlich nicht mehr, dass ich Drogen nehme oder mir die Luft nehme.
Von der Rasierklinge unter meinem Kopfkissen habe ich ihm noch nichts erzählt. Noch niemandem. Ich frage mich ob er die Narben gar nicht gesehen hat. An meinen Oberschenkeln und meinem Bauch. Das ist das einzige was sie mir nicht auch noch nehmen können. Meinen Vater. Meine Mutter. Meine Schwester. Alles habe ich verloren. Aber über mich bestimme ich immer noch selbst. Und darüber was ich mir antue.
Mirko soll nie erfahren, wie es um mich wirklich steht. Dass ich ein leeres Wrack bin. Dass ich nur noch für die Drogen, das Luftnehmen und ihn lebe. Dass ich süchtig nach meiner schwarzen Welt geworden bin. Ich halte mein Gesicht in den Himmel. Die kleinen Regentropfen fühlen sich an wie kleine, heiße Funken. Ich schließe meine schwarz umrahmten Augen. Es ist mir egal ob der Kajal, die Mascara oder der Lidschatten verschwimmen. Ich strecke die Arme aus und drehe mich langsam im Kreis. Jeden Tropfen spüren. Nur noch ich sein.
Doch plötzlich höre ich eine Stimme sagen: „Süße, bist du auf Droge? Oder willst du was? Ich habe heute ganz frisches Heroin. Und was ganz neues, es nennt sich Engelsstaub. Das wäre doch was für dich, Süße.“ Ich öffne die Augen. Vor mir steht Pete, der beste Dealer. Nicht immer günstig, aber immer die beste Qualität. Er würde nie etwas panschen. Dafür ist er sich viel zu fein. Ich lege den Kopf schief und frage: „Engelsstaub?“ Pete grinst mich an und erklärt: „Angel Dust oder unter den Chemikern auch Phencyclidin. Macht dich benommen und du kriegst nichts mehr mit. Und es wirkt ziemlich lange. Das hat zwar seinen Preis, aber für dich würde ich einen Sonderpreis machen, Süße. Was hältst du von 30 Euro für ein Gramm Engelsstaub, Kleine?“ Das hört sich verlockend an.
Ich überschlage wie viel Geld ich noch habe. Für ein Gramm Heroin und ein Gramm Engelsstaub würde es noch reichen. Ich habe lange keine Drogen mehr gekauft und meine Mutter hat mir, als sie mal nicht betrunken war, sechzig Euro in die Hand gedrückt. Für Essen, sagte sie.
Ich hole die drei Zwanzig-Euro-Scheine aus meinem Ausschnitt. Da verstecke ich mein Geld immer, denn da geht eher selten jemand ran. Dann sage ich zu Pete: „Ein Gramm Heroin und ein Gramm Engelsstaub.“ Er lächelt mich an und holt aus seiner Tasche Zwei winzige Plastiktütchen. Dann sagt er: „Der Preis ist wirklich unterste Schmerzgrenze, Süße. Das geht in Ordnung, aber bitte schenke mir ein Lächeln.“ Ich lächele ihn an und er lacht. Dann drückt er mir die beiden Tütchen in die Hand und ich gebe ihm mein Geld. Dann dreht Pete sich um und geht. Ich stecke die beiden Tütchen in meinen Ausschnitt und gehe zurück in die besseren Viertel. Mirko wonht ziemlich nah am Drogenviertel.
Ich fühle mich beschwingt, wie als ich noch ein kleines Mädchen war und alles gut war. Wie nachdem ich einkaufen war und mir selbst eine Tafel Schokolade gekauft hatte und dann glücklich nach Hause gegangen bin. Aus einem vorbeifahrenden Auto wummert mir in diesem Moment mein Lied entgegen.
Ich schlage den Weg zu meinem Zuhause ein. Aber eigentlich ist das nicht mein Zuhause. Ich habe kein Zuhause.
Meine Mutter und meine Schwester wohnen in einem einfachen Viertel mit heruntergekommenen Reihenhäusern. Ich fahre schwarz mit der U-Bahn durch Berlin. Dann stehe ich vor der Haustür. Ich klingele an der Tür. Meine kleine Schwester öffnet. Sie müsste eigentlich in der Schule sein. Ich frage schwach: „Warum bist du nicht in der Schule?“ Sie sieht mich an und sagt dann: „Du bist auch nicht in der Schule.“
Mit ihren acht Jahren hat sie schon so viel gesehen und erlebt. In kürzester Zeit hat sie Vater, Mutter und auch Schwester verloren. Sie ist unglaublich klein und dünn. Ihre langen, braunen Haare fallen ihr in glatten Flusen über den Rücken. Sie trägt einen Schlafanzug und sieht unglaublich müde aus.
Sie schaut mich wieder an und fragt: „Wessen T-Shirt ist das?“ Ich sage: „Das ist Mirkos. Und du solltest schlafen gehen. Sina, du brauchst deinen Schlaf. Ich mache dir Mittagessen.“ Sie nickt, gähnt und geht die Treppe hinauf.
Sie benimmt sich manchmal schon wie eine Erwachsene, denn sie hat auch schon so viel durchgemacht. So viel machen manche Erwachsene in ihrem ganzen Leben nicht durch. Sie hat sich so sehr verändert.
Ich öffne leise die Tür vom Schlafzimmer der Frau, die einmal meine Mutter war. Sie liegt auf dem Bett in einem Hemd ihres verstorbenen Mannes und schläft ihren Rausch aus. Ich schließe die Tür wieder und betrete die unaufgeräumte Küche.
Ich räume schnell und unreichend auf, stelle Wasser für Nudeln auf und hole den Engelsstaub aus meinem Ausschnitt. Es ist ein weißes, glänzendes Pulver. Ich öffne das Tütchen und schnuppere. Es riecht ganz leicht nach Waldbeeren. Ich schütte es auf den Küchentisch und schiebe es mit einer alten Ich-hab-dich-lieb-Karte meiner Mutter zusammen. Dann schniefe ich es ein.
Pete hat nicht zu viel versprochen nach ungefähr einer Minute verschwimmt alles.
Und mein geliebtes Schwarz ist wieder da.
In meinem Kopf erklingt wieder „Love the way you lie“.
Und ich kann mein Schwarz endlich genießen, denn ich werde es nie mehr verlassen.
Schwerer Brand in Berliner Reihenhaussiedlung
Gestern Nachmittag kam es in einem Reihenhaus zu einem verheerenden Küchenbrand.
Die acht Jahre alte Tochter wurde mit lebensgefährlichen Verletzungen und einer schweren Rauchvergiftung in ein Krankenhaus eingeliefert, nachdem sie vergeblich versucht hatte die bewusstlose Mutter aus dem brennende Haus zu retten. Sie liegt in einem künstlichen Koma und die Ärzte kämpfen noch um ihr Leben. Die sechzehnjährige Schwester starb noch vor dem Brand an einer Überdosis Drogen. Mutter und Tochter werden neben dem vor zwei Monaten verstorbenen Vater und Lebensgefährten beigesetzt.