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Gelendjers Erbsünde
Gelendjers Erbsünde
„Krieg“, dröhnte es im Chor. „Krieg! Krieg! Krieg!“
Gelendjer träumte. Er träumte, dass er durch ein riesiges Panoramafenster eines gigantischen Raumschiffes auf eine sterbende Welt hinab blickte. Ozeane kochten, Meere verdampften und ganze Kontinente standen in Flammen.
Immer mehr Menschen fanden sich ein, um dem Weltuntergang beizuwohnen. Von Betroffenheit, wie es eigentlich hätte sein sollen, war nichts zu spüren. Gelendjer sah nur leuchtende Augen und lachende Gesichter. Und auch er verspürte weder verstörendes Entsetzen, noch fassungslosen Horror.
Er war von dem brennenden Planeten genauso begeistert, wie alle anderen.
Das war ihr Werk gewesen. Sie hatten die abtrünnige Renegatenwelt bombardiert und alles
Leben auf ihr ausgelöscht. Leben würde sich dort, wenn überhaupt, erst wieder nach langen Zeitaltern regen.
Dafür sind sie ausgebildet worden. Vernichtung und Zerstörung war ihr Lebensinhalt, ihr
einziger Daseinszweck.
Seit er sich erinnern konnte war er auf dem Schiff. Und seit er Laufen konnte wurde er im
Handwerk des Tötens unterrichtet.
Ein Beben erschütterte plötzlich den Boden unter seinen Füßen. Weit unten wurden wieder
die Bombenschächte geöffnet.
„Das ist die letzte Salve!“ rief jemand. „Sie setzt mehr Energie frei, als eine Sonne in ihrem
ganzen Leben und zerstört die Ozonschicht der verdammten Dreckskugel!“
Die Schaulustigen begannen zu applaudieren.
„Ohne Ozon in der Stratosphäre, wird die ultraviolette Strahlung alles Restleben da unten
zerbraten!“
Der Applaus wurde stärker.
„Selbst tief in den Ozeanen wird alles absterben!“
Die Schaulustigen waren kaum noch zu halten und brachen in schreiende Begeisterung aus, als die abgeworfenen Bomben am Fenster entlang zum lodernden Planeten hinab drifteten.
Die blinkenden, sich scharf machenden Quader beschleunigten, entfernten sich rasch und wurden dabei kleiner und kleiner, bis sie vor dem Hintergrund der brennenden Welt nicht mehr zu erkennen waren. Und so, wie die Quader verschwanden, wurde auch die Menschenmenge ruhiger und ruhiger, bis sie fast verstummte.
„Sind die noch auf Kurs?“ fragte eine junge Frau und brachte damit die Ungeduld und Ungewissheit eines Einschlages aller Umstehenden zum Ausdruck.
Sie warteten. Sie konnten gar nichts anderes machen, als warten. Und während sie warteten, betrachtete Gelendjer sie genauer. Sie trug ihr tiefschwarzes Haar als frechen Pagenschnitt, und ihr hautenger Raumanzug betonte ihren Körper mehr, als dass er ihn verhüllte.
„Die sind vorbei gegangen“, schimpfte schon ein besonders aufgeregter Kerl. „Die scheiß
Dinger haben ihr Ziel verfehlt.“
Gelendjer blieb ruhig. Er hatte schon als Kind Bombardierungsflüge erlebt. „Abwarten“, sagte er gelassen. „Geht gleich los.“
Dann sahen sie einen Lichtblitz in der Atmosphäre. Dann noch einen, und noch einen, bis es so heftig zu prasseln begann, dass sogar das Schiff zu vibrieren schien.
„Ein Volltreffer!“ schrie wieder jemand. „Die ganze Salve hat getroffen!“
Blitze zuckten über die Oberfläche und die Menge rastete aus. Sie brüllte, tanzte und tobte, sie kochte und brodelte, wie der zerstörte Planet.
Gelendjer nahm die junge Frau beiseite. „Nach dem Treffer beginnt das Ozon zu zerfallen. Gewaltige Mengen Stickoxide werden sich bilden.“
Sie hörte ihm tanzend zu. Und so, wie sie ihm zuhörte wusste er worauf es mit ihnen beiden hinaus laufen würde. „Danach schließt sich langsam eine dunkle Wolke um den Planeten und lässt kein Licht und keine Wärme mehr auf die Oberfläche. Diese Welt ist tot!“
***
Gelendjer erwachte aus seinem Traum. Er versuchte sich zu orientieren und blickte behutsam an sich hinab. Er stand splitterfasernackt an einer hohen Steinsäule auf einer schmalen Plattform, die gerade Platz genug für seine Füße bot. Vorsichtig beugte er sich nach vorne. Unter sich sah er Menschen, die wie er, auch nackt auf ebenso kläglich schmalen Plattformen standen. Er legte seine Hände an den glatten Stein des Monolithen aus dem das Fußgestell, wie aus einem Guss ohne erkennbare Nahtstellen herausragte und schaute nach oben. Es bot sich ihm dasselbe Bild. Auch dort standen Menschen auf Sockeln. Nah beieinander und doch so weit voneinander entfernt, dass sie sich mit ausgestreckten Armen nicht berühren konnten.
Der Monolith an den sie ihre Rücken pressten war riesig. So riesig, dass er in der tief hängenden Wolkendecke verschwand. Und er war nicht das einzige Gebilde. Massen davon standen dicht an dicht in alle Himmelsrichtungen bis zum Horizont.
Gelendjer glaubte, dass sie den ganzen Planeten bedeckten. Die gesamte Menschheit musste hier versammelt sein. Aber er wusste nicht warum.
„Gelendjer“, hörte er es plötzlich hauchen. „Hilf mir.“
Er schaute nach links. Und da stand sie. Ihr schwarzes Haar sah nicht mehr frech aus. Es hatte seinen Glanz verloren und stand wie verdorrtes Stroh von ihrem Kopf ab.
„Wo bin ich?“ fragte sie erschöpft. „Was ist das hier?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete er.
„Hilf mir,“ flehte sie. „Meine Beine schmerzen. Ich kann nicht mehr länger stehen.“
Gelendjer schaute auf ihre Füße. Ihre Zehen und Fußballen ragten, wie seine, über die Plattform hinaus.
„Du musst stehen bleiben. Wenn du versuchst dich zu setzen, wirst du abstürzen.“
„Ich kann aber nicht mehr“, wisperte sie.
„Du musst,“ antwortete er. „Du musst einfach versuchen durchzuhalten!“
„Durchhalten?“ raunte sie. „Durchhalten wofür?“
„Ich weiß es nicht.“
Er sah, wie sie versuchte die Plattform mit ihren Zehen zu umschließen, sich regelrecht an ihr festzukrallen, in der Hoffnung sich damit etwas Erleichterung zu verschaffen.
Eine Weile hielt sie sich. Dann begann ihr Rücken und schließlich ihr ganzer Körper langsam nach unten zu sinken. Sie legte Hände und Arme eng an den Monolithen und zog sich mühsam wieder nach oben.
Er musste sie ablenken. Er musste sie irgendwie zum Durchhalten bewegen.
„Träumst du auch?“ fragte er. Und kaum, dass er es ausgesprochen hatte, driftete er selbst weg. In einen Traum einer längst vergangenen und fast vergessenen Erinnerung seiner Kindheit.
***
Der Graben bot eine ideale Deckung. An manchen Stellen musste er zwar geduckt schleichen, an anderen Stellen war die Furche wiederum so tief, dass er gefahrlos aufrecht marschieren konnte.
Das Gewicht seiner Ausrüstung und Waffen, die auf dem Schiff schon unerträglich schwer gewesen waren, hätten ihn auf dem fremden Planeten mit seiner hohen Schwerkraft einfach zerdrückt. Ohne seinen Anzug, der die tödliche Gravitation ausglich, wäre es ihm nicht möglich gewesen der riesigen Maschine, die mit ihren Gleisketten die tiefen Furchen in den Boden fräste, zu folgen.
Das war sein Auftrag. Der Maschine folgen und alle Sabotageaktionen verhindern. Es war ein öder Job. Aber er hatte noch mal Glück gehabt und musste nicht, wie die drei anderen, Flanken und Front des Fahrzeuges ohne Deckung sichern.
Auf dem Bildschirm seines Bewegungsmelders waren nicht die geringsten Anzeichen einheimischer, menschlicher Lebensformen sichtbar. Zum Spaß schoss er manchmal mit seiner Partikelkanone auf primitive Wesen. Irgendwelche Tiere, Viecher, oder was sonst da draußen auch immer herumkriechen mochte. Aber Menschen, richtige Ziele, waren nicht dabei.
Immer wenn die Doppelsonnen des Planetensystems langsam hinter dem Horizont verschwanden und es Nacht wurde und die Maschine stoppte, erinnerte er sich an die raue und harte Stimme seines Befehlshabers auf dem Schiff.
„Euer Einsatz wird Wochen, Monate, vielleicht Jahre dauern! Aber ihr alle, so wie ihr hier angetreten seit“, hatte er in ein Mikrofon gebrüllt, damit alle ihn hören konnten, „seit verdammt noch mal das beste Regiment, das wir auf diesem Schiff haben!“
Anschließend war der stiernackige Offizier von seinem Podium gesprungen und hatte sich hier und da jemanden aus der angetretenen Formation herausgepickt.
„Du mit deinen vierzehn Jahren! Und du mit deinen zwölf Jahren! Und auch du mit deinen zehn Jahren!“
Mit erhobener Faust hatte er sich im Kreis gedreht.
„Ihr alle seit im besten Alter für diesen Job! Ihr seit die besten Killer, die wir hier haben!“
„Die besten Killer?“, dachte Gelendjer zynisch, als die Maschine zum Stillstand kam und nur noch das leise Brummen der Motoren im Leerlauf zu hören war. „Killer ohne Ziele, wäre wohl treffender.“
Wie jeden Abend, wenn die Sonnen untergegangen waren, begann es zu regnen. Mit dem Regen wurde aus dem staubtrockenen Geröll eine schleimige Matschwüste. Gelendjer hockte sich in den nassen Schlamm. „Verdammter Drecksplanet.“ So sehr er auch Ausschau hielt. In dieser Wüste gab es keine Anzeichen mehr von Resten großer Städte, keine Hinweise auf Dörfer, nichts was auf Zivilisation schließen ließ. Nur Geröll. Eine plattgebombte Geröllwüste. Er konnte kaum glauben, dass dieser Planet einmal eine blühende Welt gewesen war. Er lehnte sich an die Grabenwand und schob am Oberarm seines Anzugs eine Staubschutzplatte zur Seite. Vorsichtig betätigte er mit spitzen Fingern das Sensorfeld dahinter. Wenige Augenblicke später glitt aus dem Anzug eine Injektionsnadel in seinen Oberarm, pumpte Nährflüssigkeiten in seine Blutbahnen und versorgte seinen Körper, seine Organe, die Muskeln, das Gewebe und jede Körperzelle mit den lebensnotwendigen Nährstoffen.
Gelendjer wehrte sich gegen das träge Sättigungsgefühl, das der Injektion folgte. Er mochte es nicht. Aber die allabendliche Injektion war nötig, um der Maschine am nächsten Tag wieder folgen zu können.
Er aktivierte den Timer auf dem Sensorfeld, schloss die Schutzplatte wieder und empfand augenblicklich ein angenehmes Wohlbehagen.
Der Anzug spritzte ihm ein Beruhigungsmittel damit er in einen tiefen und erholsamen Schlaf sinken konnte. Sollte sein Bewegungsmelder währenddessen bedrohliche Lebensformen in seiner Nähe erkennen, spritzte ihm der Anzug sofort ein Aufputschmittel. Falls nicht, bekam er das Mittel erst bei Tagesanbruch, wenn die Maschine wieder startete, verabreicht.
Ein beinahe unerträgliches Einerlei. Marschieren und schlafen. Schlafen und marschieren, und der verdammten Maschine folgen, die wie ein parasitäres Rieseninsekt alle Rohstoffe aus dem Planeten saugte. Ein Heer von Fahrzeugen kroch über diese Welt und raubte ihr die letzten Reserven, damit die Kriege weitergehen konnten.
Als das Schlafmittel durch seine Adern zu fließen begann, und seine Augenlider schwerer und schwerer wurden...
***
... erwachte er wieder auf der Fußplattform. Sowenig es möglich war im Schlaf den eigenen Tod zu träumen, sowenig war es möglich im Traum einzuschlafen.
„Was ist Traum,“ dachte er, „und was ist Wirklichkeit?“
Das Fußgestell auf dem er stand war Wirklichkeit. Die Monolithen, an denen ganze Massen von Menschen wie angenagelt stehen mussten, waren Wirklichkeit. Das Stöhnen, Jammern und die Schmerzensschreie erschienen ihm genauso real, wie der Graben in dem er gerade eben noch geglaubt hatte zu hocken. Das Geröll, der Dreck und die ölig-giftigen Abgase der riesigen Abraummaschine hatten ebenso real gewirkt, wie dieser Totengarten aus einheitlichen Steinsäulen.
„Was ist Wirklichkeit und wann fängt Traum an?“ ging es ihm wieder durch den Kopf. Und kaum, dass er es gedacht hatte, träumte er wieder auf dem Planeten zu sein und glaubte einen Stich an seinem Oberarm zu spüren.
***
Eine Injektionsnadel glitt aus dem Anzug in seinen Arm. Augenblicke später rauschte eine Mixtur aus Aufputschmitteln durch seine Blutbahnen. Als das Gemisch sein Herz erreichte, erhöhte sich rasant sein Pulsschlag, und als die Lauge in sein Hirn schoss, schlug Gelendjer die Augen auf und glaubte hellwach zu sein.
Er schaute sich blinzelnd um. Die kleinere der beiden Sonnen stand bereits über dem Horizont. Die größere würde ihr bald folgen. Ein neuer Tag begann. Ein neuer, beschissener Tag auf einem beschissenen Planeten.
Im gleichen Moment hörte er die Maschine starten und sah, wie das rußgeschwärzte Monstrum, in dessen Schatten er im Dreck gehockt hatte, ein Brodem schmierig, schwarzer Dämpfe ausspuckte.
Er wandte sich ab und vergrub sein Gesicht in gekreuzte Armbeugen, in der Hoffnung die scheußlichen Abgase nicht einatmen zu müssen.
Aber sie drangen, wie jeden Morgen in seine Nase und seinen Mund und erzeugten ein ekelhaft künstliches Aroma in seinem Rachen. Gelendjer lehnte sich zur Seite und kotzte. Ein grünlich, gelber Schaum spritzte aus seinem Mund. Mehr gab sein Magen nicht her. Gelendjer wunderte sich nicht mehr darüber. Seit er auf dem Planeten war, hatte er ausnahmslos Nährsubstanzen injiziert bekommen. Ein Zeug von dem er überhaupt nicht wissen wollte, was genau da drin war.
Bei dem Gedanken daran, dass irgendein chemischer Sud in seinem Körper zirkulierte und ihm ein künstliches Sättigungsgefühl vorgaukelte, musste er wieder würgen. Ätzende Magensäure begann brennend in seiner Speiseröhre hochzusteigen. Gelendjer wollte schon wieder kotzen, als sein Bewegungsmelder plötzlich verrückt spielte und Alarm schlug.
Er schluckte energisch und zwang das beißende Fluid dahin zurück wo es hatte herauskommen wollen. Eine Kotzerei war das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. Er riss den Bewegungsmelder von seinem Sturmgepäck und schaute auf den Bildschirm. Helle Lichtpunkte waren auf dem Monitor erkennbar. Heller, als das ganze Viechzeug das manchmal angezeigt wurde. Das hier war etwas anderes. Und es bewegte sich langsam auf ihn zu.
Er wuchtete seine Waffe nach oben und schaltete die Visieroptik ein. Da waren sie. Menschen, Einheimische. Eine Gruppe Flüchtlinge schleppte sich erschöpft über die verbrannte Ebene. Einige schienen etwas in den Armen zu tragen. Waffen? Sprengsätze? Gelendjer zoomte näher heran und sah Frauen, die halb verhungerte Kinder in ihren Armen hielten. Er stellte das Visier schärfer ein und konnte jetzt auch die Erwachsenen genauer erkennen. Sie sahen nicht viel besser aus. Ausgemergelt, kränklich, ja geradezu bresthaft. Die meisten waren nackt, einige wenige trugen Kleidung, die aber so zerlumpt war, dass sie als solche kaum noch bezeichnet werden konnte. Eine Bedrohung stellten die nicht dar.
Trotz ihres entkräfteten Zustandes, die sie in dieser von Menschenhand gemachten Wüste hatten erleiden müssen, war Gelendjer von ihrem Aussehen fasziniert.
Anders als er, waren sie hochgewachsen und schlank, fast schon zierlich und filigran. Und auch wenn sie hatten hungern müssen, schienen ihre Körper von Natur aus wenig Gewicht mitzubringen. Dafür war die Muskulatur ihrer Oberschenkel so extrem stark ausgeprägt, dass sie in einem krassen Missverhältnis zum übrigen Körperbau stand.
Diese Menschen, ganze Völker von ihnen, hatten sich über unzählige Generationen den Verhältnissen dieser Welt mit seiner hohen Schwerkraft angepasst, bis sie sich frei auf ihr bewegen konnten.
Gelendjer, der junge Gelendjer, das Kind, das er im Traum war, glaubte für einen kurzen Augenblick den Hauch der Natur zu spüren und zu verstehen, was Evolution bedeutete und was sie an Vielfalt hervorbringen konnte und wie wertvoll und schützenswert sie war.
Er legte seine Waffe auf den Grabenrand und stellte das Visier noch schärfer ein. „Endlich!“ dachte er, legte seinen Zeigefinger an den Abzug und drückte ab.
***
Mit einem unterdrückten Schrei, wie es nur Schlafende taten, die in einem bedrohlichen Alptraum gefangen waren, erwachte Gelendjer wieder auf der Fußplattform.
Das Geträumte stand ihm noch lebhaft vor Augen. Deutlich sah er die verzweifelten Flüchtlinge, wie sie sich erschöpft über die verkohlte Schlacke schleppten. Und deutlich sah er, wie sie in den Salven aus seiner Partikelkanone zerstoben.
„Warum habe ich abgedrückt?“
Damals, als Kind, kam ihm seine Tat tapfer, ja geradezu heldenhaft vor. Jetzt, als Erwachsener, empfand er sie aus der zeitlichen Distanz betrachtet nicht mehr heroisch.
„Warum habe ich geschossen?“
Klar und deutlich glaubte er wieder das dumpfe Pochen der Salven zu hören. Und mit jeder Salve fühlte er sich schlechter und elender, bis er es nicht mehr aushielt.
„Warum habe ich das getan?“ schrie er und wandte sich nach links. Diesmal war er es, der Aufmerksamkeit und Zuspruch brauchte und sich diese von der rabenschwarzen Schönheit neben sich erhoffte. Aber sie war nicht mehr da. Wahrscheinlich hatte sie doch noch versucht sich zu setzen und war dabei in die Tiefe gestürzt. Stattdessen stand ein alter Mann leicht vornübergebeugt auf ihrem Platz. Sein Schmerbauch ragte genauso hervor, wie die Rippen an seinem Brustkorb. Sein entsetzlich verfilzter Vollbart und seine langen grauen Haare, die derart verwuchert waren, als wollten sie ein Eigenleben führen, verdeutlichten nur noch mehr sein hohes Alter.
„Du hast schon im Schlaf geschrien“, sagte der Alte. „Was ist denn bloß mit dir?“
„Es sind die Träume“, antwortete Gelendjer erschöpft:. „Ich habe fragwürdige Dinge in den Kriegen getan.“
Der Alte lehnte sich an den Monolithen. „Ich habe in meinem langen Leben nie an den Kämpfen teilgenommen. Aber ich glaube, ich weiß, was du meinst.“ Er machte eine kurze Pause. „Seit ich hier bin, träume auch ich nur von früheren Ereignissen meines Lebens. Ereignisse in denen ich meinen Mitmenschen schwere Schäden zugefügt habe. Ich durchlebe sie hier aufs Neue.“
Er schaute Gelendjer traurig an. „Ich träumte, wie uns damals, als ich noch ein Kind war, die Krieger mit ihren Raumschiffen überfielen und ausplünderten und ich danach meiner kleinen Schwester das letzte bisschen Essen, das die Kämpfer nicht gefunden hatten, weggenommen habe.“ Die Augen des Alten füllten sich vor Zorn und hilfloser Wut mit Tränen.
„Ich habe meine Schwester, das arme kleine Ding, bestohlen und beraubt, um selbst satt zu werden.“ Der Alte erhob anklagend seine Stimme. „Und ich wurde satt! Und dafür durfte ich ihr beim Verhungern zusehen!“
Er fuhr sich verzweifelt mit den Händen durch sein Haar.
„Danach verließ ich mein verwahrlostes Zuhause und irrte ziellos auf dem Planeten umher. Ich tat alles, um etwas zu Essen zu bekommen. Ich log, täuschte und betrog, nur um irgendwie meinen Bauch füllen zu können. Selbst vor Mord schreckte ich irgendwann nicht mehr zurück. Ich erschlug versprengte Soldaten, die man vergessen hatte von dem Planeten zu evakuieren und raubte sie aus. Ich schloss mich Banden an und überfiel mit ihnen die armseligen Camps der Überlebenden. Manchmal hörten wir dabei Gerüchte von den Kämpfen und von Welten denen das gleiche Schicksal wiederfahren war, wie meiner Heimat. Aber niemand wusste, warum eigentlich gekämpft wurde oder aus welchem Grund die Kriege einmal ausgebrochen waren.“
„Es wurde immer gekämpft“, sagte Gelendjer.
„Bist du dir da sicher?“ entgegnete der Alte.
„Ja, natürlich!“
„Überlege genau.“
„Es gibt Sieger“, antwortete Gelendjer, „und es gibt Besiegte. Das war schon immer so. Deshalb sind wir Menschen da. Kämpfen ist unser Naturell, unsere Veranlagung, unser Wesen. Dazu werden wir geboren.“
„Ich habe aber etwas anderes kennen gelernt. Etwas ganz anderes.“
Gelendjer wandte sich neugierig, soweit es die schmale Fußplattform zuließ, dem Alten zu.
„Ich habe nicht immer gestohlen und geraubt. Ich wurde auch ausgeplündert und dabei fast totgeschlagen. Halb verhungert und mehr tot als lebendig schleppte ich mich durch das verbrannte Ödland, bis ich zufällig auf ein Lager stieß dessen Bewohner mich freundlich aufnahmen, mir zu Essen gaben und mich gesund pflegten. Später erfuhr ich, dass sie von ihrer Welt fliehen mussten und auf meinem zerstörten Heimatplaneten Zuflucht gefunden hatten.“
Gelendjer wandte sich von dem Alten wieder ab. „Solche Geschichten habe ich schon oft gehört.“
„Aber nicht so eine“, hielt der Alte dagegen. „Diese Menschen waren keine einfachen Flüchtlinge. Sie bewahrten ein uraltes Wissen. Etwas, das es vor den Kriegen gegeben hat.“
„Hah!“ erwiderte Gelendjer. „Krieg hat es immer gegeben und wird es immer geben.“
Der Alte ließ sich nicht irritieren. „Diese Menschen berichteten mir aber von einem Zustand der einmal Frieden genannt wurde.“
„Frieden?“ fragte Gelendjer. „Was soll das sein?“
Die Frage überraschte den Alten nicht. Er hatte sie schon so oft gehört. Niemand wusste mehr, was Frieden einmal war. Die Bedeutung des Wortes war im Lauf der Zeit einfach in Vergessenheit geraten und irgendwann ganz verschwunden.
„Frieden“, sagte er, „Frieden ist ein heilsamer Zustand allgemeiner Harmonie und Ruhe.“
Gelendjer runzelte die Stirn.
„Ich weiß, dass du es nicht verstehst“, führte der Alte weiter aus. „Du verstehst es nicht, weil dir von Kindesbeinen an genau das Gegenteil beigebracht worden ist, bis du es nicht nur geglaubt, sondern auch für richtig befunden hast. Statt Ruhe hast du Chaos und Gewalt verbreitet. Statt Harmonie und Wohlbehagen brachtest du Tod und Vernichtung. So hat man es dir beigebracht, und so hast du es auch der nächsten Generation vermittelt.“
Gelendjer war verunsichert. „Aber so ist es doch richtig, es gibt doch nichts anderes.“
„Es gibt für dich nichts anderes, weil du nie etwas anderes erfahren hast. Nichts anderes, als Krieg und Terror. Keiner von uns. Und das über Generationen, Epochen und ganze Zeitalter.“
Gelendjer versuchte der Aussage zu folgen. Gleichzeitig bemerkte er, dass die Stimme des Alten mit jedem Wort erschöpfter und kraftloser klang. Und nicht nur die Stimme, die ganze Körperhaltung signalisierte, dass er am Ende seiner Kräfte zu sein schien. Dann knickten dem Alten plötzlich die Knie weg und ein Fuß rutschte gefährlich von der Plattform. Gelendjer hielt den Atem an. Der Alte schlug geistesgegenwärtig einen Arm gegen die Steinsäule und hielt sich im Gleichgewicht. Mühsam gelang es ihm sich wieder nach oben zu ziehen. Gleich danach gaben seine Beine erneut nach. Dann noch einmal und noch einmal. Aber jedes Mal kämpfte er sich wieder hoch, als wolle er eine letzte Botschaft mitteilen. Eine letzte wichtige Botschaft, bevor das Unvermeintliche geschah.
Gelendjer fühlte sich bei dem Anblick an die schwarzhaarige, formvollende Klassefrau erinnert, die zuvor neben ihm gestanden und genauso gekämpft hatte. Er fragte sich, was aus ihr geworden war und schaute nach unten. Aber so sehr er auch nach ihr Ausschau hielt, er konnte sie aus der großen Höhe, in der er stehen musste, nicht entdecken. Er sah nur die Massen zermalmter Körper, der zu Tode gestürzten Menschen, die mit zertrümmerten und unnatürlich abstehenden Gliedmaßen am Fuß des Monolithen, so wie sie herab gefallen waren zu Haufen aufeinander lagen.
Gelendjer wandte sich mit Grausen ab. Er hatte den Tod schon oft gesehen, aber dieser Anblick überstieg alles bisher da gewesene. Langsam ließ er seinen Blick von einem Monolithen zum anderen wandern. An jeder Steinsäule türmten sich Berge von Leichen empor.
„Was passiert hier bloß?“ fragte er fassungslos.
„Ich weiß es nicht,“ antwortete der Alte matt. „Ich weiß nicht, warum du oder warum ich hier bin oder warum die ganze Menschheit hier zum Sterben versammelt ist. Aber ich glaube, wir alle sind hier, um vor unserem Tod geläutert zu werden. Egal, ob wir an den Kriegen teilgenommen haben oder nicht. Wir ließen zu, dass sie uns verrohten, bis wir alle, ob Täter oder Opfer, gewissenlos unseren Mitmenschen Böses zugefügt haben, die dann wiederum anderen Menschen Schreckliches antaten, bis sich ein Kreislauf geschlossen hatte, der nicht mehr durchbrochen werden konnte. Erst hier an diesem Ort erkennen wir unsere Missetaten und begreifen, was wir angerichtet haben.“
Der Alte lehnte sich erschöpft zurück. „In unseren Träumen erlangen wir diese Selbsterkenntnis. Aber diese Erkenntnis wird uns nicht mehr erhöhen oder verbessern oder gar rein werden lassen. Dazu ist es zu spät. Wir alle sind hier, um zu sterben.“
Erkenntnis, Verbesserung? Gelendjer versuchte zu begreifen, was ihm der Alte da gerade eben hatte erklären wollen. Reinwerdung? Aber es gelang ihm nicht. Er kam nicht dahinter. Und plötzlich war es, als zöge ihn eine unsichtbare Macht aus dem Diesseits in das Jenseits eines eigenartigen Dämmerzustandes.
* * *
Bilder jagten durch seinen Kopf. Er sah gigantische Schiffe, Wunderwerke der Technik, die weit draußen im All sinnlos verbrannten. Er sah bombardierte Welten, die gleißender loderten, als ihre Heimatgestirne. Er sah Sonnen, die in künstlich erzeugten Supernovae explodierten und ihre von Leben erfüllten Planeten in einem plötzlichen Lichtblitz verzehrten. Er sah Menschenmassen und Völker bei ihrer aussichtslosen Flucht vor gewaltigen Feuerwalzen. Städte, die in sekundenschnelle ausgelöscht wurden und blühende Landschaften, die im Augenblick eines Wimpernschlags zu schwarzer Schlacke verkohlten.
Und er sah die Überlebenden. Blind von den Explosionen und krank vom schwarzen Regen der Detonationen krochen sie in den schwelenden Ruinen umher und wühlten in der Asche nach Nahrung. Aber noch mehr, als die Hoffnung etwas essbares zu finden, waren sie nur von einem einzigen Gedanken beseelt; sie beneideten die Toten.
„Aufhören,“ schrie Gelendjer. „Ich will das nicht mehr sehen!“
Alles schien besser, als diese Hölle. Sogar die Fußplattform an der Steinsäule. Aber es hörte nicht auf.
Er sah verhungernde Kinder, die über die leblosen Körper ihrer Eltern krochen und mit ihren Händen unbeholfen die bleichen Gesichter der Erstarrten betatschten, als könnten sie die Toten damit wieder zum Leben erwecken.
„Jemand muss ihnen helfen,“ brüllte er. „Irgend jemand muss ihnen doch helfen!“
Als wäre sein Flehen erhört worden, erschienen plötzlich Robotereinheiten. Unter ihren Schritten erbebte die Erde. Gebannt und voller Hoffnung starrte er auf die Automaten. Sie würden helfen, sie mussten doch den gequälten Geschöpfen die ersehnte Rettung bringen.
Mit einem metallischen Knirschen kamen die Apparate im Gleichschritt zum Stehen und wirbelten dabei Staub und Dreck auf.
Als sich der graue Dunst langsam legte, öffneten sich schmale Scharten an den verrußten Brustpanzern.
„Nein,“ flüsterte Gelendjer. „Nicht so. Bitte nicht so.“
Mündungen sprangen aus den Öffnungen und begannen sofort zu feuern. Salve auf Salve schossen sie in die Toten und Sterbenden, bis sich nichts mehr regte und nur noch das Klirren der herabfallenden Patronenhülsen zu hören war. Dann stampften die Automaten, als wären die Menschen nur lästige Hindernisse gewesen, rücksichtslos weiter.
Kaum waren sie verschwunden, rasselten riesige Maschinen auf breiten Gleisketten heran. Jene von Menschen gesteuerte Abraummaschinen, denen auch Gelendjer einmal gedient hatte. Ohne die Ruhe der Toten zu achten begannen sie den Boden aufzureißen und in der Erde nach Rohstoffen zu wühlen. Was nicht verwertbar war warfen sie am Heck einfach wieder heraus.
Als Gelendjer das sah, als er diesen kalten und verachtenden Mechanismus begriff, schrie er: „Was macht ihr da? Hat denn Leben keinen Wert mehr?“
„Hatte Leben denn für dich einen Wert?“
Gelendjer meinte eine Stimme vernommen zu haben. Hatte Leben denn für dich einen Wert? Es war nicht, als habe er die Stimme hören können, vielmehr glaubte er sie gefühlt zu haben.
„Ja! Leben hat einen Wert!“ brüllte er einfach ins Nichts und kam sich sofort lächerlich vor. Er konnte sein Gegenüber ja nicht sehen. Er wusste ja noch nicht einmal, ob es überhaupt ein Gegenüber gab und ihm sein Verstand der körperlichen Anstrengung des langen Stehens wegen zusammen mit den belastenden Alpträumen einfach nur einen Streich gespielt hatte.
Er wartete. Wartete, die Stimme erneut zu vernehmen, als Beweis nicht den Verstand verloren zu haben. Aber da war nichts. Nichts außer Stille und Dunkelheit.
„Werde ich langsam verrückt?“ dachte er.
„Du wirst nicht verrückt,“ hallte die Stimme wieder. Und sie hallte wie ein Donnerschlag in ihm. „Wie konnte Leben einen Wert für dich haben, wenn du nie etwas anderes getan hast, als es immer wieder auszulöschen?“
Die Wahrheit der Aussage traf Gelendjer mit einer Wucht, die er nicht für möglich gehalten hatte. Zögernd und mit dem Versuch einer Rechtfertigung antwortete er: „Ich kannte es doch nicht anders.“
„Und das hat dich berechtigt wahllos zu massakrieren?“
Gelendjer wollte wieder mit einer Entschuldigung antworten, besann sich dann aber eines anderen. Die Anschuldigungen störten ihn. Und obwohl es der Situation mehr als unangemessen war, antwortete er trotzig: „Darauf beruht nun einmal unsere Gesellschaft. Und um das Zusammenleben unserer Gesellschaft zu garantieren benötigen wir Rohstoffe. Rohstoffe zum Bau und Antrieb der Raumschiffe mit denen wir den Kontakt zwischen den bevölkerten Welten aufrecht erhalten.“
Gelendjer erkannte nicht, dass er nur nachplapperte was ihm als Kind auf den Kampfdecks des Raumschiffes eingeträufelt worden ist. „Wer die Grundstoffe nicht freiwillig herausgibt, dem werden sie weggenommen. Und dazu brauchen wir den Krieg. Die organisierte Gewalt. Nur so können wir unsere Gemeinschaft aufrecht erhalten.“
„Leben auslöschen, um das Zusammenleben zu gewährleisten?“ vernahm er die Stimme wieder. „Erkennst du denn nicht, wie absurd sich das anhört?“
Gelendjer überlegte, und er übelerlegte lange. Aber sein Widerstand war noch nicht erloschen. „Du findest das sinnlos und dem gesunden Menscherverstand widersprechend? Wer bist du, dass du glaubst die bestehende Ordnung verurteilen zu können?“
Ein seltsamer Verdacht begann in ihm aufzusteigen. „Oder bist du etwa der Alte, der mich vorhin schon hart anging und kritisierte und mich jetzt sogar hier in diesem Traum oder Dämmerzustand oder was auch immer das hier ist verfolgt?“
„Der bin ich nicht. Erwache und öffne deine Augen.“
***
Gelendjer schlug seine Augen auf. Er stand wieder auf der Fußplattform. Es herrschte heller Tag und das grelle Licht schmerzte derart, dass er sich nur blinzelnd umschauen konnte. Langsam wanderte sein Blick dorthin wo der Alte gestanden hatte. Aber er war nicht mehr da. Er war genauso verschwunden, wie zuvor die schwarzhaarige Rassefrau.
Alle waren fort. Nahezu alle Menschen waren herabgestürzt und beinahe alle Fußplattformen verwaist. Nur hier und da erspähte er noch einige wenige Leidensgenossen.
An den anderen Steinsäulen sah es nicht anders aus. Vorsichtig schaute er nach unten zum Fuß des Monolithen an dem er stand. Dort hatten sich die Leiber der Herabgestürzten inzwischen so hoch aufgetürmt, dass er jetzt sogar ihre Gesichter erkennen konnte.
Wir sind hier, um zu sterben.
Auch das Gesicht des Alten war dabei. Er hatte also nicht mehr zu ihm sprechen können. „Aber wer dann?“ dachte Gelendjer. „Oder hat er nach seinem Tod aus dem Jenseits zu mir gesprochen?“
„Das hat er nicht.“
Gelendjer erschrak, als er die Stimme wieder vernahm. „Ich bin wach! Warum kann ich dich hören?“
„Ich war die ganze Zeit da. Egal ob du wach warst oder nicht. Ich habe sogar veranlasst, dass du in die traumartigen Zustände weggedriftet bist.“
Tausend Fragen schwirrten Gelendjer plötzlich durch den Kopf. Tausend Fragen, die nach tausend Antworten verlangten. Ein unbeschreibliches Durcheinander herrschte in seinen Gedanken, und so platzte ihm einfach die naheliegendste Frage heraus: „Wer bist du?“
„Ich versuche es dir zu erklären. Du musst wissen; es gibt drei vernunftbegabte Arten in unserer Galaxie. Drei Arten, deren Angehörige sich darüber bewusst sind wer sie sind und wo sie sind.“
„Was soll das heißen; wo sie sind?“
„Heulst du etwa helle Himmelskörper an, weil du dich von ihnen bedroht fühlst? Oder wirfst du gar mit Steinen nach ihnen?“
„Nein.“
„Und warum nicht?“
„Weil es Sonnen und Planeten sind. Planeten auf denen wir leben und die durchs All rasen.“
„Dann weißt du auch, wo du bist.“
„Das beantwortet nicht die Frage, wer du bist.“
„Lass es mich dir weiter erklären. Die älteste Art trat vor langer Zeit freiwillig eine Diaspora in den intergalaktischen Raum an. Nur noch wenige Welten werden hier von ihnen als Enklaven bewohnt, in der Hoffnung, dass die Emigranten eines Tages mit neuen Erkenntnissen über das Universum zurückkehren.“
„Ich habe noch nie solche Wesen gesehen oder von ihnen gehört.“
„Ihr seid auch nie in ihren Raum vorgedrungen.“
„Was?“ protestierte Gelendjer. „Wir unterwerfen ganze Welten! Wir beherrschen das All!“
„Du fällst immer wieder in deine alte Denkstruktur zurück, die dir irgend ein Dummkopf einmal anerzogen hat. Ihr beherrscht gar nichts. Ihr vernichtet nur. Und aus diesem Grund seid ihr auch hier.“
Zaghaft schaute Gelendjer auf die Massen der Steinsäulen, die in alle Richtungen bis zum Horizont standen, und beklommen blickte er auf die vielen Toten.
„Wie wurden wir hierher gebracht?“ fragte er. „Und wann?“
„Erinnerst du dich an die Nacht, als ihr eine Welt so schlimm vernichtet habt, dass dort sogar die Ozeane kochten?“
Gelendjer erinnerte sich. „Ich habe dabei zugesehen.“
„Und du erinnerst dich auch an die schwarzhaarige Frau? Und an die Nacht, die ihr trotz des von euch angerichteten Grauens unbekümmert miteinander verbracht habt, als wäre nichts geschehen?“
„Ja!“
„Seitdem bist du hier.“
„Aber wie? Wie denn bloß?“
„Wir verfügen über Methoden, oder, um es dir verständlicher auszudrücken, über Technologien mit denen wir euch hierher brachten. Euch alle. Alle deiner Art. Die gesamte Menschheit.“
„Wir sind hier, um zu sterben “, ging Gelendjer die Rede des Alten wieder durch den Kopf
und allmählich begann er zu erkennen.
„Aber warum?“ hauchte er. „Warum wir alle? Warum denn nur?“
„Wir haben euch Menschen immer mit großem Interesse beobachtet. Es war interessant zu sehen mit welchen Mitteln und Ideen ihr in den Raum expandiert seid. So ganz anders, wie wir es gemacht haben. Eure Philosophie unterschied sich grundlegend von unserer, aber sie war trotzdem beachtenswert. Beachtenswert bis zu dem Zeitpunkt, als ihr etwas begonnen habt das ihr Krieg nanntet.“
„Wir haben doch nur untereinander gekämpft,“ entgegnete Gelendjer. „Wir hätten doch niemals gegen euch...“
„Ihr kamt mit eurem Gewaltausbruch unserem Lebensraum zu nahe,“ unterbrach ihn die Stimme. „Und irgendwann hättet ihr auch unsere Welten vernichtet.“
„Das hätten wir nicht. Wir hätten euch kennen lernen wollen.“
„Weißt du eigentlich, wie selten bewohnbare Welten in der habitablen Zone einer Sonne sind?“ Ignorierte ihn die Stimme. „Und hast du eine Ahnung davon, wie lange es dauert sie zu kultivieren und dabei dennoch ihren Chartachter zu erhalten?“
„Ich war auch auf vielen Welten.“
„Um sie auszubeuten, zu ruinieren und zugrunde zu richten.“
„Und jetzt richtet ihr uns zugrunde.“
„Es ging nicht anders. Ihr hättet sonst alles zerstört. Jeden Lebensraum.“
„Ihr zerstört uns und lasst uns hier verrecken. Ihr seid auch nicht anders.“
„Offene Gewalt ist uns fremd. Wir können sie nicht anwenden. Es dauerte sehr lange, bis wir zu dieser Lösung kamen. Und trotzdem haben viele von uns, die daran gearbeitet haben, dabei ihren Verstand verloren. Aber letztendlich seid ihr es, die vor Entkräftung herabstürzen ohne dass wir aktiv etwas dazu beitragen müssen.“
„Also stimmt es“, murmelte Gelendjer. „Wir sind hier, um zu sterben.“
„Nicht alle.“
Gelendjer richtete sich mit letzter Kraft auf und fragte erschöpft: „Nicht alle?“
„Deine Art muss erhalten bleiben. Ihr seid zu wertvoll, als das ihr alle vergehen dürft, trotz der Zerstörungen und Grausamkeiten, die ihr verübt habt.“
„Ich verstehe nicht“, raunte Gelendjer schwach.
„Ich gehöre einer kleinen Gruppe an. Einer rebellischen Gemeinschaft. Abtrünnigen, wenn du so willst, die eure Auslöschung ablehnen.“
„Ich bin hier, um zu sterben“, wiederholte Gelendjer monoton.
„Du wirst hier nicht sterben. Du musst durchhalten.“
„Durchhalten?“ entgegnete er matt. „Durchhalten wofür?“ Auch er war jetzt am Ende seiner Kräfte.
„Damit die Menschheit weiter existiert.“
Gelendjer verspürte das Verlangen sich auf die Fußplattform zu setzen, obwohl er wusste, dass es seinen Tod bedeutete.
„Wir haben schon viele deiner Art von hier fortgebracht. Auf eine Welt, die sich weit außerhalb des Zentrums unserer Galaxie befindet. Weit draußen am Ende eines Spiralarms.“
Gelendjer begann vor Entkräftung hinab zu sinken.
„Kaum jemand weiß von ihrer Existenz, und außer unserer Gruppe kennt niemand ihre Position. Dort müsst ihr neu anfangen.“
Gelendjer versuchte sich mit eng an den Monolithen gelegten Armen wieder aufzurichten.
„Es ist ein wilder und lebensfeindlicher Planet. Und damit du, so wie die anderen Geretteten dort überleben können, müssen wir auch deinen Körper verändern. Wir müssen ihn robuster machen.“
Gelendjer rutschte mit seinem Rücken nach unten.
„Deine körperliche Veränderung wird schmerzhaft werden. Derart schmerzhaft, dass Du glauben wirst den Verstand zu verlieren.“
Nach und nach begann er eine Hockstellung einzunehmen.
„Deine Erinnerungen werden dabei nahezu ausgelöscht. Du musst dich nur an eines erinnern! Erinnere dich an das, was ich dir jetzt sage!“
Ein Fuß glitt von der Plattform.
„Kehrt um! Wendet euch von dem Weg, den ihr eingeschlagen habt wieder ab! Werdet wieder Menschen! Werdet wieder menschlich!“
***
Die Schmerzen waren unerträglich. Knochen zerbrachen, Muskeln zerrissen, Sehnen und Nervenfasern zerfetzten, Gewebe verschob sich und die Haut fühlte sich an, als ob sie herabgerissen und an anderer Stelle wieder neu aufgebracht wurde.
Gelendjer schrie. Er schrie, wie ein Verrückter an der Grenze zum Wahnsinn, in der vagen Hoffnung die Schmerzen damit lindern zu können. Aber seine Schreie verhallten ungehört. Er strampelte und brüllte, bis die quälend lange Prozedur seiner Veränderung einfach zu viel für ihn wurde und alles dunkel zu werden schien. Sein Verstand schaltete sich ab. Gelendjer glaubte hinab zu sinken und zu ertrinken.
Werdet wieder Menschen! Werdet wieder menschlich!
Er versuchte wach zu bleiben und schlug seine Augen auf. Aber da war nichts. Nichts außer einem konturlosen Grau.
Werdet wieder Menschen.
Der Schmerz war nicht mehr steigerbar. Er überschwemmte alles. Er löschte jeden Gedanken und jede Erinnerung aus. Da war nur noch eine alles überwältigende Pein. Gelendjer begann zu vergessen, dass diese Pein die Ursache seiner körperlichen Veränderung war, um auf einem rauen und wilden Planeten am Rand der Galaxie überleben zu können.
Wendet euch von dem Weg, den ihr eingeschlagen habt wieder ab.
Er vergaß seine Zeit als Kindersoldat auf den Kampfdecks des Raumschiffes, und er vergaß seine Einsätze auf den zerbombten Welten. Er vergaß sogar, dass es überhaupt Raumschiffe und Planeten gab.
Als sein Körper neu zusammengefügt und dabei seine Muskeln und Knochen stabiler und sein Körper insgesamt gedrungener und kompakter wurde, ereichte der Schmerz ein derart heftiges Niveau, dass Gelendjer sogar seinen eigenen Namen vergaß. Dann war der Schmerz plötzlich vorbei und Gelendjer erwachte auf einer neuen Welt.
***
Vorübergebeugt wankte er mit hängenden Armen durch eine karge Steppenlandschaft. Unbeholfen stieß er mit seinen stark behaarten Beinen gegen Dornensträucher oder scharrte mit seinen verhornten Fußsohlen schmerzhaft über stachelige Flechten. Es fiel ihm schwer seine Motorik zu koordinieren. Fast schien es ihm, als müsse er sich an einen neuen Körper gewöhnen. Er konnte sich diesen Eindruck in der Dumpfheit seiner ausgelöschten Gedankenwelt nicht im Geringsten erklären. Überhaupt war sein Gemüt an Schlichtheit nicht zu überbieten. Seine Gedanken kreisten nur um die Befriedigung der notwendigsten Grundbedürfnisse.
Erst schaute er sich in der spärlichen Einöde nach einem Schlafplatz um. Noch bevor er eine einigermaßen geeignete Stelle entdecken konnte, bemerkte er einen nagenden Hunger, und als er nach oben schaute und die Sonne unbarmherzig auf ihn hinab brannte, verspürte er einen dermaßen unerträglich Durst, dass er glaubte seine Zunge klebe an seinem Gaumen fest.
Dehydriert torkelte er weiter, bis er plötzlich in einen Bach stolperte und der Länge nach hinschlug.
Prustend stemmte er sich hoch. Überrascht von der jähen Gunst des Schicksals beugte er sich vor und begann gierig von dem schlammig braunen Wasser zu trinken.
Schlürfend hockte er in einem Rinnsal, das in ferner Zukunft zu einem Fluss anwachsen und einmal Maas genannte werden sollte, und an dessen Ufern in noch fernerer Zukunft hunderttausende Menschen vor einer Stadt mit dem Namen Verdun sinnlos verbluten und sterben sollten.
„Wendet euch von dem Weg, den ihr eingeschlagen habt wieder ab.“ Durstig schöpfte Gelendjer das Wasser mit beiden Händen in seinen Mund. „Werdet wieder Menschen.“