Geld oder Faust
Die Tür zum Wohnzimmer stand einen Spalt breit offen. Peter lauschte aufmerksam. Er hatte das unangenehme Gefühl, dass seine Klassenlehrerin wieder bei ihnen angerufen hatte und fragte, warum er eine Woche lang nicht in der Schule gewesen ist.
„Eine Woche lang? Aber er ist doch morgens immer aus dem Haus gegangen“, sagte seine Mutter ungläubig.
Peter schloss entsetzt die Augen. Seine Vermutung hatte sich bestätigt. Das würde Ärger geben. Am besten, er verschwand, sofort.
Er schlich in den Flur und nahm seine Jacke. Lautlos durchsuchte er seine Taschen. Ein wenig Geld hatte er noch, aber für eine Fahrt mit der Bahn würde es nicht reichen und zu Fuß käme er nicht schnell von der Stelle…
„Na Brüderchen, was haben wir heute wieder ausgefressen?“ John, sein großer Bruder, lehnte sich lässig gegen den Türrahmen. Er sagte diese Worte laut, höchst wahrscheinlich mit Absicht.
„Sei still! Das geht dich gar nichts an!“, wisperte Peter und griff nach der Türklinke.
„Hast mal wieder geschwänzt, hä? Wie lange?“
Peter sah seine schmutzigen Schuhe an.
„Eine Woche“, nuschelte er.
Er riss die Haustür auf, doch John hatte ihn blitzschnell an den Schultern gepackt.
„Hier geblieben!“, rief er.
„Lass mich los, du Arschloch!“ Peter trat John gegen das Schienbein, doch sein großer Bruder kannte offenbar keinen Schmerz. Er lockerte seinen Griff nicht, im Gegenteil, seine Fingernägel gruben sich noch tiefer in seine Schultern. Peter schrie vor Schmerz laut auf. Er erschrak. Hatte seine Mutter ihn gehört? Gebannt lauschte er.
„Vielen Dank Frau Schmid. Ich kümmere mich darum. Tschüss!“, drang es aus dem Wohnzimmer.
Peter unternahm einen letzten Versuch, sich von seinem gehässig grinsenden Bruder los zu reißen, da hörten sie schon Schritte.
„Viel Spaß!“, flötete sein Bruder, lies Peter los und verschwand aus dem Flur. Peter bebte vor Zorn. Ohh, wie er John verabscheute!
Kurz darauf erschien seine Mutter im Türrahmen. Ihr Gesicht war vor Wut errötet. Ihr blick wanderte erst zu Peter, der seine Jacke angezogen hatte und zur Haustür, die noch immer offen stand.
„So!“, schrie sie.
Trotzig verschränkte Peter die Arme vor der Brust.
„Rate mal, wer gerade angerufen hat!“
Peter zuckte mit den Schultern.
„Das weißt du doch ganz genau“, fauchte seine Mutter, „Deine Klassenlehrerin Frau Schmid.“
Und sie begann, ihn anzuschreien, doch Peter hörte nur hin und wieder: „Das hätte ich nie von dir gedacht!“ oder „Du hast bis jetzt über fünfzig Schulstunden versäumt!“ oder „Wie sollst du je die dritte Klasse schaffen?“
Eigentlich hörte er überhaupt nicht richtig zu. Das alles nur wegen diesen großen Jungs aus der achten Klasse, dachte er verbittert. Sie lauerten ihm jedes Mal nach der Schule auf und verlangten jedes Mal fünf Euro, das war sein wöchentliches Taschengeld. Wenn er das Geld nicht hatte, prügelten sie ihn grün und blau. Peter hatte schon sein Sparschwein geplündert, Oma um Geld angepumpt und sogar von seinen Eltern Geld geklaut. Als sein Sparschwein leer war, seine Oma ihn kein Geld mehr geben wollte und seine Eltern ihn beim Klauen erwischt hatten (und ihn ausgerechnet sein Taschengeld gestrichen hatten), war er mit den Schulbus einfach an der Grundschule nicht ausgestiegen, sondern bis zum Gymnasium weitergefahren. Er musste trotzdem aufpassen, denn dort in der Nähe war die Gesamtschule und auf diese Schule gingen die Jungs. Von da aus lief er oft in die Stadt oder in den Park. Er musste nur aufpassen, dass die Polizei ihn nicht erwischte.
Das ging einen Monat lang so. Dann ging er wieder in die Schule, weil er vermutete, dass die Achter ihn schon längst vergessen hatten. Als er nach der Schule mit einem aufgeschlagenen Knie, blauen Flecken am Arm und schmerzen in der Magengegend wieder nach Hause kam, weil die Jungs ihn offenbar doch nicht vergessen hatten, hatte er wieder angefangen zu schwänzen.
„Peter?“ Die zornige Stimme seiner Mutter riss ihn aus seinen Gedanken.
„Ja?“
„Ich fragte dich: Warum machst du so etwas? Du hast keine schlechten Noten und mit den Lehrern kommst du doch auch gut aus. Und du hast so viele Freunde…“
„Ich habe einfach keine Lust auf Schule“, log Peter schnell. Er durfte seiner Mutter nicht die Wahrheit sagen. Die Jungs würden ihn ein Messer durch den Bauch jagen, so hatten sie es jedenfalls gesagt.
„Dann bringe ich dich ab heute jeden Tag zur Schule. Jeden!“
„Wa-was?“, stotterte Peter.
Hier musste es doch noch was geben…Peter krabbelte unter sein Bett, in der Hoffnung, eine Münze zu finden. Er tastete den staubigen Teppich ab. Da! Da war etwas kaltes, rundes!
Peter nahm es näher in Augenschein. Fünf Cent. Nicht gerade viel, aber nun hatte er fünf Cent mehr, die er den Jungs geben konnte.
Er suchte weiter bis:
„Ja!“
Peter hatte fünfzig Cent gefunden. Mit dem bisschen Geld aus seiner Jackentasche hatte er jetzt zwei Euro achtundvierzig, fast die Hälfte. Ermutigt von seinem Fund tastete weiter den Boden ab und suchte und suchte, fand aber nichts mehr. Etwas enttäuscht kam er wieder unter dem Bett hervor. Er würde heute Nacht hinter der Couch suchen. Wenn er jetzt ginge, wäre das zu auffällig. Mutter würde fragen, warum er so dringend Geld bräuchte. Niemand durfte von den älteren Jungs erfahren…
Peter setzte sich auf die Bettkante und dachte nach. Selbst wenn er fünf Euro zusammen kriegen würde, würde es doch nur für einen Tag sein. Aber selbst einen Tag weniger Prügel war schon eine große Erleichterung.
Um Mitternacht piepste der Wecker. Peter brachte ihn rasch zum verstummen. Er schnappte sich seine Taschenlampe und schlich ins Wohnzimmer.
Vorsichtig, bedacht so wenig Lärm wie möglich zu machen, schob er die Couch Zentimeter für Zentimeter von der Wand weg.
Gut, dass wir Teppich haben, dachte Peter, als er die Couch so weit verschoben hatte, dass er dahinter kriechen konnte. Drei Euro und achtundvierzig Cent. Peter geriet in Panik. Ihm fehlten noch ein Euro zweiundfünfzig…
Hektisch suchte er weiter, fand aber nur ein paar Kupfermünzen.
Er schob die Couch wieder zurück und suchte noch im Wohnzimmer. Als er auch dort nichts mehr fand, fingen seine Hände an zu zittern.
Peter begann das gesamte Haus abzusuchen, ohne sich darum zu kümmern, dass er langsam laut wurde. Er hörte erst auf, als sein wütender Vater ihn wieder ins Bett schickte.
Am nächsten Morgen konnte er sich in der Schule nicht konzentrieren. Peter fühlte jetzt schon die harten Schläge der Jungs. Er zitterte nicht mehr, aber ihm war furchtbar schlecht vor Angst.
„Peter? Alles in Ordnung mit dir? Du bist so blass.“
Peter sah seine Lehrerin an und zwang sich zu einem Lächeln.
„Ja, alles klar. Ich konnte nur heute Nacht nicht schlafen.“
Seine Lehrerin seufzte und wollte gerade mit dem Unterricht fortfahren, als die Schulglocke zum Unterrichtsende läutete. Die Lehrerin schrie noch die Hausaufgaben in die lärmende Klasse bevor alle Schüler aus dem Schulgebäude stürmten.
Peter lies sich Zeit beim einpacken seiner Schulsachen. Eilig hatte er es nicht. Das Läuten war für ihn das Zeichen zum Beginn von der Prügelei, die ihm jetzt bevorstand.
„Peter, ich möchte jetzt die Klasse abschließen“, sagte seine Lehrerin freundlich.
Peter nickte und stopfte seinen Hefter in den Schulranzen.
„Fertig?“
Peter nickte noch mal und schulterte seinen Ranzen. Er schloss die Augen, atmete tief durch und ging aus der Klasse. Er öffnete die Augen wieder und sah sich um. Vor der Klasse standen sie nicht.
Er hörte hinter sich das Klimpern von Schlüsseln und eine freundliche Stimme die sagte: „Tschüss Peter, bis morgen“, doch im Grunde hörte er sie nicht.
Peter ging den Flur entlang. Am Ende des Flures sah er sich um. Hier waren sie auch nicht.
Mit pochenden Herzen schlurfte er zum Ausgang. Auch hier waren sie nicht.
Er atmete tief durch. Vielleicht hatten sie ihn dieses Mal vergessen, vielleicht…
Er flitzte an den Toiletten vorbei, dem Sportplatz, an Bäumen, Büschen, jedes Mal befürchtete er, die Jungs würden aus ihrem Versteck springen und ihr Geld verlangen…
„Hey Peter!“ Peter blieb erschrocken stehen und wirbelte herum. Da waren sie! Sie alle standen neben der Rutsche.
„Hast du uns schon vergessen?“
„Na-natürlich nicht“ stotterte er, „a-a-aber….“
„Kohle her!“, sagte der größte und kräftigste von ihnen. Peter kannte ihn. Das war Kai.
„Genau!“, rief Bernd.
„Wird’s bald?“, rief Lars.
Die Jungs waren näher gekommen. Peter kramte nervös in seinen Taschen nach dem Geld.
„Hie-hier!“ Mit zitternder Hand gab er Kai das Geld.
Bernd und Lars beugten sich über Kais Hand und sahen dann wutentbrannt Peter an, der schluckte.
„Da fehlt was!“, schrie Bernd und ballte die Fäuste.
„Ich weiß!“, heulte Peter, „Ich weiß! Bitte…“
„Weißt du, was fünf Euro sind?“ Lars hatte Peter an den Schultern gepackt und geschüttelt.
„J-ja. Aber…“
„Was ist mit den Rest eins vierundsiebzig?“, rief Kai.
„Ha-hab ich nicht…“
Die Jungs lachten.
„Um so mehr Spaß für uns!“, rief Kai.
Lars hielt Peter von hinten fest und Bernd und Kai knackten mit ihren Knöcheln. Peter schloss die Augen und bereitete sich auf den Schmerz vor, der in wenigen Sekunden kommen würde. Er hörte Kai lachen und dann einen heftigen Schmerz in der Magengegend. Er spürte, wie Lars in los lies und er nach Luft japsend zu Boden sackte. Er spürte drei paar Fäuste, die auf ihn einschlugen, drei paar Füße, die ihn traten. Er hörte das fiese Lachen der Jungs, hörte sein eigenes Schreien…Und er schmeckte das Blut, welches aus seinem Mud strömte.
Als einer der Jungen besonders heftig auf seinen Arm trat, hörte er unheimliches Knacken und das Grölen der Jungen. Peter öffnete die Augen und besah sich seinen Arm. Er lag in einem merkwürdigen Winkel auf dem harten Betonboden. Er war gebrochen.
„Hier, Frau Schmid, das sind sie!“ Das war diesmal keine Jungenstimme, sondern die hohe, piepsige stimme eines Mädchens.
Peter wurde ohnmächtig.
Peter wachte auf und fand sich in einem makellos weißen Raum wieder. Sein Arm lag in Gips. Langsam drehte er den Kopf zur Seite. Neben ihm saß seine Mutter und weinte leise.
„Mutter? Wo bin ich, und warum weinst du?“
„Du bist im Krankenhaus“, flüsterte sie.
Sie schnäuzte in ein Taschentuch.
„Warum hast du das nicht gesagt?“
„Was gesagt?“, fragte Peter mit schwerer stimme. Er war völlig erschöpft.
„Das mit den Jungs aus der achten. Die, die dich krankenhausreif geschlagen haben. Die mit dem Geld.“
„Woher weißt du das?!“, schrie Peter. Er spürte einen heftigen Kloß im Hals. Die Jungs würden ihn umbringen!
„Keine Sorge, die Polizei kümmert sich um sie. Sie werden dir nichts mehr tun“, sagte seine Mutter ruhig.
„Aber die haben gesagt, wenn das jemand erfährt, dann…“
„Ich weiß, ich weiß. Peter, es ist vorbei.“
„Vorbei?“
„Vorbei.“
„Aber woher weißt du das mit den Jungs?“
„Ein Mädchen aus deiner Klasse hat es die ganze Zeit gewusst, aber sich erst heute getraut, es Frau Schmid zu sagen. Sie, und vor allem ich und Papa, verstehen jetzt, warum du nicht zur Schule gegangen bist.“
Peter besah sich seinen Gipsarm, seine blauen Flecken an Armen und Beinen und wischte sich über den noch blutverschmierten Mund.
Hätte er früher etwas gesagt, wäre er jetzt nicht im Krankenhaus.