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- 07.01.2018
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Gelber Papierdrachen
Barfuß laufe ich zur Tür, klopfe gegen das Holz.
»Mo? Bist du da?«
Stille.
Ich schließe die Augen. Weiße Blitze zucken in der Dunkelheit. Ich kehre zum Schreibtisch zurück und mustere das Papier, die winzigen schwarzen Buchstaben.
Langsam kann ich sie kaum noch lesen. Die Reste von Tageslicht, die durch die Fensterritzen fallen, reichen nicht aus, um weiterzuschreiben. Wieder blicke ich auf die Uhr. Der Sekundenzeiger kriecht im Kreis. Immer, wenn er auf der Zwölf landet, hält er kurz inne. Wie eine Bahnhofsuhr – sagt Mo. Um sieben wird die Zeitschaltung klicken, die Lampe einschalten. Noch mehr als zehn Stunden.
Ich lasse mich auf den Stuhl sinken. An der Tischplatte ist der Anspitzer festgeschraubt, eine Maschine mit Kurbel, mein treuster Freund. Ich stecke den abgebrochenen Bleistift in den Spitzer. Nach ein paar Umdrehungen ist die Mine wieder pieksig. Vor einigen Jahren habe ich einen frisch angespitzten Bleistift an meiner Handfläche getestet: Man sieht immer noch Spuren von Grafit unter der Haut.
Das Klicken des Schlüssels im Türschloss lässt mich zusammenfahren.
Mo erscheint in der Tür, lächelt. Er trägt ein Tablett.
»Hallo, meine Blume«, sagt er. »Tut mir leid, dass es so spät geworden ist.«
Ich erhebe mich, stelle mich zwischen ihn und den Schreibtisch. »Hallo, Mo.«
Er blickt an mir vorbei auf die Zettel, auf den dicken Bleistiftstrich. Ich lecke die Mine beim Schreiben immer an. Mo sagt, das bringe nichts; ich finde, der Strich wird dadurch dunkler, grimmiger. An einer Stelle habe ich so fest aufgedrückt, dass ich ein Loch ins Papier gerissen habe.
»Was schreibst du?«, fragt er.
»Ich schreibe über eine Frau«, sage ich. »Lena.«
»Kein besonders einfallsreicher Name.«
Zittrig hole ich Luft. »Lena wünscht sich, beim Aufwachen jemandem zuzulächeln. Sie steht aber nur auf, geht zur Arbeit, sitzt rum. Neben ihrer Tür wartet eine gepackte Reisetasche.«
Er seufzt. »Du kannst dir den Namen doch aussuchen.«
»Ich schreibe nur, was wahr ist.«
Er lacht, stützt das Tablett auf der Hüfte ab, streicht mit der freigewordenen Hand über mein Haar, zieht daran. »Das ist süß«, sagt er. »Aber nerv mich nicht damit.«
Wir setzen uns an den kleinen Esstisch vor dem Fenster. Licht fällt durch die Ritzen zwischen den Brettern, die Mo davor genagelt hat, zeichnet Streifen auf den kalten Boden. Ich stelle mir oft vor, was dahinter sein mag: ein blühender Garten, eine Asphaltwüste, das Paradies, die Sahara. Eine von Trockenheit braungefleckte Wiese und am Himmel ein gelber Punkt, ein Drachen, zart und frei.
»Hast du ein Gedicht für mich?«, fragt Mo.
»Was willst du hören?«
»Such du aus.«
»Okay«, sage ich.
»Sehnsucht gab mir ihr weites Kleid,
Seine Naht ist lang wie die Ewigkeit.
Streicht die Sehnsucht um das Haus,
Trocknen die plaudernden Brunnen aus;
Die Tage kommen wie Tiere daher,
Du rufst ihren Namen, sie atmen nur schwer;
Du suchst dich im Spiegel, der Spiegel ist leer,
Hörst nur der Sehnsucht Schritt,
Du selbst bist nicht mehr.
Dauthendey«, sage ich.
»Schön«, sagt Mo.
Wir essen. Spagetti in Öl und Knoblauch.
»Du bist so still in letzter Zeit«, sagt er.
Ich fahre mit dem Finger über meinen Teller, lecke das Öl auf. »Bringst du wieder Kerzen mit?«
»Kann ich machen.« Er wischt sich über den Mund. »Ich muss in einer halben Stunde gehen. Komm ins Bett.«
Wir legen uns hin. Ich schließe die Augen, drücke die Finger in Mos Schultern, in die weichen Stellen zwischen den Knochen.
Nun hält sie die Handtasche auf ihrem Schoß umklammert und schwitzt, atmet flach, um das Parfüm nicht riechen zu müssen. Sie studiert die Speisekarte. Zumindest schlägt sie sie auf und blickt hinein. Doch die Zeichen auf dem blassgelben Papier ergeben keinen Sinn.
Als er an ihren Tisch tritt, reißt sie den Kopf hoch, Elektroschocks jagen von ihren Fingerspitzen hinauf in die Ellenbogen.
»Möchten Sie schon etwas trinken?«, fragt er.
Ihre Blicke begegnen sich. Sein Lächeln entblößt weiße Zähne – Raubtierzähne.
»Hi«, sagt sie.
»Hi.« Er blinzelt. »Ach, so ein Zufall.«
»Na ja.«
»Wie geht es dir?«, fragt er.
»Ich nehme ein Wasser. Und ein Eis.« Um ihr Gemüt zu kühlen, die wirbelnden Gedanken unter Kontrolle zu bekommen. Im Restaurant ist es viel zu heiß, die Luft schwer vom Geruch nach Kerzenwachs.
»Was für ein Eis?«, fragt er.
»Egal«, sagt sie, stellt die Speisekarte zurück in den Kartenhalter.
»Okay.« Er macht sich eine Notiz. Dann lässt er sie allein mit dem Kribbeln in den Fingerspitzen.
Sie sitzt auf der Kante des Stuhls, ihr Blick fährt durch den Raum. Das goldene Kerzenlicht erhellt die Gesichter der anderen Restaurantgäste, Menschen beim Abendessen: Pärchen, Familien. Sie ist die einzige, die allein an einem Tisch sitzt. Nebenan lacht eine Frau, beugt sich vor, während ihr Begleiter mit leiser Stimme spricht und die Hände mit Nachdruck im Rhythmus der Wörter bewegt.
An jenem Abend vor acht Monaten gestikulierte Lenas Begleiter auf die gleiche Weise, Raubtierlächeln hinter hochgezogenen Lippen. Ob ihre Augen ebenso leuchteten, bevor er über den Tisch griff, an dem roten Seidenschal zupfte?
Nach einer Weile kehrt er zurück, stellt ein Glas Wasser mit einer Zitronenscheibe auf den Tisch.
»Danke«, sagt sie, hält ihn mit ihren Blicken fest. »Mo.« Sie rollt die Silbe auf der Zunge wie damals. Mit dem Geschmack von Rotwein im Mund fühlte er sich magischer an.
»Bitte, Lena.« Er stößt ein kurzes Lachen aus. »Noch so ein Zufall.«
»Was?«, fragt sie.
»Sorry, aber ich muss noch …« Er deutete vage hinter sich.
»Schade.«
Er verschwindet hinter der Bar, durchquert eine Schwingtür und ist nicht mehr zu sehen.
Ihre Kehle ist so trocken, dass sie das Glas in einem Zug halb austrinkt. Das Wasser schmeckt fantastisch, aufregend.
Am Nachbartisch lacht die Frau. Ihr Begleiter beugt sich über den Tisch, legt eine Hand auf die ihre. Den Seidenschal warf sie einen Tag später in den Altkleidercontainer. Ein Erbstück, rot und leicht. Für immer beschwert.
Als er zurückkehrt und einen Eisbecher mit Früchten serviert, sagt er: »Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns wiedersehen.«
»Man sieht sich immer zweimal im Leben.« Sie greift nach dem Löffel, sticht ins Eis. Das Metall ist kalt.
»Das sagt man so.« Er beugt sich zu ihr, lehnt sich an den Tisch. Sie spürt immer noch die Hitze seiner Haut. »Ich habe um eins Feierabend«, sagt er.
»Cool.« Ihre Stimme ist zu leise. Wenn sie sich nicht konzentrierte, würde sie hyperventilieren.
Er hört sie trotzdem. »Guten Appetit!«, sagt er, richtet sich auf.
»Danke.« Sie sticht den Löffel ins Eis, blickt ihm nach. Er lächelt, während er den Nebentisch abräumt, von dem die Frau mit den leuchtenden Augen aufgestanden und mit ihrem Begleiter in der Nacht verschwunden ist.
Ich nehme mir einen Augenblick, erlaube mir, den Bleistift abzusetzen, den Rücken durchzustrecken. Ich stehe auf, wandere ins Badezimmer, klatsche mir kaltes Wasser ins Gesicht.
Mo hat Sandwiches dagelassen. Sie stehen unangerührt an der Kante des Schreibtisches. Ich ziehe die Folie ab, esse eines. Es schmeckt nach nichts, trocknet meinen Mund aus, trotzdem verschlinge ich es.
Ich räume die vollgeschriebenen Blätter vom Tisch in Mos Reisetasche. Zu den anderen Zetteln, Jahren von Notizen. Zu den Kleidungsstücken, sorgfältig aufgerollt. Zu meiner Zahnbürste und Haarbürste.
Ich stehe auf, stelle die Tasche neben die Tür, ehe ich mich wieder an den Schreibtisch setze, mich über das Blatt beuge und den Bleistift zur Hand nehme. Ich lecke die Mine an.
Mo erscheint aus einer Seitengasse. Er schiebt ein Fahrrad. »Hey«, sagt er. »Schön, dass du gewartet hast. Gehen wir zu dir?«
»Nein.« Sie beißt die Zähne aufeinander, bevor sie einen Schritt in seine Richtung macht. »Dieses Mal gehen wir zu dir.«
Seine Lippen kräuseln sich. »Das geht nicht.«
Sie macht einen weiteren Schritt, steht so nah vor ihm, dass sie die Wärme seines Körpers spürt. Er ist einer der wenigen Menschen, die größer sind als sie. »Das geht.«
Er lacht, weicht nicht zurück. »Was soll das? War doch gut letztes Mal. Bei dir.«
Sie greift in die Handtasche und schließt die Finger um den glatten Griff der Waffe, presst ihm den Lauf gegen die Rippen. Seine Augen weiten sich.
»Zu dir«, sagt sie.
»Was …?«
»Sei still! Ich will deine Stimme nicht hören. Geh los! Und mach keinen Scheiß!« Sie atmet ein, die Nachtluft brennt in ihren Lungen. »Sonst töte ich dich sofort.«
Er setzt sich in Bewegung. Sie bleibt so dicht hinter ihm, dass sie mit dem Körper die Waffe abschirmen kann.
Schmerz wallt durch ihren Körper. Die Knochen ächzen bei jeder Bewegung, die Muskeln protestieren gegen jeden Schritt. Die Oberschenkel sind wund, auf der Zunge schmeckt sie Blut. Wie an dem Morgen, an dem sie ohne ihn aufgewachte. Ohne die Naivität, die Unschuld, die Jugend. Die Seide um den Bettpfosten geknotet.
Sie muss kämpfen, um nicht zu weinen, sich auf den Bürgersteig zu legen und die Augen zu schließen. Das wäre einfach. Sie muss kämpfen, um den Kopf oben zu behalten, die Waffe festzuhalten. Immer den nächsten Schritt tun.
Der Weg ist endlos. Das Haus, zu dem Mo endlich das Fahrrad hinaufschiebt, steht einsam in einem verwilderten Garten, die Fenster dunkel, einige vernagelt. Die Dachziegel von Moos bewachsen, der Gartenweg rissig.
Mo lehnt sein Fahrrad neben die Haustür, kramt die Schlüssel hervor. Sie zittert, beobachtet jede seiner Bewegungen. Inzwischen schwitzt sie aus allen Poren und hofft, dass er den Glanz auf ihrem Gesicht nicht sähe.
Im Haus ist es kühl. Hinter dem engen, vollgestellten Flur ist die Küche, schmutziges Geschirr stapelt sich in der Spüle. Mo steht mit hängenden Schultern auf den ockerfarbenen Fliesen, blickt in den Lauf der Pistole.
»Was willst du? «, fragt er.
Sie stellt sich breitbeinig hin und spannt den Finger am Abzug, die Waffe auf seinen Schädel gerichtet. Ruhig atmen. Ruhig atmen, zielen, atmen. »Es dir heimzahlen«, sagt sie. »Hast du auch Angst?«
»Warte.« Er hebt die Hände. »Das kannst du nicht machen. Es gibt jemanden, um den ich mich kümmern muss.«
»Sei still.« Sogar ihre Finger sind nass vom Schweiß, glitschig am Abzug.
Er macht einen Schritt zur Seite, wendet sich dann ab. Dreht den Kopf weg und stürmt durch eine Tür zu seiner Linken.
»Hey!« Hitze schlägt über ihr zusammen wie eine Welle. Sie drückt ab, das Krachen erschüttert ihr Trommelfell, der Türrahmen splittert. »Hey!« Sie rennt durch die Tür in die Dunkelheit, schlägt in dem engen Flur mit dem Ellenbogen gegen eine Wand und stürzt beinahe. Am Ende des Flurs dringt goldenes Licht unter einer Tür hindurch.
»Huang!« Sie hört Mos Schluchzen, hört das Geräusch eines Schlüssels in einem Türschloss. »Huang, pass auf!«
Sie drückt noch einmal ab, der Schuss hallt durch den Flur, und Mo schreit auf, angenehm schrill in ihren Ohren. Sie stürmt ihm nach, die Tür wird geöffnet. Sie sieht eine Silhouette vor dem Kerzenlicht, die Waffe bebt in ihrer Hand, doch sie verfehlt ihn wieder.
Sie taumelt durch die Tür in das Zimmer, spärlich eingerichtet – Bett, Schrank, Schreibtisch, Regal, Mikrowelle – das Fenster vernagelt, eine Frau, die von einem Schreibtisch aufgesprungen ist. Ihr Haar gelb wie eine Butterblume, ihre Haut dünn wie Papier.
Mo klammert sich an sie wie ein Kind an die Mutter, Blut läuft seinen Arm hinab.
Lena starrt die Frau an, ein Kreiseln in der Magengrube. Der Boden scheint näherzukommen, dabei steht sie immer noch aufrecht. Sie kennt diese Gestalt, alles an ihr ist vertraut, obwohl sie sie noch nie gesehen hat. Ein Wiedersehen mit jemandem, der ein Teil ihres eigenen Selbst ist, der Blick in ein Gesicht, das sie besser kennt als ihr eigenes.
»Du kannst mich nicht töten«, sagt Mo, hält die Hände der Frau umklammert.
Sie blickt Lena an, dabei blinzelt sie nicht einmal.
»Ohne mich wird Huang sterben.«
»Lena?«, sagt die Frau, ihre Stimme flüchtig wie eine Brise.
Lena lässt die Waffe sinken, blickt in die hellen Augen. Der Finger am Abzug lockert sich.
Mo springt auf. Lautlos stürzt er sich auf sie. Sie reißt die Pistole hoch, doch er schlägt gegen sie, rammt sie zu Boden. Die Waffe entgleitet ihren schwitzigen Fingern. Mos Faust trifft sie im Gesicht – sie sieht das Universum, eine sternengesprenkelte Schwärze. Knurrend krallt sie sich in seine Schultern, drückt die Finger in die weichen Stellen zwischen seinen Knochen.
Sie wuchtet ihren Oberkörper hoch, schlägt mit der Stirn gegen seinen Kiefer. Ihr Blut verwandelt sich in Lava, verbrennt ihren Körper von innen heraus. Er legt die Hände um ihre Kehle und drückt zu, sein Lächeln purpurrot.
Sie hält den Atem an, schlingt die Beine um seine Hüften und wirft sich herum. Sein Daumen drückt gegen ihren Kehlkopf, doch sie ist jetzt über ihm. Sie krallt die Finger um seine Hand, kämpft gegen den Druck.
»Lena.« Ein Flüstern, eine Brise. Die Waffe wird in ihre Hand gedrückt.
Mos rotes Lächeln erlischt.
Die Arme legen sich von hinten um meine Schultern, ein Kuss auf den Hals.
Ich blicke vom Papier hoch, die Buchstaben voller Grimm, sehe Mos Gesicht im Kerzenlicht.
»Du sollst doch nicht schreiben bei dem Licht«, sagt er.
»Ich bin jetzt fertig. Wir können ins Bett gehen.«
»Die Geschichte über Lena?«, fragt er.
Mein Blick wandert zu der Tasche neben der Tür. »Ja.«
»Darf ich sie lesen?«
Das Lächeln wärmt mein Gesicht wie lang vermisste Sonnenstrahlen. »Es ist eine wahre Geschichte.«
»Das klingt langweilig«, sagt er.
Ich hole tief Luft.
»Was du erschaffst und was du bist,
Bewahre ich als der Chronist:
Buchstabe, tot, unwandelbar,
Wird alles, was einst Leben war.
Willst du zu mir nun streben,
Es wird ein Unheil geben!
Hier endet, was durch dich beginnt.
Du wirst nie alt sein, Kaiserkind.
Ich Alter war nie jung wie du.
Was du erregst, bring ich zur Ruh.
Dem Leben ist verboten
Sich selbst zu sehen im Toten.«
»Was soll das?«, fragt er.
»Noch ein Gedicht. Michael Ende.«
Bald, Liebste, bald.
- Quellenangaben
- "Sehnsucht gab mir ihr weites Kleid" von Max Dauthendey
"Die unendliche Geschichte" von Michael Ende (1979)