Gelassenheit
Gelassenheit, Mai, 2002, CaenNormandieFrankreich.
Ausnahmsweise regnete es einmal nicht. Die einzigen, die sich glücklich über den ständigen Wechsel zwischen strahlendem Sonnenschein und kräftigen Regenschauern schätzten, waren in der Normandie die Bauern.
Auf dem Vorplatz des Institutes sah man vereinzelt noch ein paar Grüppchen junger Leute.
Katharina machte sich auf den Weg zum Phönix, einem futuristisch anmutenden Gebilde aus Stahl, offizielles Wahrzeichen der Universität Caen. Das offizielle der Stadt war die Schlossanlage, die auf Wilhelm den Eroberer zurückgehtl.
Katharina studierte in einer Stadt, die vom Krieg heimgesucht worden war, wie wahrscheinlich wenige in Europa. Überall sah man klägliche Übereste des Mittelalters, einer Zeit, da sich die englische und die französische Krone um diese Region stritten. Und an der Küste gibt es Streifen, wo man noch heute die Bombeneinschläge der Alliierten sehen kann und die Bunker der Deutschen besichtigen. Die Deutschen, die auch dafür verantwortlich sind, das in der Stadt soviel zerstört worden war. Doch bedeutete Zerstörung und Tod nicht auch oft genug Neuanfang? Sah man nicht überall die Zeichen des beginnenden 21.Jahrhunderts? Die letzte Ausgabe der Stadt war eine eingleisige Tramway, die sich lautlos durch die Stadt schlängelte. Sie hatte sie ein paar mal Probe fahren sehen, doch wenn sie so richtig zum Einsatz kam, würde sie schon nicht mehr hier sein. Dennoch, die Einwohnerschaft sträubte sich gegen Änderungen und Neueinführungen, sie hing an der Vergangenheit.
Katharina winkte Allessandro, ihrem italienischen Bekannten, zu. Ihr schwarzer Ledermantel wehte im Wind , als sie auf ihn zu eilte. Sie hatten kurz vor dem Unterricht eine ihr etwas unangenehme Unterhaltung unterbrechen müssen, die er jetzt fortzuführen gedachte.
„Weißt du“, hatte er zu ihr gesagt, „ich bewundere die deutschen Frauen.“ Und wie zur Erklärung für sich selbst, leise: „Ich begreife dich jetzt einmal stellvertretend für deutsche Frauen.“ Lauter fuhr er fort: „Du regst dich nie auf, du wirkst immer so gelassen und ich möchte wetten, dass in einer tatsächliche Krisensituation du die Nerven behieltest und dich nicht gehen ließest und nicht zu den Waffen rufen würdest und nicht nach Blut und Rache schreien würdest. Du solltest mal sehen, wie unsere Frauen auf einen losgehen, wenn man sich mal um ein paar Minuten verspätet, oder mal jemand anderen anlächelst, furchtbar.“
Sie unterhielten sich auf französisch. Weder sprach er ein Wort Deutsch, noch sie eines Italienisch.
Katharina begann das Gespräch auf die Wahlen zu lenken. Sie fragte Alessandro:
„Warst du geschockt, das ER so viele Prozente bekommen hat?
„Naja, die Linke hat sich gegenseitig zerfleischt und die Rechte konnte den Jetzigen nicht mehr ertragen. In gewisser Weise war das vorauszusehen, ja.“
„Aber im nächsten Wahlgang, da wird ja wieder alles gut. Große Auswahl bleibt dem linken Wählerstamm zwischen Rechts und Ganz Rechts zwar nicht, ... .“
Sie durchquerten gerade den Torbogen um durch das Schloss die Stadt zu erreichen, als ein paar Jugendliche an ihnen vorbeiliefen. Sei es wegen ihres Akzentes oder ihres Ledermantels, einer dreht sich zu ihnen zurück und schrie:
„Eil Itler!“
Geistesgegenwärtig drehte sich Alessandro herum und gab zurück:
„Conard!“
Nach einem Moment schweigendem Nebeneinanderherlaufen fragte Katharina seelenruhig:
„Wie sagt man eigentlich Arschloch auf Italienisch!“