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Gelöschte Erinnerungen
Der Wiener Walzer war leider viel zu schnell zu Ende und alle Paare blieben noch kurz auf dem Parkett, um die Ansprache des Schülervertreters zu verfolgen, der nun das Mikro in die Hand nahm.
„Ich hoffe, Sie und ihr hattet bis jetzt sehr viel Spaß.“
Lauter Jubel brach aus und es wurde geklatscht.
„Der offizielle Teil der Veranstaltung ist jetzt leider schon vorbei. Wer Lust hat darf aber gerne noch bleiben, es sich mit ein paar Coctails bequem machen oder die Tanzfläche rocken. Dankeschön!“
Wieder brach Jubel aus und ein modernes Lied klang aus den Lautsprechern. Ich beobachtete, wie sich einige Leute, darunter auch ein paar Schüler, in Richtung der Garderobe aufmachten. Überall verabschiedeten sich Lehrer von ihren Schützlingen und ich fühlte mich plötzlich wie in einem Film der mir meine Zukunft zeigte. In einem Jahr würden wir hier stehen, unser Abiturzeugnis in den Händen halten und uns von Lehrern verabschieden. Irgendwie freute ich mich auf den Tag, wenn man endlich die Schule verlassen kann, aber gleichzeitig war da ach ein Fünkchen Trauer. Wir würden alle in verschieden Richtungen ziehen, auf unterschiedliche Unis gehen und uns höchstens am Wochenende besuchen können. Mir fehlten meine Freunde jetzt schon.
Ich umschlang Markus Oberkörper mit beiden Armen und kuschelte mich an seine Brust. Am liebsten hätte ich ihn nie wieder los gelassen, doch wir standen immer noch auf der Tanzfläche und waren offensichtlich einigen im Weg.
„Hey! Hier wird getanzt! Kuscheln könnt ihr wo anders!“, rief eine unfreundliche Stimme. Damit wir keinen Ärger verursachten verließen wir den Parkettboden und begaben uns zu den anderen, die am Rand standen.
Es war bereits kurz nach 3 Uhr nachts, als der DJ das letzte Lied ankündigte. Immer noch war der Saal gut gefüllt und es herrschte eine super Stimmung. Jetzt wurden allerdings Proteste laut.
„Schon gut, Leute!“, kam die Stimme des DJ aus den Lautsprechern, „Ich schiebe noch einen Song vor. Aber dann ich ist Schluss! Jede gute Party muss irgendwann mal vorbei sein!“
Nun brach lauter Jubel aus, der allerdings schnell wieder verstummte, als die ersten Akkorde von Shawn Mendes' Gitarre im Saal erklangen.
Ich hatte diese Lied lange nicht mehr gehört. Es war im letzten Jahr einige Monate lang in den Charts gewesen, doch nun wurde es nur noch selten gespielt. Und doch war da irgend etwas, was mich inne halten ließ. Ich blickte in die Runde und bemerkte die entsetzten Blicke meiner Freunde.
„Scheiße!“, entfuhr es Jessica.
„Verdammt! Wer macht hier die Musik an?“
Markus wartete die Antwort gar nicht erst ab, sondern drehte auf dem Absatz um Richtung Mischpult.
Marlene nahm mich mit besorgtem Blick am Arm. Ich wusste nicht was hier vor sich ging und wollte fragen, was das alles sollte, was los war, als die erste Strophe einsetzte.
Plötzlich wurde es dunkel um mich herum. Ich wollte nach Marlenes Hand greifen, die gerade eben noch meinen linken Arm gehalten hatte, aber sie war verschwunden. Ich konnte weder David noch Jessica noch Philipp in der Dunkelheit erkennen.
Doch! Jetzt konnte ich Philipp sehen. Er sah mich mit entsetztem Blick an. Nun ließ er meinen Kragen los, den er bis jetzt festgehalten haben musste und machte ein paar Schritte zurück. Ich spürte den Schmerz im Rücken und starrte ihn fassungslos an. Dann drehte er sich um und rannte davon.
Geistesgegenwärtig fasste ich mir an den schmerzenden Rücken. Der Fluss rauschte unter mir hindurch und ich hörte, wie die Musik auf der Party lauter gedreht wurde. Shawn Mendes, dachte ich. Ich konnte fast jedes Lied von ihm auswendig und war ein riesiger Fan von seiner Musik. Und irgendwie tröstete es mich, das genau in diesem Moment eines seiner Lieder gespielt wurde. In dieser Nacht, wo wirklich alles schief zu laufen schien.
Ich drehte mich zum Brückengeländer um, umfasste es mit beiden Händen und lauschte den bekannten Klängen der Gitarre, die leise bis zu mir herauf hallten. Ich atmete mit vollen Zügen die kühle Sommernachtluft ein und schloss die Augen. Für einen Moment konnte ich alles vergessen. Den Kuss mit Tobias, die Knutscherei von David und Philipp, den Streit mit Marlene und die Auseinandersetzung mit Philipp, das alles war in diesem Augenblick nicht wichtig.
Ein fester Griff um meinen Oberarm riss mich brutal in die Gegenwart zurück. Ich zuckte zusammen, fuhr herum und blickte genau in Tobias' Gesicht. Ich wollte seine Hand abschütteln, doch er hielt mich mit festem Griff weiter fest. Irritiert schaute ich ihn an.
„Was sollte das vorhin?“, fragte er.
Ich blickte zu Boden um ihm nicht länger in die Augen sehen zu müssen. Seine Frage war berechtigt, schließlich war ich mit Markus zusammen. Aber die Wahrheit war, dass ich es selbst nicht wusste.
„Nichts“, antwortete ich.
„Aha“, machte er nur, doch sein Griff lockerte sich nicht.
„Tobi, es tut mir leid. Ich weiß nicht, warum ich das gemacht habe. Das darf niemand erfahren, okay?“
„Wieso nicht. Es ist doch passiert.“
Er machte ein Gesicht, als wäre es ihm gleichgültig.
„Ich habe einen Freund!“, sagte ich eindringlich und wurde wütend, da es ihm egal zu sein schien, was mit meiner Beziehungen passieren würde.
„Ja und so weit ich weiß, hast du mich geküsst und nicht umgekehrt.“
„Das … das ist jetzt nicht dein Ernst. Du willst es wirklich allen erzählen?“
Ich war fassungslos.
„Markus ist mein Freund. Ich kann ihm nicht verschweigen, dass seine Freundin mich geküsst hat.“
„Und wenn er es erfährt, wird er dir das auch nie verzeihen. Also lass es einfach.“
„Du kannst so etwas vielleicht für dich behalten, wer weiß, wie oft du schon jemand anderen geküsst hast ohne das dein Freund es wusste, aber ich kann es nicht.“
Es klatsche und er griff sich an die Wange. Ich hatte ihm mit voller Wucht eine Ohrfeige verpasst.
„Nenne mich nie wieder eine Schlampe! Ist das klar!“, sagte ich leise, aber mit fester, eindringlicher Stimme.
„Ich habe dich nie so genannt“, brachte er zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor. Seine Augen waren schwarz, wie ein endlos tiefes Loch und schimmerten im fahlen Licht, das das Lagerfeuer bis zu uns hinauf warf, bedrohlich.
„Du hast es gemeint!“ Ich blickte ihn mit zusammen gekniffenen Augen an.
„Dieser Kuss bleibt unter uns!“
„Auf keinen Fall. Ich lüge meine Freunde nicht an“, widersprach er und kehrte mir den Rüken zu, um zu gehen. Ich fasste ihn am Arm.
„Bitte, verrate nichts. Markus wird Schluss machen.“
Plötzlich klang meine Stimme weinerlich und ich ärgerte mich darüber.
„Vielleicht sollte er das tun.“
Er wollte sich los machen, doch ich hielt ihn fest.
„Johanna lass mich los“, sagte er beherrscht.
„Ich war betrunken. Es hatte nichts zu bedeuten. Ich kann nicht zulassen, dass Markus wegen so etwas Schluss macht. Bitte.“
„Lass mich los.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Lass mich jetzt los, verdammt!“
Er riss sich los und stieß mich nach hinten. Ich hörte den Fluss unter mir rauschen und zum dritten mal an diesem Abend krachte ich mit dem Rücken gegen das alte Brückengeländer. Ich schrie auf vor Schmerz und raste blind vor Wut auf Tobias los. Er durfte es nicht erzählen. Er durfte einfach nicht. Es hatte nichts bedeutet. Einfach nichts.
Ich bekam seinen Oberarm zu packen und zog daran. Ich wusste, dass ich gegen ihn keine Chance hatte, doch die Wut ließ mich hoffen. Das Adrenalin schoss durch meinen Körper und ich riss ihn mit voller Kraft herum. Er taumelte und stieß ebenfalls gegen das Geländer. Jetzt war er derjenige, der mit dem Oberkörper gefährlich weit über dem Geländer hing.
Er atmete schnell und versuchte vergeblich wieder Herr über die Situation zu werden.
„Jo, du bist total betrunken. Lass uns das in Ruhe klären.“
Seine Worte hörten sich an wie durch Watte. Blut rauschte durch meine Ohren und ich spürte die Wut durch meine Adern fließen. Meine Muskeln schmerzten vor Anspannung, doch ich spürte es kaum. Das Adrenalin war wie eine Staumauer, die alle Schmerzen abzuhalten schien. Mein Kopf war leer und gleichzeitig fühlte er sich an, als würde er jeden Moment zerspringen.
Alles war schief gegangen. Ich hatte mich nicht nur mit Marlene zerstritten sondern auch ein Geheimnis entdeckt, das mir den Zorn von Philipp auf den Hals hetzte und nun drohte auch noch meine Beziehung zu Markus zu zerplatzten. Und das nur, weil Tobias nicht seinen Mund halten wollte.
Ich musste ihn davon abbringen, schoss es mir unentwegt durch den Kopf. Er durfte diesen Kuss niemals jemandem verraten. Das würde alles kaputt machen.
Plötzlich merkte ich wie meine Kräfte nach ließen und die Wut der Verzweiflung Platzt machte. In diesem Moment riss sich Tobias los und da ich keinen Widerstand leitete, schleuderte mich herum. Ich merkte, wie die Geländestange unter meinem Rücken hindurch glitt und ich fiel.
„Joooooooooooooooo!“
Ich hörte Tobias entsetzten Schrei und sah seine Hand, die er nach mir ausgestreckt hatte. Doch es war zu spät. Ich fiel ins bodenlose. Und das donnernde Geräusch des Flusses war das letzte was ich hörte.
Dann spürte ich, die harte Wasseroberfläche, die sich aus dieser Höhe, wie eine meterdicke Eisschicht anfühlte. Das Wasser umschlang mich, wie riesige Tintenfischarme und zog mich in die Tiefe.