- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 10
Gejagt
Knack!
Ich schrecke auf. Hinter mir Rascheln. Trockene Zweige, die zerbrechen. Schritte.
Angestrengt starre ich in das undurchdringliche Dunkel. Sehe nichts. Höre nur diese Schritte, die näherkommen. Ich drücke mich tiefer in das feuchte Laub. Rieche modrige Fäulnis. Ich muss an den grinsenden Kürbiskopf denken, der nun halbverfault auf dem Kompost liegt. Die Kälte kommt, ich kann sie schon riechen.
Die Schritte kommen näher. Verharren.
Ich halte den Atem an. Hoffe, dass er mein Versteck nicht findet.
Tap, tap... Er geht wieder weg.
Ich krieche weiter vorwärts. Leise und angespannt.
Nun kann ich auch schon den leichten Lichtschein des Hauses sehen. Drinnen wird es warm sein. Sicher. Noch etwa 300 Meter.
Wieder ein Krachen. Diesmal links von mir. Ich beeile mich. Laufe geduckt weiter. Immer von einem Baumschatten zum nächsten. Das Licht kommt näher. Bald habe ich es geschafft. Bin außer Gefahr. Er ist schnell, aber ich bin schlauer als er. Durch falsche Fährten habe ich kostbare Zeit gewonnen. Noch 200 Meter.
Plötzlich fallen mich klebrige Fäden an und etwas läuft mir über die Wange. Ich schreie vor Schreck auf. Halte mir dann erschreckt die Hand vor den Mund. Horche.
Er hat mich gehört. Seine Schritte kommen zielstrebig auf mich zu.
Ich springe auf. Renne los, dem Lichtschein entgegen. Es raschelt und knackst, aber das ist nun egal. Egal auch, dass er mich nun sehen kann. Noch habe ich einen Vorsprung. Aber vor mir ist die Schlucht, die das Haus vom Nachbargrundstück trennt. Ob ich unversehrt darüber springen kann, weiß ich nicht. Aber es ist meine einzige Chance. Vielleicht hat er es gewusst und mich gezielt in diese Richtung getrieben.
Rennen. Keuchen. Ist es meins oder schon sein Atmen? Vor mir die schwarze Linie, die den Boden zerschneidet. Ich springe ab. Erkenne links von mir einen schemenhaften Schatten. Abgelenkt gerät mein Sprung zu kurz. Ich rutsche.
Meine Finger gleiten am nassen Gras ab. Meine Füße suchen vergebens Halt.
Unter mir kann ich das Glitzern des Wassers erkennen. Ich packe im letzten Moment eine Wurzel. Kralle mich fest. Ziehe mich hoch. Er ist nirgends zu sehen. Keuchend liege ich einen Augenblick da und schöpfe Luft. Noch 50 Meter. Nur noch 50 Meter. Ich kann schon in die Fenster sehen. Gelbes Licht flutet heraus. Verheißt Wärme und Geborgenheit.
Ich stemme mich hoch. Sammle meine Kräfte. Renne los. Noch 40 Meter.
Schräg von hinten sehe ich ihn. Er ist schon fast hinter mir. Sein Gesicht kann ich nicht erkennen. Doch seine blonden Haare reflektieren das Licht des Hauses. Er kommt näher. Seine Schritte bleiben in meinem Takt. Noch 30 Meter.
Den Stein, der mich schließlich zu Fall bringt sehe ich nicht. Ich komme hart am Boden auf. Beinahe zärtlich streift das nasse Gras mein Gesicht. Ich schmecke Erde.
Nun ist er über mir. Sein Gewicht drückt mich nieder und sein heißer Atem bläst mir in den Nacken.
Ich wehre mich, versuche, unter ihm hervorzukommen. Obwohl ich weiß, dass es sinnlos ist. Ich habe verloren.
Mein Bruder reicht mir die Hand, um mir beim Aufstehen behilflich zu sein.
“Ich hätte nie gedacht, dass du tatsächlich über den Graben springst!”
“Hm”, brumme ich stolz und sehe zu ihm auf. “Aber das nächste Mal bin ich Verfolger, ja?”