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Geisterfahrer
Endlos erstreckte sich die A 31 vor seiner Motorhaube. Tobias Hansen gähnte. Ihm war noch immer nicht klar, warum der Alte ihn zu diesem Kunden ans Ende der Welt schickte. Dreihundert Kilometer hin und dreihundert Kilometer zurück für eine Unterschrift, die man genauso gut per Mail bekommen konnte - oder seinetwegen per Post. Aber der Alte war ja hoffnungslos altmodisch. "Kundenbeziehungen wollen gepflegt werden", hatte er wieder mal gesagt. Als ob es auch nur die geringsten Aussichten gäbe, von Onnen & Sohn jemals einen richtig großen Auftrag zu bekommen! Na, wenn es dem Alten Freude machte - vielleicht würde es ja dazu beitragen, dass Tobias den Laden bald überschrieben bekäme; immerhin war der Alte inzwischen deutlich über siebzig. Tobias würde so einiges anders machen als sein Vater.
Er zuckte zusammen und lenkte den BMW zurück in die Spur. Jetzt wäre er über seinen Tagtraum fast eingeschlafen! Dass es auf dieser Autobahn aber auch so einsam war, da musste man ja wegdämmern. Der Mittwochvormittag galt ohnehin nicht gerade als Rush Hour, aber in dieser gottverlassenen Gegend war es wirklich ungewöhnlich ruhig. Den letzten LKW hatte Tobias vor mindestens einer Viertelstunde überholt. Jetzt, da er darüber nachdachte, schien das tatsächlich das letzte Fahrzeug außer seinem eigenen gewesen zu sein, das er gesehen hatte. Das war nun schon mehr als merkwürdig. Hatte er etwa verpasst, dass Ostfriesland evakuiert worden war? Er grinste. Vielleicht hatten sie die Gegend für einen symbolischen Euro an die Holländer verkauft. Mehr war wohl nicht zu holen gewesen ...
Wieder schrak Tobias hoch. Verdammt! Jetzt hätte es ihn wirklich fast von der Straße gerissen! Nicht nur, dass er abermals in den Sekundenschlaf abgeglitten war, nun hatte er auch noch Wahrnehmungsstörungen. Er hatte erst vor sich, dann überall um sich herum ein seltsames gelbliches Flimmern gesehen. Gleichzeitig war für einen Moment ein Kribbeln wie von einem schwachen elektrischen Strom über seinen ganzen Körper gefahren. Er brauchte dringend eine Pause, sonst würde er noch im Graben landen. Und so leer, wie diese Gegend war, würden sie ihn dann wahrscheinlich erst nach zwei Wochen finden.
"Raststätte Rheiderland" stand auf dem Schild. Tobias fragte sich kurz, ob es diese wohl schon länger gab und warum er sie nie zuvor wahrgenommen hatte. Aber er fuhr diese Strecke zu selten, um sich die Frage zu beantworten. Jedenfalls sah hier alles ziemlich neu aus, fast avantgardistisch. Da hatten sich anscheinend ein paar ehrgeizige junge Architekten ausgetobt. Amüsiert nahm Tobias zur Kenntnis, dass die Tankstelle über drei - nein, vier! - Ladestationen für Elektroautos verfügte. Hier war man seiner Zeit offenbar weit voraus, oder die Bauherren waren einfach nur ziemlich optimistisch gewesen. Oder war das hier so ein Testgebiet für neue "Mobilitätskonzepte"? Egal. Er ließ den BMW bis zur Gaststätte weiterrollen. Verdammt, hier war es fast ebenso einsam wie auf der Straße. Gerade mal drei Autos standen auf dem viel zu großen Parkplatz. Eines davon sah übrigens ziemlich futuristisch aus, Tobias erkannte nicht einmal die Marke. Also doch eine Testregion für E-Autos? Wie auch immer. Er stieg aus, schloss den Wagen ab und betrat das Gebäude.
Auch im Innern war alles hypermodern. Elektronische Werbedisplays, vollautomatische Getränke- und Essenausgaben, extravagantes Mobiliar. Tobias fühlte sich fast wie in einer anderen Zeit. Und auch hier drin war alles - menschenleer! Dass keine Gäste zu sehen waren, hatte Tobias fast erwartet, aber wo war das Personal? Oder war der Laden etwa gar nicht geöffnet? Aber dann hätte man ja wohl die Türen abgeschlossen? Außerdem war alles hell erleuchtet, die Elektrogeräte eingeschaltet. Und da es auf Mittag zuging, war es ja wohl auch nicht außerhalb der Geschäftszeiten. Eine Uhr über der Kasse zeigte "Di, 21.10. 11:26" und bestätigte damit sein Zeitgefühl. Dass das Ding bei aller Modernität den falschen Wochentag anzeigte, nahm er achselzuckend hin.
Je länger Tobias sich umsah, desto mehr beschlich ihn das Gefühl, dass dieser Ort mitten aus dem alltäglichen Treiben heraus verlassen worden war. Hier standen noch zwei halbvolle Tassen Kaffee auf einem Tisch - kalt, wie er feststellte. Dort hing noch eine Fleecejacke über dem Stuhl an der Kasse. Die Speisen in den Glaskästen sahen nicht ganz frisch aus, aber auch nicht verdorben; sie konnten höchstens einen oder zwei Tage alt sein.
Erst jetzt kam Tobias auf die Idee, sich bemerkbar zu machen. "Hallo? Ist hier irgendjemand?", rief er erst zaghaft, dann lauter. Keine Antwort, wie erwartet. Nachdem er seine Frage dreimal in steigender Lautstärke wiederholt hatte, wurde ihm bewusst, dass seine Stimme einen fast verzweifelten Klang besaß. Was zum Teufel war hier los? War er auf einmal ganz allein auf der Welt? Dann hatte er die Idee: Wenn hier wirklich etwas passiert war, dann musste es doch in den Nachrichten gekommen sein. Er würde einfach seine Frau anrufen. Oder seinen Vater. Oder die Polizei. Das Handy lag im Wagen. Tobias hastete durch die Tischreihen zurück zum Ausgang. Jetzt erst sah er die Flugblätter.
Sie lagen auf einigen der Tische, manche waren zu Boden gefallen. Er hatte sie wohl zuerst für Werbeflyer gehalten, aber jetzt sprang ihm die Überschrift ins Auge: "EVAKUIERUNG". Tobias griff nach einem der Zettel und las:
Es folgten genauere Anweisungen zum Ablauf der Räumung sowie eine Darstellung des betroffenen Gebiets auf einem Kartenausschnitt.
In Tobias' Kopf drehte sich alles. Atomare Geschosse? Krieg mit irgendwelchen libyschen Rebellen? Wieso hatte er davon noch nie etwas gehört? So ein Krieg kam doch nicht von heute auf morgen! Heute früh in den Radionachrichten war davon jedenfalls noch keine Rede gewesen. Und war er jetzt in Gefahr? Womöglich schon tödlich verstrahlt? Er versuchte, sich an die Symptome von Strahlenkrankheit zu erinnern. Haarausfall? Nasenbluten? Irgendwas mit der Haut? Er schien nichts davon zu haben. Er war nur verwirrt und etwas desorientiert, aber das war wohl eher der Schock. Er wusste nicht, ob er träumte oder wach war. Noch einmal las er den Evakuierungsbefehl, und diesmal sah er auch das Datum: "Montag, den 20. Oktober 2025".
2025? Einen Moment lang klammerte sich sein Gehirn an die Hoffnung, das sei ein simpler Schreibfehler, denn es war ja in Wirklichkeit 2015. Doch Tobias wusste schon, dass eine andere Erklärung - so irrsinnig sie auch unter normalen Umständen erschienen wäre - hier wesentlich mehr Sinn ergab. Die Abweichung im Wochentag; er machte sich nicht die Mühe nachzurechnen. Die futuristische Bauweise der Rastanlage. Das ungewöhnliche Elektroauto und die Ladestationen. Die gesamte Raststätte, die auf seiner letzten Reise in den Norden bestimmt noch nicht da war; dessen war er sich jetzt sicher. Und natürlich der Krieg, der nach seinem politischen Wissensstand vollkommen abwegig war. Nein, abgesehen von einer Geisteskrankheit seinerseits gab es nur eine Erklärung für all das: Er hatte - auf welche mysteriöse Weise auch immer - einen Sprung um genau zehn Jahre in die Zukunft gemacht.
Und damit war auch schon die zentrale Frage gestellt: Wie um alles in der Welt war dieser Zeitsprung geschehen? Heute früh war Tobias noch ganz normal zuhause losgefahren, hatte sich von Verena verabschiedet und seine Dienstreise angetreten - und zwar definitiv im Jahr 2015. Und genau dorthin wollte er auch wieder zurück: zu seiner Frau und den Kindern, zu seinem Job in der Firma seines Vaters, die er bald zu übernehmen hoffte, zu seinen Freunden, mit denen er donnerstags immer Squash spielte - kurz: zu seinem Leben. Und raus aus diesem verrückten, verlassenen, verstrahlten Kriegsgebiet der Zukunft!
Aber dafür musste er zuerst mal herausfinden, wie er hierhergekommen war. Tobias unterdrückte seine Panik und zwang sich, klar zu denken. Was war zwischen seiner Haustür und dieser Geisterraststätte passiert? Ab welchem Punkt auf seiner Reise war er nicht mehr in seiner Zeit gewesen? Im Ruhrgebiet war noch alles normal gewesen, da war er sicher. Die Straßen voller Autos und Menschen - da hätte er sicher gemerkt, wenn sich plötzlich etwas verändert hätte. Auch an der Tankstelle irgendwo im Emsland, an der er sich einen Kaffee gekauft und die Toilette aufgesucht hatte, waren ihm keine dieser Stromzapfsäulen aufgefallen, die zehn Jahre später offenbar sehr verbreitet waren. Nein, der Sprung musste irgendwo auf der letzten Etappe seiner Fahrt erfolgt sein, als die Autobahn so leer war und ihm Veränderungen etwa an den Autos nicht mehr auffallen konnten. Als er sowieso schon unaufmerksam und kurz vor dem Einschlafen war. Als er fast von der Straße abgekommen und mehrfach aus dem Sekundenschlaf hochgeschreckt war.
"Moment mal!", rief er und erschrak über den Widerhall seiner eigenen Stimme in der leeren Gaststätte. Dieses Flimmern und das Kribbeln, die ihn das eine Mal eingehüllt hatten. Was, wenn das keine Sinnestäuschungen aus Müdigkeit gewesen waren? Konnte es sein, dass ein Zeitsprung so aussah und sich so anfühlte? Woher sollte man das wissen ...? Tobias dachte noch eine Weile angestrengt nach, aber ihm fiel keine andere Gelegenheit ein, bei der sich sein Zeitsprung ereignet haben konnte. Es sei denn, dies wäre völlig unbemerkt geschehen, dann konnte es irgendwann und irgendwo gewesen sein. Aber das würde ihm nicht weiterhelfen. Dann also das Flimmern. Total spekulativ, natürlich, aber sein einziger Anhaltspunkt.
Tobias sprang in seinen BMW und verließ den Rastplatz. An der nächsten Abfahrt wechselte er auf die Gegenspur und fuhr den Weg zurück, den er gekommen war, Richtung Heimat. Er wunderte sich selbst, dass er sich immer noch an die Verkehrsregeln hielt, statt einfach mitten auf der Autobahn zu wenden und den Rückweg als Geisterfahrer zurückzulegen. Einen Unfall brauchte er dank der Evakuierung schließlich nicht zu fürchten. Na, wenigstens würde er auf die Tempolimits pfeifen. Falls er in eine Radarfalle geraten sollte, konnten sie ihm gerne in zehn Jahren einen saftigen Bußgeldbescheid schicken.
Als er glaubte, sich der Stelle zu nähern, an der das Flimmern aufgetreten war, ging er vom Gas. Die Erscheinung war nur schwach sichtbar gewesen, deshalb musste er jetzt sehr aufmerksam sein. Während er bei langsamer Fahrt angestrengt Ausschau hielt, kamen ihm Zweifel. Was, wenn er auf der falschen Fährte war? Wenn es das Flimmern doch nur in seiner Einbildung gegeben hatte? Oder wenn es zwar real war, aber nichts mit Zeitsprüngen zu tun hatte? Wenn es inzwischen verschwunden war? Wenn es ihn nicht in seine eigene Zeit zurückversetzte, sondern noch weiter in eine womöglich noch schlimmere Zukunft? Oder zurück in die Steinzeit? Es war wirklich zu absurd, die wildesten Szenen irgendwo zwischen Back to the Future, Star Trek und Jurassic Park spielten sich in seinem Kopf ab. Und wenn er tatsächlich in seine Zeit zurückkehrte, was würde er dann tun? Immerhin drohte offenbar ein Atomkrieg. Er müsste versuchen, diesen zu verhindern, aber wer sollte seine abenteuerliche Geschichte glauben? Er hätte wenigstens eine Tageszeitung oder so etwas mitnehmen sollen. Alles, was er vorweisen konnte, war ein zerknülltes Flugblatt in seiner Jackentasche, und das konnte ja nun jeder Spinner mit einem PC und einem Drucker in zehn Minuten zusammengeschustert haben. Zumindest würde er seine Familie retten. Sie sollten wohl am besten rechtzeitig auswandern. Aber wohin? Welche Teile der Welt waren noch vom Krieg betroffen, welche blieben verschont? Oh Mann, Verena würde ihn für verrückt erklären, und er könnte es ihr nicht verübeln.
Fast hätte er über diesen Gedanken sein Ziel verpasst. Er sah das gesuchte gelbliche Flimmern, als er schon fast daran vorbeigefahren war. Es schwebte direkt über dem Asphalt und erstreckte sich ein Stück weit in den Straßengraben, allerdings befand es sich auf der Gegenfahrbahn - also auf der Seite, auf der er auf dem Hinweg den Zeitsprung gemacht hatte. Anscheinend hatte sich das Phänomen nicht vom Fleck bewegt.
Tobias stellte den Wagen am Straßenrand ab, stieg über die Mittelleitplanke und besah sich die Erscheinung aus der Nähe. Sie war vielleicht fünf Meter hoch und fünfzehn Meter breit, doch ihre Ränder waren nicht klar auszumachen. Die Form schien unregelmäßig zu sein. Wenn Tobias durch das Phänomen hindurchschaute, sah er ganz normal die Straße und die Landschaft dahinter - aber in welcher Zeit, das konnte er nicht beurteilen. Als er das Flimmern umkreiste, stellte er fest, dass es überhaupt keine räumliche Tiefe hatte, sondern wie eine Art dünne Scheibe leicht schräg auf der Straßendecke stand. Außerdem war es von der Rückseite nicht zu sehen, so als ob das Portal nur von einer Seite her zu betreten war. Portal - ja, das war es. Ein Portal zwischen den Zeiten. Und die Öffnung war auf der Seite, auf der Tobias es wohl verlassen hatte. Wenigstens das ergab eine Art von Sinn in diesem Albtraum.
Tobias war unschlüssig. Was sollte er jetzt tun? In das Flimmern hineinlaufen und schauen, was passierte? Erst mal eine Hand hineinstecken? So oder so hatte er Angst, wie er sich zögernd eingestand. Wer kannte sich schon mit Zeitportalen aus? Er gab sich einen Ruck. Wenn schon, denn schon - was hatte er schließlich zu verlieren? Entweder dieses Ding brachte ihn nach Hause, oder es war sowieso alles egal. Er kehrte zu seinem Wagen zurück, wendete und fuhr - jetzt doch als Geisterfahrer, yeah! - wieder in Richtung der Raststätte, bis er eine Lücke in der Mittelleitplanke fand, die nach den letzten Baumaßnahmen noch nicht geschlossen worden war. Dort wechselte er auf die Gegenfahrbahn und fuhr zurück zum Zeitportal. Als er das Flimmern vor sich auftauchen sah, hätte er fast doch noch eine Vollbremsung gemacht, aber stattdessen trat er das Gaspedal durch, um seiner Angst keine Chance zu geben. Nun gab es kein Zurück mehr. Die Tachonadel des BMW überschritt gerade die Hundert, als das Flimmern Tobias und den Wagen einhüllte. Für einen Moment schloss er geblendet die Augen. Das elektrische Kribbeln fuhr wieder über seinen Körper. Als er die Augen öffnete, sah er den riesigen Schatten auf sich zukommen. Tobias riss den Mund auf, doch seinen Schrei hörte er bereits nicht mehr.
"Also noch mal von vorn", sagte der Polizist. "Waren sie irgendwie abgelenkt? Haben sie am Navi gespielt? Am Handy? Nebenbei den Playboy gelesen? Sie wären nicht der Erste, das können Sie mir glauben."
"Ich schwöre Ihnen, Herr Wachtmeister", beharrte Erik Sager, "ich habe höchstens mal in die Außenspiegel geschaut. Ich fahre jetzt seit über zwanzig Jahren LKW. Bestimmt eine Million Kilometer oder mehr, unfallfrei. So etwas ist mir noch nicht passiert, dieser Wagen kam wirklich aus dem Nichts - auf einmal war er da!"
"Also, Herr Sager, Sie werden verstehen, dass ich Ihnen das nur schwer glauben kann. Auf einer menschenleeren, schnurgeraden Autobahn sieht man ja wohl auch einen Geisterfahrer schon kilometerweit kommen. Sie müssten alle Zeit der Welt gehabt haben, rechts ranzufahren, anzuhalten oder wenigstens vom Gas zu gehen."
"Aber ...", setzte Sager an, doch der Polizist fuhr ungerührt fort: "Deshalb muss ich Sie bitten, zur Blutprobe mit aufs Revier zu kommen. Und danach können Sie sich auf eine eingehende Befragung gefasst machen. Vielleicht wäre es eine gute Idee, einen Anwalt anzurufen."
"Heute ist Donnerstag, der zweiundzwanzigste Oktober zweitausendundfünfzehn, neun Uhr einunddreißig. Ich obduziere eine männliche Leiche, geborgen aus einem ausgebrannten Unfallfahrzeug. Identität aufgrund starker Verbrennungen noch nicht zweifelsfrei geklärt; dies ist Hauptzweck der Obduktion. Alter vermutlich zwischen dreißig und fünfundvierzig Jahren, mittelgroß bei leicht korpulenter Statur. Haare weitgehend verbrannt, aber anscheinend kurz und mittelblond oder braun. Ich untersuche zunächst die Kleidung des Toten."
Dr. von Kampen legte das Diktiergerät beiseite, um die Hände frei zu haben, und begann die Jackentaschen des vor ihm liegenden Unfallopfers - wenn es denn ein Unfall war - zu inspizieren. Die rechte Tasche war fast unversehrt, in ihr fand von Kampen aber nicht mehr als eine Packung Kaugummi und ein halbleeres Einwegfeuerzeug. Die linke Seite der Jacke war deutlich stärker vom Feuer in Mitleidenschaft gezogen worden. Von Kampen öffnete vorsichtig die Außentasche und zog mit spitzen Fingern einen größtenteils verbrannten Zettel daraus hervor. Ein Teil der Überschrift war noch zu entziffern: "EVA----RUNG". Darunter ein Text, der praktisch nicht mehr auszumachen war, und etwas, das einmal eine Landkarte gewesen sein mochte. Damit sollten sich die Kriminaltechniker vergnügen, wenn sie wollten.
Als von Kampen das Fragment vorsichtig in eine Aluschale legen wollte, zuckte er zusammen und ließ den Fetzen fallen. Er hatte durch seine Arzthandschuhe hindurch so etwas wie einen leichten elektrischen Schlag bekommen - nicht schmerzhaft, nur überraschend. Aber Papier konnte doch nicht statisch aufgeladen sein? Verblüfft starrte er den verkohlten Zettel an, als ihm eine weitere halbwegs lesbare Stelle ins Auge sprang: "--tober 2025". Doch noch bevor von Kampen sich hierüber Gedanken machen konnte, lief plötzlich ein gelbliches Leuchten über das Papier. Es sah eigentlich nicht wie eine Flamme aus, aber es musste wohl eine gewesen sein, denn nun färbte sich auch der Rest des Zettels kohlschwarz, und das Ganze zerfiel zu einem Häufchen feiner Aschekrümel. Jetzt konnten auch die Techniker nichts mehr daraus machen. "Was um alles in der Welt war das?", rief von Kampen halblaut aus. Ein Rest Glut noch zwanzig Stunden nach dem Brand? Nun ja, die Jacke war aus einem Synthetikmaterial, das konnte recht lange glimmen ...
Von Kampen hielt sich nicht lange mit diesem Gedanken auf. Er hatte heute noch zwei weitere Obduktionen vor sich, von denen mindestens eine weitaus spannender war als eine Kollision auf der Autobahn. Ein mutmaßlicher Giftmord, das hatte immerhin Stil! Voller Vorfreude setzte von Kampen seine Arbeit fort und griff wieder nach dem Diktiergerät: "In den Außentaschen der Jacke: rechts Kaugummi und Feuerzeug wie beigefügt, links etwas verbranntes Papier. Ich untersuche nun die Innentaschen ..."