Gehetzt
Carla versuchte das penetrante Läuten des Weckers zu ignorieren – schlaftrunken wie sie war - aber die Gedanken an den neuen Arbeitstag ließen keinen weiteren Schlaf zu, und das war gut so. Sie quälte sich aus dem Bett und ging in die Küche. Carla hatte gehofft, dass die Saufspuren des vorhergehenden Tages nicht allzu schlimm waren – aber wie immer hatte sie sich getäuscht. Während sie die leeren Weinflaschen zu den unzähligen anderen Flaschen stellte, überlegte sie, was sie in dem Meeting, das für 9:00 Uhr angesagt war, vorbringen würde. Carla freute sich auf den neuen Arbeitstag, obwohl ihr Kopf zu zerspringen drohte.
Geistesabwesend stellte sie Kaffee zu – ging unter die Dusche, griff sich einen Bademantel und weckte Marius auf, der noch völlig unter Decken vergraben im Bett lag.
Marius vollzog sein morgendliches Ritual. Er zündete sich eine Zigarette an, rauchte gemütlich und tapste dann ins Badezimmer, wo er geräuschvoll seine Gedärme entleerte und anschließend unter der Dusche verschwand.
Schweigend tranken sie ihren Morgenkaffee, beide in Gedanken versunken. Carla versuchte, den letzten Abend zu rekonstruieren, was ihr aber nur dürftig gelang und Marius war in Gedanken bereits bei der Kurzfassung der Studie, die er abzuliefern hatte. Nach der zweiten Tasse Kaffee wurde im schlecht und er rannte Richtung Bad um sich zu übergeben. Carla versuchte in der Zwischenzeit aus dem Kleiderberg im Wohnzimmer passende Kleidung aufzutreiben, und es grenzte an ein Wunder, wie sie zehn Minuten perfekt gestylt aus diesem Chaos hervorging. Sie war gewöhnt, sich am nächsten Tag die verräterischen Spuren ihres Alkoholkonsum wegzuschminken – Marius war in dieser Hinsicht benachteiligt, die Ringe unter seinen Augen waren schon ziemlich stark ausgeprägt.
Gemeinsam stapften sie los, bereit, es mit dem neuen Tag aufzunehmen.
Dass sie ein Team waren, hätte ein Außenstehender als Unfug abgetan. Am Morgen sahen sie sich kaum an, geschweige, dass sie miteinander sprachen. Es war ein Abkommen zwischen diesen Beiden. Jahrelange Gemeinsamkeit hatte ein festes Band zwischen ihnen geknüpft. Tagsüber gingen sie in ihrer Arbeit auf, abends waren sie meistens unterwegs - mit Kollegen, Freunden, wem auch immer. Sie führten ein gutes Leben. Sie hatten keine Verantwortung zu tragen, außer für sich selbst. Carla hatte schon als junges Mädchen für sich festgelegt, keine Kinder zur Welt zu bringen, ihre Argumentation war plausibel und – für sie - fest definiert: Keine Verantwortung. Marius dachte genauso, er war begeistert, als Carla ihm, als sie ihn kennen lernte – Jahre später , als selbstbewusste junge Frau – ihre Einstellung kundtat. In sexueller Hinsicht lief zwischen ihnen nichts, selbst in der Anfangszeit ihres Kennenlernens. „Das würde die Harmonie unserer Beziehung stören“ sagte Carla immer verschmitzt, und Marius pflichtete ihr lächelnd bei. Sexuelle Befriedigung holten sie sich außerhalb, aber besonders aktiv waren sie in dieser Hinsicht trotzdem nicht, Ihre Interessen waren einfach anders gelagert.
Auf der einen Seite gab es also die sensible, hartnäckige Carla, auf der anderen Seite den hypernervösen, intelligenten Marius.
Es wurde perfekt, um nicht zu sagen herrlich. Zeit zu haben, für sich und für Sozialkontakte, die beide ausreichend pflegen konnten, da sie sich nicht gebunden hatten bzw. sich gebunden fühlten. Tun und lassen konnten, was ihnen gefiel. Sie fanden reichlich Zeit, mit Menschen zusammen zu seien Gingen in ihrer Arbeit auf. Geisterten durch die Weltgeschichte.
Und damit gingen beide eine freiwillige Bindung ein. Ich bewunderte sie, mochte, nein liebte sie, konnte aber nie verstehen, wie sie das Tempo – das sie sich selbst auferlegten – durchhalten konnten. Wenn man sie behutsam danach fragte, lachten sie relaxt, aber kurzfristig huschte ein unbehaglicher Ausdruck über ihre Gesichter. Lange Nächte alkoholgetränkt, von Rauch umnebelt – das war die einzige Art der Entspannung, die sie zu kennen schienen. Ihm Urlaub allerdings entpuppten sich Carla und Marius als komplett andere Menschen. Als wären diese wenigen Wochen im Jahr der einzige Zeitpunkt, sich in etwas zu verwandeln, dass sie im Alltag nie sein wollten bzw. konnten. Sie gingen stundenlang spazieren – oft alleine -, kamen zurück, mit einem friedlichen Gesichtsausdruck, den ich so selten an beiden sah. Ich saß oft stundenlang mit Carla auf Balkonen diverser Pensionen oder Hotels zusammen, Blick aufs Meer, jede ein Buch in der Hand, mit dem kleinen Unterschied, das Carla immer ein oder zwei Flaschen Wein neben sich stehen hatte. In dieser Zeit sprachen wir nichts, es war herrlich still nebeneinander zu sitzen.
Dann wieder Alltag, ausgefüllt mit Arbeit, durchgemachten Nächten. Sie konnten nicht genug davon bekommen – immer gehetzt, Angst vor Versäumnis. Ich erinnere mich, eine Menge Zeit mit den Beiden verbracht zu haben, sie waren eine echte Bereicherung in meinem Leben.
Irgendwann änderten sich die Zeiten. Carla sterbend, noch keine 40 Jahre alt, ich an ihrem Bett. Sie lag auf der Intensivstation. Nie werde ich ihre Worte vergessen. Sie lag da, schwer atmend, noch immer hübsch anzusehen, aller Hoffnung beraubt, Krebs in sich, and the Winner is, aber sie sprach, sah mich an, mit einer Intensität, die mir Angst machte. Nie werde ich ihre Worte vergessen, sie flüsterte, ein Schatten ihrer selbst, dünn, sie war so dünn. Sie lag da, in ihrem Elend, ihrer Pein, und sie sagte: „Ich hatte ein gutes Leben, ausgefüllt mit Menschen und mit meiner Arbeit. Ich weiß, dass ich alles richtig gemacht habe. Aber ich hatte immer Angst, keiner hat`s gemerkt, nicht einmal Marius“. „Wovor hattest du Angst, Carla?“ fragte ich sie vorsichtig. Langes Schweigen. „Vor dem Leben, meine Liebe, vor dem Leben“.
Dann sagte sie nichts mehr, sie schloss die Augen und man hörte nur mehr ihren schweren Atem. Zwei Wochen später war sie tot.
Und Marius? Er wurde ein Schatten seiner selbst, magerte ab, wurde kraftlos, von Depressionen gequält. Oft sagte er zu mir: „Und ich? Glaubst du die Typen da oben bzw. da unten haben mich vergessen?“ Er war nicht mehr der stoisch geprägte Mensch. Und er wurde nicht vergessen, ein halbes Jahr nach dem Tod seiner Gefährtin erlitt er einen Schlaganfall.. Heute sitzt er im Rollstuhl und spricht nur von ihr. Bindung, die ihm abhanden gekommen ist. In lichten Momenten.
[ 31.07.2002, 10:28: Beitrag editiert von: Liz ]