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Gehetzt

Liz

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12.07.2002
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Gehetzt

Carla versuchte das penetrante Läuten des Weckers zu ignorieren – schlaftrunken wie sie war - aber die Gedanken an den neuen Arbeitstag ließen keinen weiteren Schlaf zu, und das war gut so. Sie quälte sich aus dem Bett und ging in die Küche. Carla hatte gehofft, dass die Saufspuren des vorhergehenden Tages nicht allzu schlimm waren – aber wie immer hatte sie sich getäuscht. Während sie die leeren Weinflaschen zu den unzähligen anderen Flaschen stellte, überlegte sie, was sie in dem Meeting, das für 9:00 Uhr angesagt war, vorbringen würde. Carla freute sich auf den neuen Arbeitstag, obwohl ihr Kopf zu zerspringen drohte.

Geistesabwesend stellte sie Kaffee zu – ging unter die Dusche, griff sich einen Bademantel und weckte Marius auf, der noch völlig unter Decken vergraben im Bett lag.
Marius vollzog sein morgendliches Ritual. Er zündete sich eine Zigarette an, rauchte gemütlich und tapste dann ins Badezimmer, wo er geräuschvoll seine Gedärme entleerte und anschließend unter der Dusche verschwand.

Schweigend tranken sie ihren Morgenkaffee, beide in Gedanken versunken. Carla versuchte, den letzten Abend zu rekonstruieren, was ihr aber nur dürftig gelang und Marius war in Gedanken bereits bei der Kurzfassung der Studie, die er abzuliefern hatte. Nach der zweiten Tasse Kaffee wurde im schlecht und er rannte Richtung Bad um sich zu übergeben. Carla versuchte in der Zwischenzeit aus dem Kleiderberg im Wohnzimmer passende Kleidung aufzutreiben, und es grenzte an ein Wunder, wie sie zehn Minuten perfekt gestylt aus diesem Chaos hervorging. Sie war gewöhnt, sich am nächsten Tag die verräterischen Spuren ihres Alkoholkonsum wegzuschminken – Marius war in dieser Hinsicht benachteiligt, die Ringe unter seinen Augen waren schon ziemlich stark ausgeprägt.

Gemeinsam stapften sie los, bereit, es mit dem neuen Tag aufzunehmen.

Dass sie ein Team waren, hätte ein Außenstehender als Unfug abgetan. Am Morgen sahen sie sich kaum an, geschweige, dass sie miteinander sprachen. Es war ein Abkommen zwischen diesen Beiden. Jahrelange Gemeinsamkeit hatte ein festes Band zwischen ihnen geknüpft. Tagsüber gingen sie in ihrer Arbeit auf, abends waren sie meistens unterwegs - mit Kollegen, Freunden, wem auch immer. Sie führten ein gutes Leben. Sie hatten keine Verantwortung zu tragen, außer für sich selbst. Carla hatte schon als junges Mädchen für sich festgelegt, keine Kinder zur Welt zu bringen, ihre Argumentation war plausibel und – für sie - fest definiert: Keine Verantwortung. Marius dachte genauso, er war begeistert, als Carla ihm, als sie ihn kennen lernte – Jahre später , als selbstbewusste junge Frau – ihre Einstellung kundtat. In sexueller Hinsicht lief zwischen ihnen nichts, selbst in der Anfangszeit ihres Kennenlernens. „Das würde die Harmonie unserer Beziehung stören“ sagte Carla immer verschmitzt, und Marius pflichtete ihr lächelnd bei. Sexuelle Befriedigung holten sie sich außerhalb, aber besonders aktiv waren sie in dieser Hinsicht trotzdem nicht, Ihre Interessen waren einfach anders gelagert.

Auf der einen Seite gab es also die sensible, hartnäckige Carla, auf der anderen Seite den hypernervösen, intelligenten Marius.

Es wurde perfekt, um nicht zu sagen herrlich. Zeit zu haben, für sich und für Sozialkontakte, die beide ausreichend pflegen konnten, da sie sich nicht gebunden hatten bzw. sich gebunden fühlten. Tun und lassen konnten, was ihnen gefiel. Sie fanden reichlich Zeit, mit Menschen zusammen zu seien Gingen in ihrer Arbeit auf. Geisterten durch die Weltgeschichte.
Und damit gingen beide eine freiwillige Bindung ein. Ich bewunderte sie, mochte, nein liebte sie, konnte aber nie verstehen, wie sie das Tempo – das sie sich selbst auferlegten – durchhalten konnten. Wenn man sie behutsam danach fragte, lachten sie relaxt, aber kurzfristig huschte ein unbehaglicher Ausdruck über ihre Gesichter. Lange Nächte alkoholgetränkt, von Rauch umnebelt – das war die einzige Art der Entspannung, die sie zu kennen schienen. Ihm Urlaub allerdings entpuppten sich Carla und Marius als komplett andere Menschen. Als wären diese wenigen Wochen im Jahr der einzige Zeitpunkt, sich in etwas zu verwandeln, dass sie im Alltag nie sein wollten bzw. konnten. Sie gingen stundenlang spazieren – oft alleine -, kamen zurück, mit einem friedlichen Gesichtsausdruck, den ich so selten an beiden sah. Ich saß oft stundenlang mit Carla auf Balkonen diverser Pensionen oder Hotels zusammen, Blick aufs Meer, jede ein Buch in der Hand, mit dem kleinen Unterschied, das Carla immer ein oder zwei Flaschen Wein neben sich stehen hatte. In dieser Zeit sprachen wir nichts, es war herrlich still nebeneinander zu sitzen.
Dann wieder Alltag, ausgefüllt mit Arbeit, durchgemachten Nächten. Sie konnten nicht genug davon bekommen – immer gehetzt, Angst vor Versäumnis. Ich erinnere mich, eine Menge Zeit mit den Beiden verbracht zu haben, sie waren eine echte Bereicherung in meinem Leben.

Irgendwann änderten sich die Zeiten. Carla sterbend, noch keine 40 Jahre alt, ich an ihrem Bett. Sie lag auf der Intensivstation. Nie werde ich ihre Worte vergessen. Sie lag da, schwer atmend, noch immer hübsch anzusehen, aller Hoffnung beraubt, Krebs in sich, and the Winner is, aber sie sprach, sah mich an, mit einer Intensität, die mir Angst machte. Nie werde ich ihre Worte vergessen, sie flüsterte, ein Schatten ihrer selbst, dünn, sie war so dünn. Sie lag da, in ihrem Elend, ihrer Pein, und sie sagte: „Ich hatte ein gutes Leben, ausgefüllt mit Menschen und mit meiner Arbeit. Ich weiß, dass ich alles richtig gemacht habe. Aber ich hatte immer Angst, keiner hat`s gemerkt, nicht einmal Marius“. „Wovor hattest du Angst, Carla?“ fragte ich sie vorsichtig. Langes Schweigen. „Vor dem Leben, meine Liebe, vor dem Leben“.
Dann sagte sie nichts mehr, sie schloss die Augen und man hörte nur mehr ihren schweren Atem. Zwei Wochen später war sie tot.

Und Marius? Er wurde ein Schatten seiner selbst, magerte ab, wurde kraftlos, von Depressionen gequält. Oft sagte er zu mir: „Und ich? Glaubst du die Typen da oben bzw. da unten haben mich vergessen?“ Er war nicht mehr der stoisch geprägte Mensch. Und er wurde nicht vergessen, ein halbes Jahr nach dem Tod seiner Gefährtin erlitt er einen Schlaganfall.. Heute sitzt er im Rollstuhl und spricht nur von ihr. Bindung, die ihm abhanden gekommen ist. In lichten Momenten.

[ 31.07.2002, 10:28: Beitrag editiert von: Liz ]

 

Hi Liz,

das Thema Deiner Geschichte hat mir gefallen. Aber leider ist sie mir zu kurz. Bis zur Mitte gefällt sie mir sehr gut, doch dann sackt das Ganze leider ab... Du erzählst nur noch ganz knapp aus der "Ich"-Perspektive, was aus den beiden geworden ist. Das finde ich schade, weil so Tiefe kaputt und gar nicht erst hervor geht...

Deine Sprache hat mir gut gefallen.

Gruß,
stephy

 

Also mir hats komplett gut gefallen. Finde zwar auch, dass sich der Stil in der Mitte ändert, allerdings halte ich das für ein Stilmittel der Geschichte, welches man besonders bei vielen klassischen Kurzgeschichten wiederfindet.

Das aus Spaß ein lebensbedrohlicher Ernst werden kann schildert die Geschichte sehr ausdrucksstark.
Was mir nicht gefiel sind die großen Lettern. Diese esmpfehle ich komplett zu streichen. Es macht den Eindruck, als müsste der Autor dem Autor die Bedeutung eines Wortes vor die Augen führen. Das ist echt nicht notwendig. Die Bedeutung der Worte wird auch ohne Großschreibung deutlich.
Formal gut bearbeitet. Gefällt mir.

Tobias Neumann

 

Liebe Stephy,
Lieber Tobias,

vielen Dank für Eure Rückmeldungen! Ich werde die Story so bald wie möglich überarbeiten.

Mal schauen, ob ich sie besser hinkriege.

Eines hab ich zumindest schon gelernt: Besser den Text überschlafen und dann überarbeiten, als voreilig was reinstellen :)

Grüße
Liz

 

Liebe Liz!

Ich habe die Geschichte auch gerne gelesen! Und trotzdem muss ich Tobias und Stephy Recht geben. Irgendwann beginnt sie zu laufen, fast so, als ob du rasch zu einem Ende finden willst.
Carlas Antwort -"vor dem Leben"- hat mich ein wenig erschüttert. Aber dann verstand ich auch ihren Hang zum Alkohol.
Eine gute Geschichte, vielleicht ein bisschen mehr Schliff.

Liebe Grüße
Babs

 

Liebe Babs,
ich hab schon versucht, das Ding besser abzurunden, aber irgendwie krieg ich`s nicht hin.

Liebe Grüße
Lizzy

 

Hej Liz!

Im Großen und Ganzen hat mir die Geschichte recht gut gefallen, aber Stephys und Tobias' Kritik muß ich mich anschließen: ab der Mitte macht die GEschichte ihrem Titel alle Ehre, was Du bestimmt nicht so beabsichtigt hast.

Auch sind mir hier und da Flüchtigkeitsfehler aufgefallen: mal fehlt ein Wort, und der Sinn des Satzes

Geistesabwesend stellte sie Kaffee zu
ist mir zwar klar, trotzdem frage ich mich, wo der Ausdruck "Kaffee zustellen" herkommt und ob es ihn so gibt.

Du wechselst mittendrin die Erzählperspektive, was eine heile Sache ist, denn zunächst hast Du einen omnipotenten ERzähler, der genau weiß, was in der Wohnung der beiden passiert, dann plötzlich geht die Geschichte aus der Sicht einer Freundin weiter. Das verwirrt, zumal es keine inhaltliche Abgrenzung gibt, die diese Änderung erklärt.

Gefallen hat sie mir auf jeden Fall, nur müßte hier und da noch etwas dran geschliffen werden.
Lieben Gruß,

chaosqueen :queen:

 

Liebe Chaosqueen,

zuerst einmal ein Dankeschön, dass du dich mit der Story befasst hast! Ich müsste mich nochmal hinsetzen und die ganze Angelegenheit überarbeiten ... leider fehlt mir - wie schon gesagt - momentan die Kreativität dazu. Ich werde ein paar Tage abwarten, und dann eine Verbesserung versuchen.

"Kaffee zustellen" gibt es glaub ich schon, aber ganz sicher bin ich mir da auch nicht ...

Lieber Gruß
Lizzy

 

Klar gibt es Kaffee zustellen, zumindest bei uns im schönen Österreich.

Liebe Grüße
Babs

 

Cool! Also fuhrwerken auch noch andere Ösis hier herum :-). Da bin ich dann net so alleine ...

Lieber Gruß
Liz

 

Hej Liz!

Klar gibt's hier Ösis, es werden täglich mehr! :)
Ich komme dagegen von der Ostsee, da kennt man solche Ausdrücke nicht - dafür haben wir "Feudel", "Handeulen" und noch so einiges mehr... *g*
Da hab ich doch glatt wieder was dazugelernt, klasse!
Lieben Gruß,

chaosqueen :queen:

 

Liebe Chaosqueen,

was bedeutet denn "Feudel", "Handeulen" etc.?

Ich hab absolut keine Ahnung ... net wirklich ...

Ehrlich gesagt, iss mir das nicht einmal ansatzweise ein Begriff! :) (beide Wörter).

Wohnst direkt an der Ostsee? Wenn dem so ist, krieg ich einen neidischen Blick!!!

Lieber Gruß
Liz

 

Hi Liz!

interessantes Thema, das Du Dir da ausgesucht hast. Ich muß allerdings sagen, daß ich bei der Umsetzung ein wenig ratlos bin... ich finde, Du erzählst. Aber eben nur das. Du reihst Dinge aneinander und letztendlich ist das ja auch gut aufgebaut. Aber ich habe ein wenig das Gefühl, daß der Text eben mit Erzählung überfrachtet ist und deshalb die Atmosphäre flöten geht.... erzeuge mehr Stimmungen und Gefühle, anstatt Fakten mitzuteilen.
Sonst aber schön. Mir gefallen die Personen und die Aussage. Von dem Auftauchen der Ich-Erzählerin war ich allerdings etwas überrascht. Ich weiß nicht, ob das nicht etwas zu sehr verwirrt.

Noch ein paar Anmerkungen:

da sie sich nicht gebunden hatten bzw. sich gebunden fühlten.
hier gefällt mir die Formulierung nicht besonders. Auf jeden Fall aber schreibt man sowas aus... Abkürzungen kommen nicht so gut.

es war herrlich still nebeneinander zu sitzen.
hier fehlt ein Komma zwischen herrlich und still

Lieben Gruß,

Frauke

 

Deine Story

Hallo Liz,

fand sehr gut wie Du die Realität beschrieben hast.
Hab mich in einigen Passagen wiedergefunden. Allerdings, eine abgeschlossene Vergangenheit.
Gut fand ich´s schlicht und einfach gut.

liebe grüsse archetyp

 

Hallo Liz!

Am Schluß fuhr mir richtig ne Gänsehaut über... Schreibst Du auch fröhliche Sachen? ;)

Ich finde, Du hast hier in kurzen knappen Worten geschafft, zwei Personen zu charakterisieren, die ich mir gut vorstellen kann. Etwas ausführlicher hätte es vielleicht gekonnt, aber die Atmosphäre ist da.

Gruß,
Matthias

 

@ Arche

Danke für dein Lob! :)

Ja, so eine Lebensweise ist weder durchzuhalten, noch wünschenswert! In Ansätzen hat ja jeder mal eine wilde Phase, aber ich schätze nicht so extrem wie oben beschrieben.

& Saihttam

danke auch dir für`s Lesen! :) Hat mich sehr gefreut, dass du die Story mochtest. Naja, ich hab nur eine lustige Geschichte: Der Strand/Rubrik Seltsam.

Wo find ich eigentlich deine Stories?

Liebe Grüße!

 

Hi Liz!

Ich hab bisher erst eine gepostet, die ich nochmal überarbeiten werde. Muß nur abwarten, was mein Dozent sagt, denn es war eine Uni-Aufgabe...

Aber ich will demnächst auch mehr posten, was wirklich meinen eigenen Eingebungen folgt. :D

Du findest sie unter "Seltsam", sie heisst: "Nacht im Park".

Gruß,
Matthias

 

Hallo Liz,
Mir hat Deine Geschichte auch gut gefallen. Die Gründe sind meist hier schon genannt. Was ich noch anmerken wollte ist, dass mir der Wechsel der Erzählperspektive in der Mitte durchaus gefällt, auch wenn es am Schluss etwas schnell zum Ende drängt.

Lieber Gruß
Andreas

 

Achtung, Klugscheißer von links! ;)
Die erste Hälfte des Textes gefiel mir ausnehmend gut. Zwei Menschen, die keinerlei Verantwortung (und Partnerschaft und Treue basiert ja schließlich auch darauf) übernehmen wollen und deshalb unfähig sind, ihre Herzen zu öffnen.
Dazu die perfide Maskerade; immer verstecken, was man denkt und fühlt, hier versinnbildlicht durch das Überdecken der alkoholgeschwängerten Nächte. Die Angst, etwas zu versäumen, deshalb die Hektik - und ohne es zu merken versäumen sie ihr Leben...

Tja, und dann die zweite Hälfte. Da hätten wir den extremen Stilbruch - anfangs ist der Erzähler neutral, dann plötzlich ein Freund der beiden?!? Das passt nicht zusammen. Lies nochmal Teil 1 und sieh dir dann Teil 2 an.
Außerdem ist Teil 2 für mich nur noch unnötiges Blabla: "Dann kam dies, dann das, und so, liebe Kinder, endet die Geschichte, gute Nacht".
Mein Rat: Entweder Teil 2 streichen oder dem Erzählrhythmus von Teil 1 angleichen. Wobei ich die zweite Variante bevorzugen würde - ich denke, da käme eine sehr, sehr gute Geschichte dabei raus.

Was mir noch auffiel:

Carla hatte gehofft, dass die Saufspuren des vorhergehenden Tages nicht allzu schlimm waren

Nennt mich nervtötend hochnäsig, aber dieses "Saufspuren" passt für mich einfach nicht zu einer ernsthaften Geschichte. Ich denke, es gibt da schönere Worte.

 

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