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Gehen lassen
Damals haben wir stundenlang Verstecken gespielt. Wenn wir uns dann mit glühenden Wangen umarmt haben, so wie das nur ahnungslose Kinder können, hast du mir lange dein Lächeln mit den süßen Grübchen gezeigt. Und ich wusste, dass ich dich niemals gehen lassen werde.
Deine Hände fahren über den Schweiß auf meiner Haut, während sich unsere aufgeheizten Körper aneinanderschmiegen. Unsere tanzenden Füße graben sich tief in den Sand. Basslastige Beats und das Johlen hunderter Feierwütiger übertönen das Brechen der Wellen. Die Teile, die wir uns vor einer Stunde eingeworfen haben, kneifen mir mittlerweile die Arschbacken zusammen und der fiebrige Glanz deiner Augen verrät, dass es dir auch so gehen muss. Deine Finger krallen sich in meinen Rücken, ich ziehe dich an mich und ein Kuss lässt meine Lippen vibrieren. „Lass uns gehen.“, sagst du grinsend. Wir drängen uns durch die wildgewordene Menge und versuchen, uns nicht zu verlieren, obwohl wir es schon lange sind. Ich suche das Fahrrad und mit dir auf dem Gepäckträger fahren wir durch den kühlenden Regen nach Hause. Ein Gewitter bahnt sich an und über dem Horizont schlagen schon faserige Blitze durch die Nacht. Im Schlafzimmer hast du immer noch kalte Gänsehaut, über die ich langsam deine Sachen streife. Tief atmend fängst du an zu stöhnen, unsere Herzen schlagen immer schneller, bis ich in dir komme und wir uns zitternd umschlingen.
Als ich aufwache sitzt du an der Bettlehne, die Knie fest an die Brust gedrückt. Vermutlich hast du schon wieder nicht geschlafen, die Augenringe lassen deinen Blick noch schwerer wirken, als er es ohnehin schon ist. „Vielleicht sind nicht alle für die Liebe gemacht.“ Dein Flüstern ist kaum zu hören. „Wie meinst du das?“ „Selbst wenn das Universum ein Ozean voller Liebe ist, dann kann vielleicht nicht jeder schwimmen. Ich bin ein Nichtschwimmer.“ „Sag sowas nicht.“ Dein Atem geht schwer, ich will dich umarmen. Du stößt mich schreiend von dir: „Nichts verstehst du!“ Heulend vergräbst du dich unter einem Deckenberg.
Resigniert lasse ich dich allein und mache mich auf den Weg zum Training. Satz für Satz, mit der ganzen Wut drücke ich die Hantel nach oben, die Arme werden immer schwerer. Die Gewichte fallen in die Sicherungshaken, schweres Eisen klirrt. Zehn Kilo weniger, noch einmal, zweimal, die Finger werden taub. Eine Stunde später ist alles taub, erschöpft lasse ich mir Wasser aus der Flasche übers Gesicht in den Mund laufen. Wieder vor unserer Haustür angekommen merke ich, dass ich die Schlüssel vergessen habe und klingel. Keine Reaktion. Nochmal. Bestimmt bist du wieder abgehauen, dann kann ich auch nur warten, bis du zurückkommst. Die Nachbarn lassen mich herein und ich öffne die Wohnungstür mit der Sparkassenkarte. Deine Schuhe stehen noch im Regal, aber es wäre ja nicht das erste Mal, dass du barfuß deiner Wege gehst. „Hannah!?“ Stille. Das Schlafzimmer ist leer. Die Küche auch. Die Badezimmertür ist zugeschlossen. „Komm schon, das ist echt nicht mehr witzig.“ Immer noch Stille. Unbehagen sticht in meiner Brust, ich hämmere an die Tür, irgendwann halte ich es nicht mehr aus und breche sie auf.
Manchmal konnte man deine Augen funkeln sehen. Wenn du für das Leben gebrannt hast.
Regungslos liegst du auf den weißen Fließen, die Pulsadern mit dem scharfen Fischmesser aufgetrennt.
Der Notarzt bestätigt sachlich, was ich schon seit sieben Minuten gewusst habe.
Seitdem ist eine Woche vergangen und meine Welt ist immer noch grau und leer.
„Bitte schenken Sie mir kurz Ihre Aufmerksamkeit“, sagt ein Assistenzarzt der psychiatrischen Station mit eingehender Stimme,
„auch wenn Sie es jetzt noch nicht nachvollziehen können, wird sich Ihr Gesundheitszustand in den nächsten Wochen maßgeblich verbessern. Wir haben Ihre Medikation neu abgestimmt und“ – seine Worte sind nur weißes Rauschen in meinem Kopf. Er beendet die Ansprache und verlässt den Raum. Meine Finger gleiten über den Rasierer, den ich einer gestressten Auszubildenden bei der Morgenpflege aus der Tasche gestohlen habe. Bis jetzt hat sie es noch nicht bemerkt. Gleich ist es 12.30 Uhr, dann gehen die meisten Schwestern zum Mittagessen in die Kantine. Es wird still. Ich warte kurz, nach einem tiefen Atemzug nehme ich einen Stuhl mit ins Bad und blockiere die Klinke. In meinen Armen spüre ich keinen Schmerz, es schockiert mich kein bißchen das ganze Blut strömen zu sehen. Ich muss lachen, weil mir wieder einfällt, wie sehr Grübchen wärmen können, und lasse dich gehen.