Gehen lassen
Gehen lassen
Ich betrat das Krankenhaus langsam. Ein unwohliges Gefühl stieg in mir auf, denn ich wusste genau in welchen Stock, auf welche Station und in welches Zimmer ich gehen musste. Ich hatte den Besuch hier zwar immer herausgeschoben, aber meine Mutter hatte es mir so oft erzählt. Aber ich wollte es nie hören, wollte es vergessen verdrängen, ich wollte es einfach nicht wahrhaben.
Und jetzt stand ich hier, im Lift und hörte das Klingen wenn wir einen Stock höher kamen. Ich fühlte mich richtig allein, verloren in mir selbst.. Ich musste aussteigen. Palliativstation stand auf der Tür, es sah so unschuldig aus. Aber ich wusste, es war die Sterbestation des Spitals. Wer hier war kam meist nicht mehr lebend heraus. Langsam betrat ich die Station. Das Zimmer lag den Gang hinunter, dann die zweite Tür links. In meinen Träumen war ich schon oft hier gewesen. Doch ich hatte es mir ganz anders vorgestellt. Eine Schwester lief mir entgegen und ihr Blick streifte mich. Er war aus einer Mischung von Mitleid und Trost. Sie wusste, was ich jetzt vor mir hatte. Das, was alle, die hierher kommen, vor sich haben. Das, was mir zerstören würde. Ich wusste es.
Trotzdem kehrte ich nicht um. Ich wusste, dass ich nicht mehr viel Zeit hatte. Das Zimmer kam immer näher, mit jedem Schritt. Am Ende des Flures sah ich eine Couch mit einem kleinen Fernseher und einigen Wolldecken. Eine andere Schwester lief an mir vorbei. Sie zog ein Instrument mit, dass ich nicht kannte. Mama hatte mir von den Klangtherapien erzählt. Und auch diese Schwester schaute mich mitleidig an. Ihr Blick hatte Recht, der Weg den ich jetzt ging, der war so schwer, ich wäre am liebsten umgekehrt.
Beim Zimmer angekommen und klopfte leise. Zweimal. Dann trat ich ein.
Das Zimmer war weiss gestrichen, wie man es von einem Krankenhaus erwartet. Neben dem Fenster standen ein Tisch mit zwei Stühlen. Auf dem Tisch stand eine Vase mit Sonnenblumen und daneben ein Schild das zeigte, das man keine Kerzen anzünden durfte. Ich nahm einen Stuhl und zog ihn neben das Bett. Dort lag er. Zerstört von seiner Krankheit. Sein Atem ging röchelnd, und überall an ihm waren Maschinen angeschlossen. Auf der anderen Seite des Bettes war eine Luftbefeuchtungsmaschine.
Der Anblick von ihm tat mir weh. Er zerriss mein Herz. Es war nicht der Mensch, der mich jahrelang begleitet hatte, der mir immer geholfen hatte, für den ich alles getan hätte.
Ich wusste nicht einmal, ob er mich bemerkte, ob er überhaupt noch etwas bemerkte. Seine Augen starrten zur Decke, er konnte sich nicht mehr bewegen. Ich hätte sofort mit ihm getauscht, ihm den Schmerz genommen, aber ich konnte nicht.
Ich strich sanft über seine Hand, dann nahm ich sie zwischen meine Beiden. Ich schaute ihn an ohne etwas zu sagen. Dann begann ich zu weinen. Ich spürte, wie die Tränen über mein Gesicht liefen, und dann irgendwann auf unsere Händen tropften. Aber ich wollte nicht weggehen und die Taschentücher holen. Ich wollte keinen Moment mit ihm verpassen. Deshalb blieb ich sitzen. Nach einigen Minuten schaute die erste Schwester, die ich getroffen hatte, hinein. Sie fragte mich, ob ich irgendetwas brauche, doch ich schüttelte den Kopf. Dann liess sie uns wieder allein.
Ich wartete noch einen kleinen Augenblick, dann begann ich ihm alles zu erzählen, was ich ihm noch sagen wollte, was ich dachte, er müsste es wissen.
„Ivo, du weißt gar nicht, wie schwer es mir fällt, dich zu sehen. Weißt du, wenn ich könnte, dann würde ich jetzt mit dir tauschen und dir den Schmerz nehmen. Dann würde ich diesen Weg jetzt gehen. Aber das geht nicht. Ich kann dich nicht begleiten.
In der Schule ist alles ok. Die neue Klasse ist nett. Ich muss sie zwar noch ein wenig kennen lernen, aber ich bin immer noch mit Caroline, Sabrina und Nathalie in der Klasse. Und meine Noten sind auch gut. Erst gerade habe ich im Tastaturschreiben eine 5.5 gehabt. Und meine Lehrer, sie sind auch wirklich nett. Ausser meine Sportlehrerin, aber du weißt ja, das ich Sport noch nie mochte.
Zuhause ist es nicht mehr schön ohne dich. Ich vermisse dich. Und Merlin vermisst dich auch. Jedes Mal wenn jemand herein kommt, hofft er, dass du es bist. Weißt du noch, wie wir früher immer morgens spazieren gegangen sind. Und dann, als Merlin einmal Hiwa nachgerannt ist, und ich ihn nicht mehr halten konnte. Es war immer so lustig.
Mami ist ganz fertig. Und Joia auch. Sie tut mir so Leid. Sie hatte nie die Chance dich richtig kennen zu lernen. Sie erinnert sich immer nur daran, das du die Krankheit hattest. Wie du müde warst wegen den Therapien, und wie du Medikamente nehmen musstest.
Vor den Sommerferien, als ihr uns sagtet, das du wieder operiert wirst, da dachte ich, es sei wie immer. Und du würdest danach einfach in die Reha-Klinik gehen. Und dann wäre alles wieder gut. Wie immer.
Aber das Leben kann ja nicht fair sein. Weißt du, du warst immer nett, du bist nicht böse. Und du musst sterben. Und andere nicht. Warum? Warum du? Ich versteh das nicht. Ich kann es nicht verstehen. Es ist nur gemein.“
Ich weinte immer noch. Und ich wünschte mir, dass er mich verstanden hatte. Ich wollte, dass er sich keine Sorgen um mich machte. Das er dachte, das es mir gut gehen würde, und das ich stark wäre.
Ich flüsterte nur noch:“ Ach Ivo, du warst immer der wichtigste Mensch für mich. Du warst immer für mich da. Und du wirst immer so wichtig bleiben. In meinem Herzen wirst du immer bleiben. Ich werde dich nie vergessen. Ich werde mich immer an dich erinnern. Weißt du noch, in den Ferien, als du in den Stiefeln wandern warst? Das Foto von den Stiefeln im Sand, ich habe es hier. Ich lasse es bei dir. Es zeigt einfach das, was wir hatten. Und was der Krebst zerstört hat.
Ich muss dich jetzt aber gehen lassen. Für immer. Du weißt, ich will nicht, aber es ist besser für dich. Ich hoffe, du wirst keinen Schmerz mehr haben, und das es dir wieder gut geht. Ich werde dich vermissen.
Ich liebe dich.“
Ich küsst seine Wange. Ganz vorsichtig und sanft. Dann beugte ich mich über ihn und blickte in seine Augen. Dieser Farbton, das graublau, ich liebte es.
Ich weinte wieder stärker. Und ich wusste, wenn ich jetzt nicht gehen würde, dann würde ich das nicht mehr hinbekommen. Ich sagte nichts mehr. Ich strich ihm über das Gesicht, liess seine Hand los, dann stand ich auf und schaute ihn für einen langen Moment an. Es war das letzte Mal, dass ich ihn sehen würde. Ich wusste es. Der Kampf war vorbei. Wir hatten alles verloren.
Ich öffnete die Tür und ging hinaus. Die Schwester von vorhin kam zu mir. Sie gab mir einen Becher Wasser und Taschentücher. Ich konnte nicht Danke sagen, ich nickte nur, dann ging ich aus der Station. Zum Glück war der Fahrstuhl bereits da. Und zum Glück war er leer. Ich stieg ein und drückte auf Erdgeschoss. Draussen wartete Mami, sie würde mich nach Hause bringen. Jetzt hatte ich ihn endgültig verloren. Er würde bald sterben. Ich hatte Abschied genommen. Abschied für immer. Mein Herz zerriss bei dem Gedanken. Ich wusste, es war besser für ihn. Doch ich verstand es nicht.