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Geheimnisse
Nachfolgende Geschichte wurde erneut für einen anderthalb Stunden-Bewerb geschrieben. Vorgabe waren die letzten paar Sätze. Ich hoffe, die Story ist trotzdem halbwegs lesbar.
Deacon betrat müde den Empfangsraum. Er war den ganzen Tag über auf den Beinen gewesen. Für ein junges, hübsches Mädchen mochte es ein Leichtes sein, per Anhalter durchs Land geschippert zu werden – ein Junge wie Deacon, der fast zwei Meter groß war, hatte in diesem Punkt erheblich größere Schwierigkeiten. Jedenfalls hatte sich seiner niemand erbarmt und so war er seit zwei Tagen die staubige Landstraße entlang gegangen.
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn ab und schritt auf die Theke zu, wo ein alter Mann in einer Zeitung las.
„Hallo. Könnte ich bitte ein Zimmer haben?“
Desinteressiert blickte der Mann hoch. Deacon warf einen flüchtigen Blick auf die Zeitung, die fast ausschließlich nackte Frauen zeigte. Nun ja, mit so etwas konnte er natürlich nicht konkurrieren.
„Ein Zimmer?“
In der Stimme des Mannes lag ehrliche Verwunderung.
Deacon zwang sich zu einem Lächeln. „Das hier ist doch ein Motel, oder? Ich möchte einfach nur ein Zimmer für eine Nacht.“
Der Mann starrte ihn an. „Heute Nacht? Du möchtest heute Nacht ein Zimmer?“
Verlegen sah sich Deacon um. Wurde hier irgend ein Scherz mit ihm getrieben, den er nicht verstand?
„Ist das so ungewöhnlich?“
„Natürlich nicht“, entgegnete der Mann und stieß einen Seufzer aus, ehe er sich umdrehte und vom Board einen Schlüssel vom Haken nahm.
„Zwanzig Dollar. Dusche und Fernseher mit Kabel ist vorhanden.“
Deacon zückte sein Portemonnaie und fischte vier Fünfer raus. Der Mann hielt ihm den Schlüssel hin. Doch als Deacon danach greifen wollte, zog er ihn wieder zurück.
„Da ist nur eine Sache, Junge. Es mag dir lächerlich erscheinen. Aber ich meine es gut mit dir – verschließ die Tür und verlasse das Zimmer unter keinen Umständen, hörst du?“
Mit diesen Worten drückte er dem verdutzten Jungen den Schlüssel in die Hand, der sich kalt anfühlte.
„Äh, ja, klar“, antwortete Deacon der sich mittlerweile sicher war, dass man ihn auf den Arm nahm. Da er jedoch rechtschaffen müde war, spielte das keine Rolle. Seinetwegen konnte man sich mit ihm ruhig einen Scherz erlauben – morgen würde er die Stadt ohnedies wieder verlassen. Und es schien unwahrscheinlich, dass er jemals wieder hierher kommen würde.
„Die Treppe rauf, links, zweite Tür rechts“, sagte der Mann monoton und gelangweilt.
Deacon wandte sich der Treppe zu und stieg die Holzdielen hoch, die bedrohlich knarrten.
Kopfschüttelnd betrachtete der Mann eine texanische Blondine mit Brüsten so groß wie Melonen. Er hatte eine Vorliebe für frisches Obst.
***
Die schwere Holztür schwang überraschend leicht nach innen. So verfallen das ganze Motel wirkte: Die Zimmer konnten sich durchaus sehen lassen. Deacon nahm den Rucksack von der Schulter und stellte ihn neben dem Nachttischchen ab. Dann zog er die Jacke aus, die er vollgeschwitzt hatte, und warf einen flüchtigen Blick ins Bad. Gut, Dusche war vorhanden. Gott, er hatte seit fast einer Woche weder geduscht noch gebadet, sah man von der Viehtränke ab, die er zweckentfremdet hatte. Wenn man einmal tief unten war, konnte man genau so gut auf diesem Niveau verharren.
Deacon zog das T-Shirt aus, auf dem Wahlwerbung für einen ihm verhassten Präsidentschaftskandidaten gemacht wurde, und ging zur Tür um sie zu schließen. Plötzlich tauchte eine junge Frau unter dem Türbogen auf.
„Was tun Sie hier?“, fragte sie erstaunt.
Sie war ziemlich hübsch, wenngleich etwas altmodisch gekleidet.
„Ich übernachte hier. Ist das verboten?“
„Nicht, wenn Sie die Zimmertür abschließen“, sagte die Frau mit ernsthafter Miene. Ihre Gesichtszüge waren ungewöhnlich ebenmäßig. Allerdings war ihr Teint reichlich fahl.
„Das hat mir der Rezeptionist auch bereits geraten. Gibt’s einen besonderen Grund dafür?“
Sie wich seinem Blick aus und biss nervös auf den Lippen. „Das wollen Sie nicht wissen. Tun Sie einfach nur, was Ihnen geraten wurde.“
„Schon gut, schon gut. Trotzdem würde mich interessieren –“
„Nein!“, schnitt ihm sein Gegenüber die Frage ab. „Ich muss jetzt gehen. Leben Sie wohl.“
Deacon sah ihr nach, bis sie am Treppenaufgang seinem Blickfeld entschwand. Er entschied, dass er zu müde war, um sich weitere Gedanken darüber zu machen.
Er schloss die Tür, versperrte sie und ging unter die Dusche.
***
Deacon schreckte aus dem Schlaf hoch. Er brauchte ein paar Sekunden bis er sich entsann, wo er war. Der Fernseher flimmerte grell – jemand hatte ihn viel zu hell eingestellt – weshalb er die Augen kurz zu kniff. Da war doch irgend ein Geräusch gewesen … Oder hatte er das nur geträumt? Er setzte sich auf, blickte sich rasch um und stand endgültig auf. Wenn er schon mal wach war, konnte er noch eine Kleinigkeit essen.
Ein Blick auf die Armbanduhr zeigte ihm, dass es kurz vor 23 Uhr war. Er hatte demnach rund vier Stunden gepennt.
Deacon gähnte herzhaft und streckte seine Glieder. Dann öffnete er den Rucksack und zog ein Fertiggericht heraus. Kalt schmeckte der chinesische Nudelsalat nicht besonders. Aber in der Not fraß der Teufel bekanntlich Fliegen. Kalt.
Deacon zuckte zusammen – ein dumpfer Schlag und ein Schrei! Er hatte vielleicht doch nicht geträumt. Wieder ein Schrei, heiser und schmerzerfüllt.
Langsam stellte Deacon das Fertiggericht auf das Nachttischchen und stand auf. Das Geräusch schien aus dem Zimmer nebenan zu kommen.
Er ging zur Tür, dachte an die Warnungen von dem Mann an der Theke sowie der jungen Frau und verharrte mit der Hand über dem Türknauf. Warum hatte man ihn gewarnt, nicht hinauszugehen? Was sollte er nicht sehen? Unschlüssig legte er seine Hand mal auf den Knauf, dann zog er sie wieder zurück.
Wieder ein Schrei. Doch diesmal klang er nicht menschlich, eher … animalisch.
Deacon leckte sich über die Lippen. Nun hatte ihn doch die Neugierde gepackt. Was, zum Teufel, ging hier vor sich? Er musste es einfach wissen! Aber ganz wollte er die Vorsicht doch nicht vergessen, weshalb er zum Rucksack ging und sein Klappmesser rauszog und es in die Gürtelschlaufe steckte, wo es griffbereit war. Dann entriegelte er die Tür und drehte langsam den Knauf, um keinen unnötigen Lärm zu produzieren.
Vorsichtig spähte er auf den Gang raus: Niemand war zu sehen. Gut. Mit tappsigen kurzen Schritten ging er Richtung Tür des angrenzenden Zimmers. In der Rezeption brannte Licht, das einen kleinen Lichtkegel nach oben warf. Zögernd ging Deacon weiter. Nichts. Stille. War man auf ihn aufmerksam geworden?
Er wartete eine Zeit lang. Nichts. Deacon zuckte mit den Achseln und drehte sich um. Vielleicht – Wieder ein Schrei. Langgezogen, kreischend, schrill. Ihm stellten sich die Nackenhaare auf. Verdammt! So wahrscheinlich irgend ein obskurer Scherz auch zu sein schien – falls es kein Scherz war musste er eingreifen.
Noch ehe er die Tragweite dieses Gedankens so richtig begriffen hatte, lag seine Hand bereits auf dem Türknauf des Zimmers. Entsetzt betrachtete er sich wie ein unbeteiligter Zuschauer dabei, wie er ihn nach links drehte. Klackend öffnete sich die Tür. Erschrocken ließ er den Knauf los, als könnte er dadurch alles ungeschehen machen.
Die Tür schwang seufzend nach innen.
Und offenbarte ihm einen Blick in die Hölle.
Ein Mann war ans Bett gefesselt. Aus einer tiefen Wunde an seinem Bein floss Blut, das in einem Messingeimer, der darunter gestellt worden war, aufgefangen wurde. Für einen kurzen Augenblick trafen sich die Blicke der Beiden.
Deacon gewahrte vier Personen. Zwei davon kannte er: Der alte Rezeptionist und die junge Frau. Gleichgültig musterten sie ihn. Jeder von ihnen hielt ein Stück Fleisch in Händen. Einer der Unbekannten kaute daran herum, schenkte ihm nur wenig Beachtung.
Der Junge öffnete seinen Mund um etwas zu sagen, sah sich aber außer Stande, auch nur einen Laut von sich zu geben. Jeglicher Gedanke an einen Scherz war verflogen.
„Hatte ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollten im Zimmer bleiben?“, sagte der alte Mann tadelnd und ein bisschen wehmütig.
„Was –“, brachte Deacon endlich keuchend heraus. Er merkte, wie sein ganzer Körper schlotterte, als stünde er unter Strom.
„Was wir hier tun? Ach, das ist eine lange Geschichte, junger Freund.“
„Helfen Sie mir!“, schrie der am Bett Gefesselte und wand sich verzweifelt.
Die junge Frau ging zu ihm und versetzte ihm einen Hieb ins Gesicht, woraufhin er wieder aufheulte.
„Eine lange Geschichte“, wiederholte der alte Mann und lächelte. Die obere Zahnreihe war lückenhaft wie die eines kleinen Jungen, dessen Milchzähne die Zahnfee geholt hatte.
„Es mag Ihnen schockierend erscheinen, was wir tun. Doch glauben Sie mir, unsere Motive sind hehrer Natur. Jedes Jahr müssen wir ein Menschenopfer darbringen, um die alten Wesen zu besänftigen. Wir teilen unser Menschenmahl mit ihnen und sie lassen uns in Frieden.“
„Die … alten Wesen?“
Der alte Mann grinste übers ganze Gesicht und warf sein Stückchen Fleisch in die Ecke. Jetzt erst erblickte Deacon das kleine Wesen auf dem Boden. Es erinnerte ihn an einen jener geflügelten Dämonen, die als steinerne Wächter vor Notre-Dame fungierten. Er hatte sich immer schon gefragt, was in den Künstlern vorgegangen sein musste, die diese Wesen ersonnen und aus Stein gehauen hatten.
Vielleicht hatten sie ihre Phantasie nicht lange anstrengen müssen?
„Sie werden aber verstehen, dass wir nicht zulassen können, dass Sie unser kleines Geheimnis verraten, nicht wahr?“
Plötzlich legte sich ein schwerer Arm um Deacons Hals. Der Angreifer hatte sich von hinten herangeschlichen, sodass er ihn nicht bemerkt hatte. Verzweifelt versuchte Deacon, sich aus dem Würgegriff zu befreien. Keine Chance, zu stark war sein Peiniger. Instinktiv zog er das Messer, klappte es auf und jagte die Klinge in den Arm. Der Angreifer heulte auf und ließ ihn augenblicklich los.
Keuchend ging Deacon zu Boden. Er hatte das Gefühl, als wäre sein Kehlkopf eingedrückt worden.
Er durfte jetzt nicht ohnmächtig werden. Sei stark, befahl er sich selbst. Doch schon verschwamm alles vor ihm und bevor die Schwärze ihn umfing, hörte er die junge Frau sagen: „Er wird nichts verraten.“
***
Deacon schreckte aus dem Schlaf hoch. Sein Herz und sein Puls rasten wie verrückt. Beinahe hätte er einen Schrei ausgestoßen als er merkte, dass er im Bett lag. Er schluckte. Das Laken war nass, ebenso das Leintuch. Zögernd stand er auf. Draußen begann es zu dämmern und der Fernseher lief noch.
„Ein Traum, es war nur ein Traum“, flüsterte er sich beruhigend zu. Dann begann er zu lachen und fühlte sich wie ein Idiot.
Er blickte aus dem Fenster raus. Das Motel stand auf einer Hügelkuppe und er konnte ins Tal hinabsehen, das verheißungsvoll vor ihm lag. Vielleicht würde ihn heute jemand mitnehmen, damit er nach LA kam. Er begann, seinen Rucksack zu packen.
***
„Hatten Sie eine angenehme Nacht?“, fragte der alte Mann, als ihm Deacon die Schlüssel übergab.
„Nun ja, ehrlich gesagt, ich hatte Alpträume. Ziemlich kindisch.“
Er schämte sich dafür, ihn zum Protagonisten eines Höllenbildes gemacht zu haben.
„Das geschieht mitunter. Seien Sie bitte vorsichtig, falls Sie über den Kletterpfad ins Tal hinabsteigen. Morgens ist er etwas rutschig.“
„Werde ich. Vielen Dank und Wiedersehen.“
"Oh, bitte sehr! Es wäre doch schade um ihren jungen Körper. Wer weiß, wofür er noch gut sein wird?"
Er schauderte.
Deacon öffnete die schwere Holztür und trat in die beginnende Dämmerung hinaus.
Er blickte schweigend ins Tal hinab, über das sich langsam der Schleier der Dunkelheit zu legen begann.
Der laue Sommerwind säuselte leise in den Zweigen der alten Kastanien als er langsamen Schrittes die Dorfstraße entlang ging, in Gedanken immer noch dem gerade erlebten nachhängend.
Als er heute morgen die Straße heraufgekommen war, war die Welt - seine Welt - noch in Ordnung gewesen. Er atmete tief durch, warf sich den Rucksack auf den Rücken und beschleunigte seinen/ihren Schritt.
"Auf Wiedersehen! Vielen Dank für Ihren Besuch in Creston“ las er auf dem verfallenen Schild als er den Ortsausgang hinter sich ließ und er meinte dabei ein leises, höhnisches Lachen zu hören.