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Geheimnisse der Berge

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21.02.2024
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Geheimnisse der Berge

Mittwoch, 17. November 1886.

Nachts war ein Schneesturm über das kleine Bergdorf gefegt. Der Schnee türmte sich einen Meter hoch um die Steinhäuser. Es war noch fast dunkel. Dicke, dunkle Wolken hingen über dem Berg. Heute würde ein dunkler Tag werden. Einer nach dem anderen kamen die Dorfbewohner aus ihren Häusern, mit Schneeschaufeln bewaffnet.
Am Rande des Dorfes grub der Schuster Sebastian gerade seine Holzvorräte aus. Keuchend stieß er seine Schaufel wieder und wieder tief in den Schnee.
Plötzlich sah der Schnee merkwürdig aus. Dunkler und ließ sich mit der Schaufel nicht mehr durchbrechen. Ein Pelz war unter der Schneedecke zum Vorschein gekommen. Sebastian runzelte die Stirn und legte mehr davon frei. Unter dem Pelz erkannte er schließlich Beine. Dann Füße in dicken Winterschuhen. Seine Augen weiteten sich. Er machte weiter, bis der Schnee nicht mehr weiß, sondern dunkelrot war. Darunter fand er den Kopf, gehüllt in einen dicken Schal. Er starrte in das Gesicht einer jungen Frau. Blut war darüber gelaufen und dort gefroren. Eine tiefe Wunde klaffte auf ihrer Stirn. Unter dem Blut war ihre Haut weiß wie Schnee, die Lippen blau. Sebastian stolperte erschrocken zurück.


Barbara legte noch einen Holzscheit ins Feuer. Langsam erwärmte sich die kleine Stube, die ihnen gleichzeitig als Küche diente. Über dem Feuer hing ein großer Topf, in dem Barbara Schnee schmolz. Manchmal vermisste sie die Stadt, wo das Wasser einfach aus einem Hahn floss. Ihr Sohn Friedrich saß am Tisch und frühstückte. Tobias, ihr Mann, war draußen und schaufelte mit den anderen Männern die Wege frei. Plötzlich hörten sie Geschrei.
„Was ist da los?“, fragte Barbara.
Friedrich wollte schon aufspringen und hinaus laufen, doch seine Mutter hielt ihn auf.
„Du bleibst hier“, bestimmte sie. „Iss dein Frühstück auf und such deine Schulsachen zusammen.“
Barbara schlang ihren Wollschal um den Kopf, warf einen zweiten um ihre Schultern und trat hinaus in die Kälte. Brigitte war auch schon da.
„Hast du gehört?“, sagte sie aufgeregt. „Sebastian hat eine Leiche gefunden.“
Barbara hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund. „Um Gottes Willen! Was ist passiert? Wer ist es?“
„Hat er nicht gesagt. Los, komm.“ Brigitte zog Barbara mit, den anderen hinterher. Sie waren die einzigen Frauen, die Sebastian zu seinem Haus am Rande des Dorfes folgten.
Den Anblick der jungen Frau würde Barbara nie wieder vergessen. Die blauen Lippen, das rote Blut auf der weißen Haut. Der Schnee hatte sich mit ihrer Kleidung vermischt und ließ sie fast verschwinden.
„Oh Gott“, entfuhr es ihr. Sie bekreuzigte sich schnell. Viele der Umstehenden taten es ihr gleich.
„Wer ist das?“, wollte Tobias wissen. Er trat näher an sie heran. „Ich habe diese Frau noch nie gesehen.“
Brigitte traute sich ebenfalls näher heran. Ihre Augen weiteten sich. „Um Himmels Willen! Ich schon! Erkennt ihr sie denn nicht?“
Sie schaute in die Runde. Auch Barbara sah sich das Gesicht der Frau genauer an. Sie kam ihr tatsächlich bekannt vor.
„Das ist die Frau von gestern! Die den Berg hinauf gegangen ist“, erklärte Brigitte.
Natürlich, Barbara hatte sie auch gesehen.
„Du hast Recht, Brigitte“, sagte sie. Die Frau war gestern früh am Morgen durchs Dorf gegangen, den Berg hinauf. Barbara hatte sich noch darüber gewundert. Wer ging schon mitten im Winter den Berg hinauf, noch dazu allein? Alles Mögliche könnte passieren. Und wie es aussah, war es das auch.
„Sie muss in den Schneesturm geraten sein“, meinte der Müller.
„Kann nicht sein! Ich habe doch gesehen, wie sie am Nachmittag wieder ins Tal hinunter gegangen ist“, protestierte Brigitte.
„Ach, du wirst dich geirrt haben, Brigitte.“ Tobias winkte sie ab. „Wenn sie abgestiegen wäre, läge sie jetzt nicht hier.“
Brigitte verschränkte die Arme vor der Brust. Sie war sich sicher.
„Wir sollten sie ins Haus tragen. Oder vielleicht in die Kirche“, schlug Barbara vor.
„Auf keinen Fall!“, rief der Schmied. „Es muss alles so bleiben, wie es ist.“
„Genau, die Polizei muss sich das ansehen“, stimmte Tobias zu.
„Polizei?“, fragte der Müller. „Wie willst du bei all dem Schnee die Polizei hierher bringen? Es wird Tage dauern bis die Wege ins Tal wieder sicher sind.“
„Wie dem auch sei.“ Tobias blieb bestimmt. „Sie ist keine von uns. Wahrscheinlich aus der Stadt. Also müssen sich auch die Leute aus der Stadt darum kümmern.“
Von den Männern kam zustimmendes Gemurmel.
„Wenn sie aus der Stadt ist, müsste Barbara sie kennen", meinte Sebastian. „Du bist doch dort aufgewachsen“, fügte er zu ihr gewandt hinzu.
Widerwillig sah sich Barbara das Gesicht der Frau genauer an. „Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Ahnung, wer das ist.“
„Damit wäre das erledigt", beschloss Tobias und wandte sich ab. Die anderen taten es ihm nach und nach gleich. Sie hatten auch noch anderes zu tun.


Auf dem Dorfplatz spielten bereits die Kinder. Sie rodelten einen kleinen Hügel hinunter. Tobias klatschte in die Hände und rief sie in die Schule. Als Lehrer des Dorfes war er dafür verantwortlich, dass die Kinder Lesen und Schreiben lernten.
Barbara und Brigitte gingen zum Bäcker. Brigitte erzählte allen lautstark von den schrecklichen Neuigkeiten. „Sebastian hat sie aus dem Schnee ausgegraben. Ihr müsstet sie sehen, furchtbar! Blutüberströmt und zu Eis gefroren!“
Josef, der Bäcker, wurde bleich, als er Brigittes Bericht hörte. Er schaute zur Wand, an der ein Foto von seiner verstorbenen Frau und Tochter hing.
„Ich sage euch, das war kein Unfall. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie wieder ins Tal hinabstieg! Irgendetwas hat sie wieder zurückgeholt.“
Ohne ein Wort reichte Josef Barbara ihr Brot und nahm das Geld. Brigitte schmückte ihre Geschichte immer weiter aus. Barbara ärgerte sich über ihre Freundin, die immer gleich übertrieb. Aber auch Barbara wurde das Gefühl nicht los, dass mehr hinter der Frau steckte. „Ich frage mich nur, wer sie war und woher sie kam. Und vor allem, was sie mitten im Winter auf dem Berg wollte.“
„Vielleicht werden wir es nie erfahren“, meinte Emma. „Die Berge verschlucken oft die Wahrheit. Nicht wahr, Josef?“ Sie reichte ihm das Geld für einen Leib Schwarzbrot. Er starrte sie nur ausdruckslos an und gab ihr das Brot. Barbara verstand nicht, was Emma damit sagen wollte.
Bevor Emma hinaus ging, warf sie noch einen traurigen Blick auf das Bild mit Josefs Ehefrau, die auch ihre Schwester gewesen war.
„Jedenfalls, sollten wir die Augen offen halten“, sagte Brigitte.


Barbara ging die Frau im Schnee nicht aus dem Kopf. Sie dachte an sie auf dem Weg nach Hause, auch noch während sie die Hühner und Ziegen fütterte und immer noch als sie das Mittagessen vorbereitete.
Barbara stellte den Suppentopf gerade auf den Tisch, da kamen Tobias und Friedrich ins Zimmer. Friedrich stürmte auf den Tisch zu. „Hunger!“
Barbara nahm ihm die Ohrenschützer, Schal und Handschuhe ab. Dann schöpfte sie jedem etwas Suppe in den Teller.
„Wie war die Schule?“, fragte sie.
„Schrecklich!“, beklagte sich Friedrich. Zum Ärger seines Vaters, tat er sich schwer beim Lesen-Lernen.
„Du müsstest dich nur mehr anstrengen“, sagte Tobias.
Doch Friedrich hörte nicht zu. „Vater hat gesagt, ihr habt eine tote Frau gesehen.“
„Tobias!“ Barbara war entsetzt über ihren Mann. „So etwas kannst du doch nicht vor den Kindern sagen.“
„Besser als sie beim Spielen darüber stolpern zu lassen“, meinte er nur und aß weiter.
Barbara schüttelte missbilligend den Kopf.
„Ich weiß, wer sie getötet hat“, sagte Friedrich. „Frieda hat ihn gesehen.“
„Wen?“, fragte Barbara.
„Den Geist.“
Tobias lachte. „Es gibt keine Geister, mein Sohn.“
„Aber Frieda hat ihn gesehen. Er ist mitten in der Nacht durchs Dorf geschwebt, hat sie gesagt. Ein schwarzer Schatten und ein Licht,“ erzählte Friedrich.
Tobias schüttelte nur den Kopf. „Blödsinn. Das Mädchen hat geträumt.“
„Wer hätte die Frau denn sonst töten sollen?“, fragte Friedrich aufgebracht.
„Niemand hat sie getötet“, sagte Tobias bestimmt. „Sie ist vom Schneesturm überrascht worden. Ein Unfall, sonst nichts.“
„Aber –“.
„Dein Vater hat Recht, Friedrich. Geister gibt es nicht. Jetzt iss deine Suppe“, sagte Barbara. Aber nur, damit ihr Sohn nicht weiter über die Frau nachdachte. Sie glaubte nämlich, dass die kleine Frieda etwas in der Nacht gesehen haben könnte.


Donnerstag, 18. November 1886.

Jetzt, wo die Dorfbewohner die Wege geräumt hatten, türmten sich die Schneemassen um das Dorf herum, wie eine Mauer. Dicke Wolken versperrten Sonnenstrahlen den Weg ins Dorf. Das hielt die Kinder nicht davon ab, in ihrer Pause raus zu gehen und im Schnee zu spielen. Sie machten eine Schneeballschlacht und bauten einen großen Schneemann. Barbara hatte gerade den Stall ausgemistet und sah ihnen zu. Sie sah, wie Friedrich sich hinter den Schneemann duckte, um einem Schneeball auszuweichen, und dabei lachte. Barbara lächelte. Dann fiel ihr Blick auf die kleine Frieda. Sie saß auf ihrem Schlitten und sah den anderen nur zu. Kurzerhand ging Barbara zu ihr hinüber.
„Darf ich mich zu dir setzen?“
Frieda zuckte mit den Schultern und rückte ein Stück zur Seite. Barbara setzte sich neben sie auf den kleinen Schlitten.
„Magst du nicht mitspielen?“, fragte Barbara.
„Keine Lust", meinte Frieda.
Eine Weile saßen sie nur da und beobachteten die spielenden Kinder. Keiner schien sie großartig zu beachten. Die anderen Kinder tobten über den Platz. Wenn nur die Sonne scheinen würde, dachte Barbara. Eins der kleineren Kinder rutsche aus und fiel mit dem Gesicht voran in den Schnee. Mit schneeweißem Gesicht tauchte es wieder auf. Es wischte sich den Schnee ab, grinste und lief weiter.
„Was passiert, wenn man stirbt?“, fragte Frieda plötzlich.
Barbara dachte kurz nach. „Man kommt in den Himmel", sagte sie. „Zum lieben Gott.“
„Wird man ein Geist?“ Frieda sah Barbara erwartungsvoll an.
„Ich glaube nicht.“
„Ich schon“, sagte Frieda. Barbara wartete, dass Frieda mehr sagte, aber sie tat es nicht.
„Warum glaubst du das?“, fragte Barbara schließlich.
„Die anderen glauben mir nicht“, sagte Frieda leise. „Aber ich habe einen Geist gesehen. Gestern in der Nacht, bevor ihr diese Frau gefunden habt.“
„Wie hat denn der Geist ausgesehen?“, hakte Barbara nach.
Frieda überlegte. „Da war ein gelbes Licht. Es ist so durch die Luft geschwebt.“ Sie bewegte ihren Arm vor sich auf und nieder. „Und dann ist es verschwunden.“
„Ein Licht", murmelte Barbara. „Frieda.“ Sie nahm die Hand des Mädchens. „Ich glaube dir. Du hast etwas sehr merkwürdiges gesehen. Und ich werde versuchen herauszufinden, was. Aber das bleibt unter uns, okay?“, flüsterte sie und lächelte. „Und du gehst jetzt am Besten mit den anderen spielen.“ Sie drückte Friedas Hand kurz und lies dann los. Frieda zögerte kurz, dann nickte sie und ging zu den anderen Kindern.
Barbara blieb auf dem Schlitten sitzen und dachte darüber nach, was Frieda erzählt hatte. Sie stellte es sich vor. Ein ursprungsloser Schein, der durch die Nacht schwebt. Für ein Kind wird es gespenstisch ausgesehen haben. Aber Geister gab es nicht. Wahrscheinlich hat sie die Frau selbst gesehen, mit einer Laterne. Nur konnte sich Barbara nicht erinnern bei der Frau im Schnee eine Laterne gesehen zu haben.


Barbara stapfte durch den Schnee in Richtung Schusterhaus. Dahinter war alles noch so, wie am Tag zuvor. Barbara zwang sich an die Leiche heranzutreten. Auf den ersten Blick konnte sie keine Laterne sehen, und auch sonst nichts, das Licht machen könnte. Barbara holte tief Luft. Dann beugte sie sich über die Frau und untersuchte ihre Hände und Kleider. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt und in dünne Handschuhe gepackt. In einer Tasche ihres Rockes fand Barbara eine leere Glasflasche und ein Stück gefrorenes Schwarzbrot. Mehr hatte die Frau nicht bei sich. Barbara kniete sich in den Schnee und runzelte die Stirn. Sehr gut ausgerüstet war die Frau für den Berg nicht gewesen. Das unterstützte die Vermutung von Tobias, dass die Arme einfach einen Unfall hatte. Allerdings hätte sie ihre Ausrüstung im Sturm ja auch verloren haben können. Barbara sprang auf und fing an im umliegenden Schnee zu graben. Keine zwei Meter von der Leiche entfernt, stieß Barbara auf einen kleinen Gegenstand. Eine Kerze, halb abgebrannt, die in einem Eisenhalter steckte. So einen Kerzenhalter hatten sie alle zu Hause. „Die Kerze könnte das Licht erzeugt haben, das Frieda gesehen hat“, überlegte Barbara leise. „Weit wäre sie damit aber nicht gekommen.“ Barbara legte den Kerzenhalter zurück in den Schnee und suchte weiter.
„Barbara?“
Barbara zuckte zusammen.
„Was machst du denn da?“ Brigitte war hinter ihr aufgetaucht.
Barbara atmete erleichtert auf. „Hier, den hab ich im Schnee gefunden.“ Sie zeigte Brigitte den Kerzenhalter.
Brigitte schaute sie nur verständnislos an. „Ja, und?“
„Schaut das aus, wie etwas, das eine Bergsteigerin dabei hat? Komm, hilf mir, vielleicht finden wir noch mehr.“ Barbara machte sich wieder ans Graben.
Brigitte war zwar immer noch verwirrt, half ihrer Freundin aber.
Schließlich fanden sie ein Stück Holz. Aber es war kein normales Stück Holz. Es war geschliffen und etwas Metallisches war daran befestigt. Der Gegenstand steckte fest im Schnee, doch zusammen schafften Barbara und Brigitte es ihn herauszuziehen. Barbara traute ihren Augen nicht. Brigitte entfuhr ein „Gott im Himmel!“ Vor ihnen lag eine Pistole im Schnee. Vorsichtig hob Barbara sie hoch. Die Pistole lag schwer in der Hand. Barbara drehte die Waffe herum, betrachtete sie von allen Seiten. Am Griff klebte dunkelrotes Blut. Sie wollte wissen, ob die Pistole abgefeuert wurde, wusste aber nicht, wie sie das Ding aufbekam.
„Lass das!“, verlangte Brigitte. „Am Ende geht das Ding noch los. Leg es lieber wieder hin.“
Frustriert aber vorsichtig legte Barbara die Pistole wieder ab. „Wo kommt die Pistole her?“, wollte Barbara wissen. „Das Ding wird sie doch nicht dabei gehabt haben.“ Mit einer Handbewegung zeigte sie auf die tote Frau im Schnee.
„Ich wusste es! Ich wusste, dass es kein Unfall war!“, entfuhr es Brigitte mit geweiteten Augen. „Jemand hat sie erschossen", flüsterte sie.
Barbara runzelte die Stirn. Sie wagte einen Blick zur Leiche und der Wunde auf der Stirn. „Ich glaube, sie wurde mit der Pistole erschlagen. Aber von wem? Niemand im Dorf kennt sie. Das ergibt alles keinen Sinn.“
„Bestimmt wusste sie zu viel“, vermutete Brigitte. „Ein Geheimnis!“ Die Aussicht auf Tratsch machte sie ganz aufgeregt. Etwas zu aufgeregt, fand Barbara.
„Wir sollten gehen. Sonst denkt noch jemand, wir hätten etwas damit zu tun.“ Damit ging Barbara zu ihrem Haus zurück.


Auch Brigitte ging nach Hause. Sie hatte noch einige Blusen zu nähen. Als sie gerade die Tür aufmachen wollte, hörte sie Stimmen aus dem Nachbarhaus dringen. Dort wohnten der Müller und seine Frau. Ihre Neugier geweckt, schlich sie vorsichtig zu einem Fenster.
„…wenn das jemand erfährt!“ Das war die Stimme von Franz, dem Müller. Er klang aufgewühlt.
„Sobald der Schnee fester wird, gehe ich in die Stadt. Irgendwie werde ich die Sache gerade biegen"
„Du wirst das nicht mehr lange geheim halten können.“ Das war Sebastians Stimme. Brigitte lauschte gespannt.
„Es wird Tage, vielleicht sogar Wochen dauern, bis du gefahrlos ins Tal kannst. Bis dahin stecken wir im Dorf fest. Du musst die Wahrheit sagen, Franz.“
„Das kann ich nicht!“
Brigitte hörte Schritte im Haus. Sie verschwand lieber, bevor sie bemerkt wurde. Sie hatte sowieso genug gehört.
Auf schnellstem Wege lief sie zu Barbara hinüber und klopfte energisch an die Tür. Barbara hatte kaum die Tür aufgemacht, da war Brigitte schon hinein geschlüpft.
„Was ist denn mit dir los?“, fragte Barbara besorgt. „Du bist ja ganz blass.“
„Bist du allein?“, flüsterte Brigitte.
„Ja, warum?“
„Ich weiß, wer der Mörder ist“, sagte Brigitte ernst. Barbara zögerte einen Moment. Dann führte sie Brigitte in die Stube.
„Setz dich erst Mal. Und trink einen Tee.“ Sie schenkte Tee in zwei Tassen ein und stellte sie auf den Tisch.
„Ich weiß, wer der Mörder ist", wiederholte Brigitte nachdrücklich. Sie ignorierte ihre Tasse. „Franz.“
„Franz?“ Barbara runzelte die Stirn und nahm einen Schluck Tee.
„Ja, Franz! Der Müller! Ich habe es mit meinen eigenen Ohren gehört“, erklärte Brigitte. „Er verheimlicht etwas und will deshalb dringend in die Stadt. Und die Frau kommt aus der Stadt. Es passt alles zusammen!“
Barbara überlegte kurz. „Ich weiß nicht recht, Brigitte“, sagte sie schließlich. „Nur, weil er etwas verheimlicht, macht ihn das doch nicht gleich zum Mörder.“
Aber Brigitte war überzeugt. „Ich sage dir, er hat was mit der Sache zu tun.“
„Komisch ist es schon“, überlegte Barbara. „Was könnte so schlimm sein, dass Franz nicht will, dass jemand davon erfährt?“
„Eben!“, rief Brigitte triumphierend und nahm doch einen Schluck Tee.
„Trotzdem", entgegnete Barbara. „Traust du ihm das denn wirklich zu? Du kennst ihn doch schon dein ganzes Leben lang.“
„Allerdings! Deshalb bin ich mir ja so sicher. Er war schon als Junge unberechenbar", erzählte Brigitte. „Er hatte ständig Streit mit anderen Kindern und hat sogar die Ziegen geschlagen.“
Barbara stutzte. „Er wirkt gar nicht gewalttätig.“
„Das versteckt er nur gut“, behauptete Brigitte. „Glaub mir, der Mann zu ist allem fähig.“
„Am besten, wir reden morgen mal mit ihm“, beschloss Barbara und fügte hinzu: „In Ruhe.“ Falls sich ganze doch als Missverständnis herausstellen sollte, wollte sie nicht, dass Franz gleich von allen verurteilt würde. Er hatte zumindest die Chance verdient, sich zu erklären.
Die Frauen tranken schweigend ihren Tee aus. Bevor Brigitte ging, nahm Barbara ihr das Versprechen ab, zu niemanden ein Wort zu sagen, bevor sie morgen mit Franz gesprochen hatten. Barbara hoffte, dass Brigitte ausnahmsweise etwas für sich behalten konnte.


Freitag, 19. November 1886.

Obwohl es ihr schwer fiel, hatte Barbara ihrem Mann nichts von ihrem Verdacht erzählt. Sie wartete, bis Tobias und Friedrich in der Schule waren, dann machte sie sich auf zu Brigitte. Sie brauchte gar nicht zu klopfen. Brigitte hatte am Fenster gewartet, dass Barbara endlich kam. Ohne überhaupt ein Wort zu sagen, kam sie aus dem Haus und zog Barbara die wenigen Schritte zu Franz‘ Haustür mit sich. Ohne zu zögern klopfte sie vehement an die Tür.
„Vielleicht hätten wir uns vorher noch absprechen sollen", flüsterte Barbara. Brigitte winkte nur ab. Dann ging ohnehin die Tür auf. Luise, Franz' Frau, stand dort.
„Brigitte", sagte sie überrascht. „Hatten wir nicht abgemacht, dass ich heute Nachmittag bei dir vorbei komme, wegen der Bluse?“
„Ja, aber deshalb sind wir nicht hier“, antwortete Brigitte schnell. „Es geht um Franz. Er hat –"
„Wir möchten mit ihm sprechen“, fiel Barbara ihr ins Wort. „Über die Getreidevorräte. Für den Winter. Ist er hier?“
„Er ist hinten in der Mühle, aber -"
„Danke!“, rief Brigitte und die beiden Frauen verschwanden hinters Haus.
Die kleine Mühle war direkt am Ufer des Baches, der hier den Berg hinab floss. Das Wasser war halb gefroren und das Mühlrad bewegte sich nicht. Franz zerbrach das Eis mit einer Schaufel.
„Franz!“, rief Brigitte.
Er sah auf. „Guten Morgen, Brigitte. Barbara.“ Er nickte ihnen zu, dann wandte er sich wieder an das Eis.
„Franz.“ Barbara machte einen zögerlichen Schritt nach vorne. „Können wir dich etwas fragen?“
„Sicher.“ Franz stieß die Schaufel in den Schnee und lehnte sich daran. „Worum geht’s?“
„Nun.“ Sie zögerte. „Das ist vielleicht unangenehm, aber es ist wichtig.“
Franz runzelte die Stirn. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Brigitte war schneller.
„Ich weiß, was du getan hast!“, rief sie, bevor Barbara sie daran hindern konnte.
„Was?“ Franz war verwirrt.
„Du brauchst es gar nicht zu leugnen. Ich habe euch gehört“, fuhr Brigitte fort.
„Spioniert ihr mir etwa nach?“ Franz richtete sich auf und starrte die zwei Frauen fassungslos an.
„Natürlich nicht!“, versicherte Barbara. Sie versuchte Franz zu besänftigen. Doch bevor sie Brigittes Vorwurf erklären konnte, tauchte Luise hinter ihnen auf.
„Was ist denn los?“, wollte Franz‘ Frau wissen.
„Die zwei haben den Verstand verloren“, erklärte Franz. Er ließ seine Schaufel im Schnee stecken und stapfte schnellen Schrittes zurück zum Haus.
„Augenblick, wir sind noch nicht fertig!“ Brigitte lief ihm nach. Auch Barbara und Luise folgten ihnen. Kurz vor der Haustür holten sie Franz ein. Brigitte packte seinen Arm.
„Gib‘s doch zu. All deine Ausflüge in die Stadt. Es ist offensichtlich.“
„Franz, wovon redet sie?“, wollte Luise wissen.
„Was, was weiß ich", stammelte Franz und riss sich aus Brigittes Griff. „Das Weib spinnt!“
„Lügner!“, rief Brigitte.
„Brigitte, das bringt doch nichts.“ Barbara zog ihre Freundin ein Stück von Franz weg. An ihn gerichtet sagte sie: „Sag uns doch einfach, was du mit der Frau zu tun hast.“
„Welche Frau?“, fragte Franz verständnislos.
„Na die hinter Sebastians Haus. Mörder!“ entgegnete Brigitte.
Der Lärm ihrer Unterhaltung lockte inzwischen neugierige Blicke an.
Franz war sprachlos. Damit hatte er nicht gerechnet. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber seine Frau war schneller.
„Wie kommst du dazu, ihm so etwas zu unterstellen?“ Luise war empört. „Franz kennt das Weib gar nicht! Das war ein Unfall!“
„Woher willst du das wissen?“, entgegnete Brigitte. „Er ist ständig in der Stadt unterwegs. Wer weiß, was er noch alles auf dem Gewissen hat. Oder wen!“
Barbara trat schnell zwischen die beiden Frauen, die so aussahen, als wollten sie sich gleich an die Gurgel gehen.
„Wir haben eine blutverschmierte Pistole bei der Leiche gefunden. Sie wurde umgebracht. Aber wir sollten das vielleicht nicht hier besprechen“, sagte sie mit Blick auf die neugierigen Zuschauer, die inzwischen mehr geworden waren.
„Nein“, entgegnete Brigitte. „Ich finde, es sollen alle hören, was für ein heimtückisches Schwein er ist, der einfach Frauen erschießt und es vertuschen will!“
„Ich habe niemanden erschossen!“ Franz hatte endlich seine Stimme wieder gefunden. „Ich habe nicht einmal ein Gewehr!“
„Pah! Das glaubt dir niemand!“ Brigitte wollte ihm weiter Vorwürfe machen, aber Barbara reichte es jetzt.
„Sei mal kurz still, Brigitte“, forderte sie. „Franz. Brigitte hat gehört, wie du mit Sebastian geredet hast. Über etwas, das niemand erfahren darf?“
Franz schüttelte nur entrüstet den Kopf.
„Du musst zugeben, es ist ein komischer Zufall. Du warst außerdem der Erste, der ihren Tod auf den Schneesturm schieben wollte“, erinnerte sich Barbara. Da trat Sebastian näher.
„Ich denke, es ist Zeit. Sag es ihnen.“
„Ich bin hier niemandem Rechenschaft schuldig!“, polterte Franz. „Schon gar keinem spitzelndem Weibsbild.“ Er warf Brigitte einen verächtlichen Blick zu.
„Ich stimme dir zu.“ Sebastian nickte. „Aber früher oder später musst du die Wahrheit sagen. Ich finde, besser früher.“
Franz überlegte. Zähneknirschend sagte er schließlich: „Na gut.“ Er zögerte und alle schauten ihn erwartungsvoll an.
„Es hat vor ein paar Monaten angefangen. Ich war in einer Bar in der Stadt. Ich wollte nur etwas Dampf ablassen. Und da war dieses Wattspiel. Es hat richtig Spaß gemacht und ich war richtig gut.“ Franz schaute auf den Boden. „Aber dann wollte der eine Kerl das Spiel interessanter machen. Wir haben angefangen um Geld zu spielen.“
Luise stockte der Atem. „Franz, nein", flüsterte sie.
„Am Anfang habe ich viel gewonnen!“, sagte er schnell. „Aber dann klappte es irgendwie nicht mehr. Ein Spiel nach dem anderen habe ich verloren. Und unser Geld auch.“ Er wandte sich an Luise und nahm ihre Hände. „Ich schwöre dir, Liebling, ich bringe das wieder in Ordnung. Und ich rühre nie wieder eine Wattkarte an.“
„Das ist alles?“, meldete sich Brigitte. Sie klang beinahe enttäuscht.
Franz und auch alle anderen ignorierten sie.
„Franz, ich weiß, das war nicht leicht für dich“, sagte Barbara langsam. „Danke, dass du es uns erzählt hast. Und wenn du irgendwie Hilfe brauchst, Tobias und ich sind jederzeit für euch da.“ Und dann fügte sie noch hinzu: „Und entschuldige. Wir hätten dich nicht verdächtigen dürfen. Ich hoffe du kannst uns verzeihen.“
Franz sah sie an. „Ich überlege es mir.“ Mit einem Blick auf Brigitte fügte er hinzu: „Das überlege ich mir noch gut.“


Im Schulhaus hatten sich die Männer an einem langen Tisch versammelt. Sie rauchten Pfeifen und tranken Wein. Sie hatten viel zu besprechen. Franz Geheimnis war in aller Gedanken.
„Hättest du doch nur mal was gesagt“, meinte Einer.
„Ich finde, das ist seine Sache!“, erklärte ein Anderer. „Er will seine Probleme selbst regeln. Gut so.“ Und prostete ihm zu.
Tobias und Karl, Brigittes Ehemann, war die Sache nur unglaublich peinlich. Sie entschuldigten sich für ihre Frauen und baten erneut ihre Hilfe an. Aber Franz wollte davon nichts wissen. „Ich komme klar. Das bin ich Luise schuldig.“
Für einige Sekunden sagte niemand etwas.
Der alte Krämer brach das Schweigen. „Wenigstens verdächtigt dich jetzt niemand mehr ein Mörder zu sein.“ Er grinste schief. Ein paar lachten. Franz verdrehte die Augen.
„Leider bedeutet das auch, dass wir immer noch nicht wissen, was mit der Frau passiert ist“, sagte der Schmied.
„Ist ja auch nicht unsere Sache“, beharrte der alte Mann.
„Vielleicht schon, wenn es wirklich Mord war“, sagte Sebastian. „Wir sollten etwas unternehmen.“
„Und was? Es ist jetzt zwei Tage her“, erinnerte sie Karl. „Der Mörder ist längst über alle Berge.“
„Es sei denn“, sagte Tobias langsam. „Er ist noch hier.“
Blicke wanderten über den Tisch.
„Moment!“, rief Franz. „Wir können uns nicht ständig gegenseitig verdächtigen. Vor allem jetzt nicht.“
„Franz hat recht“, nickte Sebastian. „Das Dorf ist eingeschneit und wir wissen nicht, für wie lange. Darauf sollten wir uns konzentrieren. Wie sieht es mit unseren Vorräten aus?“
„Ich habe noch genug Mehl, um eine Woche zu backen. Zwei, wenn ich den täglichen Bedarf halbieren kann“, meinte der Bäcker.
„Die Mühle ist zugefroren. Aber ich bin dabei etwas vom Eis zu brechen. Mit etwas Glück krieg ich sie in Gang. Getreide habe ich genug gelagert“, erklärte Franz.
„Was ist mit Holz?“, fragte Tobias. „ Bei der Kälte werden wir viel zum Heizen brauchen.“
„Holz ist genug, aber unser Dach ist undicht“, berichtete der Krämer. „Ich brauche Hilfe, es zu reparieren.“
„Die bekommst du“, versprach Sebastian.
Alle schlossen sich ihm an. Es lagen harte Tage vor ihnen und jeder brauchte Hilfe mit etwas. Und jeder bot seine Hilfe im Gegenzug an. Dabei vergaßen sie fast die Leiche im Schnee.


Samstag, 20. November 1886.

„Emma?!“ Emmas Ehemann Johann kam aus ihrem Haus gehumpelt, gestützt auf einen Stock. „Habt ihr Emma gesehen?“
„Nicht seit heute morgen. Warum?“, fragte Luise.
Johann ballte die Fäuste. „Jetzt ist diese dumme Frau wirklich da hoch gegangen. Dabei habe ich es ihr verboten!“ Wütend schaute er den Berg hinauf.
„Aber, Johann“, sagte Luise vorsichtig. „Weißt du denn nicht, was heute für ein Tag ist? Emma geht doch jedes Jahr am Todestag ihrer Schwester hinauf zu der Stelle, wo sie gestorben ist, und betet.“
„Das kann sie doch auch am Grab machen!“ Wütend wandte er sich ab und stapfte ins Haus. Er murmelte noch etwas über „verrückte Weiber“ und schlug die Tür knarrend hinter sich zu.
„Er hat nicht ganz unrecht, sich Sorgen zu machen“, meinte Barbara. „Bei dem vielen Schnee…“. Sie schaute den Berg hinauf, wo die Schneemassen bedrohlich locker auf dem Hang zu liegen schienen.
„Emma weiß schon, was sie tut. Seit 25 Jahren geht sie bei Schnee da hinauf“, versicherte Luise, schaute aber selbst beunruhigt auf die Schneetürme.


Emma stapfte schnaufend durch den Schnee. Mit einer Hand stütze sie sich auf einen Skistock. Trotz Schneeschuhe versank sie bei jedem Schritt bis zum Knie. Nur noch ein kleines Stück. Emma wusste genau, wo das Kreuz stand. Egal, wie viel Schnee darauf liegen mag, sie würde es immer finden. Dort, wo die Klippen eine Bucht bildeten. Einige Schritte vom Abgrund entfernt, ragte ein Stück Holz aus dem Schnee. Emma ging darauf zu, legte ihren Stock beiseite und schaufelte mit den Händen den Schnee zur Seite. Nach und nach legte sie das kleine Kreuz frei. Auf dem Querbalken war der Name „Anna“ eingeritzt. Emma strich mit den Fingern liebevoll darüber. „Hallo, Anna.“ Sie kniete sich in den Schnee, schloss die Augen und begann zu beten.
Als sie fertig war, räumte sie noch mehr Schnee weg. Sie wollte das Gras darunter sehen. Während sie arbeitete, erzählte sie Anna alles was geschehen war.
„Eine junge Frau wurde tot im Dorf gefunden. Furchtbar. Angeblich ist sie am Tag zuvor den Berg herauf gegangen. Aber niemand will sie kennen. Ich habe es nicht übers Herz gebracht hinzusehen. Und sie lassen sie einfach dort im Schnee liegen! Gottlos, sowas.“
Emma hielt inne. Unter dem Schnee kam ein Stück Papier zum Vorschein. Es war unter einen Stein geklemmt. Emma hob den Stein an und nahm das Papier. Es war ein Brief. Sie runzelte die Stirn. Wie war der hierher gekommen? Wer könnte – Emma schnappte nach Luft. Sie umklammerte den Brief mit einer Hand, schnappte sich den Skistock mit der anderen und stieg so schnell sie konnte wieder ins Dorf hinunter.


Barbara stand in Brigittes Stube. Sie hielt ihre Arme hoch, während Brigitte ihr die neue Bluse anpasste.
„Wie ist das?“, fragte Brigitte.
„Etwas eng unter den Achseln.“
Brigitte nahm die Nadel wieder heraus. Sie startete gerade einen neuen Versuch, da ertönte Geschrei von draußen. Brigitte stach Barbara beinahe mit der Nadel.
„KOMMT ALLE HER!“
Barbara und Brigitte warfen sich fragende Blicke zu.
„SCHNELL!“
Sie liefen aus dem Haus.
Emma lief von Haus zu Haus und scheuchte alle aus ihren Häusern. Schwer atmend und keuchend stolperte sie fast über ihren Rock. „Kommt alle!“ In einer Hand zog sie einen Skistock hinter sich her. Mit der anderen drückte sie etwas an ihre Brust.
„Seht doch … was ich gefunden habe!“, rief sie außer Atem.
Sofort ließen alle ihre Arbeit liegen. Sie schauten aus Fensterläden oder Stalltüren. Die Kinder hörten auf Schneemänner zu bauen.
Emma stützte sich auf ihrem Stock ab und schnappte nach Luft.
„Das hier … lag eingeklemmt unter einem Stein … oben bei Annas Kreuz.“ Sie hielt einen Brief in der Hand. Barbara runzelte die Stirn.
„Wer hat den dort gelassen?“, fragte Brigitte.
„Vielleicht Josef?“, schlug Barbara vor und schaute zu Josef, der mit versteinerter Miene in der Tür seines Hauses stand. „Anna war schließlich seine Frau.“
Doch Emma schüttelte verächtlich den Kopf. „Der Mann war schon seit über 20 Jahre nicht mehr da oben.“
„Stimmt“, sagte Brigitte. „Seit seine Frau und Tochter verunglückt sind, verlässt er kaum noch das Haus.“
„Nur eine Person kann den Brief am Kreuz gelassen haben“, sagte Emma und schaute in Richtung von Sebastians Haus. Die anderen folgten ihrem Blick.
„Du meinst–“ Brigitte stockte. „Die Frau … die Tote hat den Brief zurückgelassen?“
„Sie ist doch gestern den Berg hinauf gegangen. Sie muss es gewesen sein“, sagte Emma bestimmt.
„Lies ihn vor, Emma“, verlangte Brigitte. „Vielleicht sagt uns der Brief, wer die Frau war.“
Emma brach das Siegel und las:


„Geliebte Mutter,

es ist so lange her. Ich kann nicht in Worten ausdrücken, wie sehr ich dich all die Jahre vermisst habe. Ich habe lange gebraucht um zu verstehen, habe sogar versucht zu vergessen. Ich war nicht mehr ich. Doch dann habe ich dein Geheimnis entdeckt und jetzt endlich den Mut gefasst zurückzukommen. Ich verurteile dich nicht. Im Gegenteil, noch heute Nacht werde ich dafür sorgen, dass der, der für deinen Tod verantwortlich ist, bezahlt.

Ich bete, dass wir bald wieder vereint sind.

Deine liebende Tochter, Maria“


Im Dorf war es totenstill. Kleine Schneeflocken fielen vom Himmel.
„Maria“, brach Barbara das Schweigen. „Die Tochter von Anna und Josef? Ist sie nicht als Kind gestorben?“
„Ja“, erklärte Sebastian. „Sie war gerade sieben Jahre alt. Josef war mit seiner Familie oben am Berg. Aber seine Frau und Tochter sind in eine Lawine geraten. Anna haben wir im Frühling wieder gefunden, aber Maria hat keiner je wieder gesehen.“
„Bis jetzt“, sagte Emma mit Tränen in den Augen. Sie war nicht die einzige.
Brigitte schluchzte leise.
„Was für ein Geheimnis meint sie im Brief?“, fragte Barbara. Sie schaute in ahnungslose Gesichter. Nur Emma sah eher verlegen aus. „Emma?“
„Ich habe meiner Schwester geschworen, nie jemandem davon zu erzählen“, sagte sie langsam. „Doch ich denke, es muss sein.“
Während sie erzählte schaute sie niemanden an. Ihr Blick war starr auf den Brief gerichtet.
„Anna war sehr unglücklich. Sie sprach immer davon, wie wenig Josef sie beachtete. Er war herrisch und gab ihr nie die Zuwendung, die sie brauchte. Also suchte Anna sie sich woanders. Sie hatte einen Geliebten in der Stadt.“
Alle schnappten nach Luft.
„Ich glaube, Josef hat ihr Geheimnis herausgefunden. Wisst ihr noch? Er hat irgendwann einfach aufgehört in der Stadt Geschäfte zu machen. Er hat versucht, Anna von der Stadt fern zu halten, doch Anna hat Wege gefunden mit ihrem Geliebten zusammen zu sein.“ Emma seufzte. „Ich habe ihr dabei geholfen.“
Die Dorfbewohner waren schockiert. Vor allem die Männer schüttelten missbilligend die Köpfe.
„Eine Schande“, sagte jemand.
„Maria schreibt in dem Brief, dass sie den Tod ihrer Mutter rächen wollte“, überlegte Barbara leise. „Vielleicht war deren Tod ja doch kein Unfall.“ Sie drehte sich zu Josef um, doch der war verschwunden. Die Tür stand offen. Ohne darüber nachzudenken, rannte Barbara ins Haus. Es war dunkel und überall lagen Sachen herum. Stiefel und Mäntel, Töpfe und Stühle lagen umgeworfen auf dem Boden.
Im Hinterzimmer hörte sie Geräusche. Sie stieß die Tür auf.
„Josef!“
Er schreckte auf. Josef war gerade dabei einen Rucksack zu packen.
„Wo willst du hin?“, wollte Barbara wissen.
Er schaute sie böse an. „Verschwinde aus meinem Haus!“
Barbara bewegte sich nicht von der Stelle. „Hast du gehört, was in dem Brief steht? Deine Tochter hat damals überlebt.“
Josef antwortete nicht.
„Das scheint dich nicht zu freuen“, stellte Barbara fest.
Josef schulterte den Rucksack.
„Sie hat recht, oder? Du bist schuld an Annas Tod.“
„Anna war meine Frau!“ Endlich brach Josef sein Schweigen. „Und sie hat mich verraten, betrogen! Dafür hat sie bezahlt“, knurrte er.
„Was ist damals passiert, Josef?“, hackte Barbara weiter nach.
Josef lachte bitter. „Es war ein Unfall. Das mit Anna. Wir haben uns gestritten. Die Hure wollte mich doch tatsächlich verlassen. Und mir meine Tochter wegnehmen! Ich habe sie geschubst und sie ist die Klippe runtergefallen.“
„Und Maria?“
„Ha! Maria!“, rief Josef. “Meine Tochter! Sie hat gesehen, wie Anna gestürzt ist. Dann ist sie weggelaufen. Ich habe versucht, sie zu finden! Aber sie ist nie wieder aufgetaucht. Bis sie mir vor vier Tagen eine Nachricht hinterlassen hat. Wollte mich treffen, mitten in der Nacht. Das undankbare Ding hat mich bedroht! Mit einer Pistole! Ich habe mich nur gewehrt!“
„Du hast sie getötet. Beide! Du warst es, den Frieda gesehen hat, mit der Kerze.“ Barbara war entsetzt. „Dafür wirst du in der Hölle brennen! Und den Rest deines Lebens im Gefängnis verbringen!“, rief sie.
Barbara war so auf Josefs Worte fixiert gewesen, dass sie gar nicht gemerkt hatte, wie er langsam näher gekommen war.
„Das werden wir ja sehen!“ Josef rannte auf Barbara zu. Bevor sie reagieren konnte, stieß er sie aus dem Weg und sie fiel zu Boden. Sie brauchte einige Sekunden, um sich wieder hochzurappeln. Doch Josef war bereits aus dem Fenster geklettert und in der Dämmerung verschwunden.


Die Dorfbewohner überlegten Josef zu verfolgen, doch es wurde bereits Nacht. Sie würden nicht weit kommen und beschlossen, dass auch Josef keine guten Chancen hatte.
Tobias und Sebastian machten sich auf und trugen Maria vorsichtig in die Kirche. Emma wusch ihr das Blut aus dem Gesicht und schüttelte den Schnee aus ihren Kleidern. Dann legte sie Maria den Brief auf die Brust und faltete ihre Hände darüber. Am folgenden Tag wollten sie dem Mädchen ihren letzten Wunsch erfüllen und sie neben ihrer Mutter begraben.

 

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