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Geh doch mal unter Menschen

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04.04.2008
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Geh doch mal unter Menschen

Geh doch mal unter Menschen

Hast du gesehen, wie schön es draußen ist, sagen sie fast gleichzeitig und halten ihre Hand. Nicht fest, sie spürt kaum Druck, nur ein Huschen der warmen Finger.
Sie nickt, schaut aus dem Fenster auf die Lichter, die in der Scheibe tanzen. Flackernde Irrlichter, denkt sie und zieht ihre Hand zurück. Die Eltern sehen sich vielsagend an.
Immer sorgen sie sich, lästige Kümmerer. Doch jetzt tut es ihr Leid, dass sie die rauen Hände einfach in der Luft hängen ließ. Nur zögernd tasten sie sich wieder in den Schoß, zurück auf den Tisch und schlingen sich umeinander.
Hilflose Hände, denkt sie und lehnt die Wange an das kühle Fensterglas. An der Kreuzung stauen sich die Autos. Rotes Ampellicht, dreifach zerfließend. Es beginnt zu schneien. Kurz überm Asphalt verschwindet das Weiß, verwandelt sich in Regen.
Sie findet es banal. Jetzt Gelb, dann Grün, ein wütendes Hupen, Motorstottern ganz vorne.
Sieh doch, es schneit. Die Stimme der Mutter drängt mit falscher Munterkeit. Sie richtet sich in den Himmel, nicht auf die Erde, dort, wo die Pfützen glänzen.
Soll ich Kaffee machen? Der Vater ist aufgestanden, schlenkert mit den Armen.
Er ist hilflos, denkt sie, was tue ich ihnen nur an?
Ja, koch Kaffee, ganz starken. Die Wange löst sich für einen Moment von der Scheibe, die schöne, kühle Wange. Erwartungsvoll neigt der Vater den Kopf. Eifriges Nicken.
Oh ja, so stark wie du ihn gerne magst. Er macht sich nützlich, hat endlich was zu tun, rumort in der Küche und singt eine Melodie, die sie kennt. Ein Wanderlied, denkt sie und sucht einen neuen, eiskalten Platz für die Wange.
Was noch frisch und jung an Jahren…
Die Mutter weint. Die Tochter hört das an ihrem Atem. Wenn sie ruckartig schnell die Luft einsaugt, weint sie. Niemand soll es merken. Lucia, Lucia, denkt die Mutter, warum lebst du nicht mehr? Es reicht doch, wenn einer tot ist, wirklich tot.
Sie kann die Gedanken hören, für heute erschöpfen sich die Kräfte der Älteren.
Der Kaffee duftet, doch sie nimmt nur einen Schluck. Er schmeckt wie gestern und vorgestern, gut und stark. Ein Schluck genügt, sie kennt das Aroma. Unten springt die Ampel wieder auf Rot. Die Autos schicken Abgaswolken in den Schnee. Lucia sieht den schwarzen Rauch aufsteigen in das weiße Gewirr. Die Flockenbataillone verdichten sich trotzig, umsonst.
Geh doch mal raus, unter Menschen, es ist doch Advent. Die Mutter flüstert es fast. Sie sollte das Flehen unterlassen; es ermüdet mich, denkt Lucia.
Geschlossene Kreise Mama, antwortet sie, geschlossen und kugelrund.
Die Tasse hüpft klirrend auf dem Teller. Was redest du da, Kind, ruft die Mutter. Ihre Stimme klingt hoch und dünn.
Ich gucke mal die Tagesschau, sagt der Vater und klickt auf die Fernbedienung.
Du bist doch noch jung, keine vierzig, drängt die Mutter.
Als ob das was bedeutet, denkt Lucia mit müder Heiterkeit. Jedes Jahr ist Advent, Mama.
Der Vater starrt durch brennende Häuser.
Sie sind gegangen. Für heute ist Lucia allein. Unten stehen sie auf dem nassen Trottoir. Der Vater will der Mutter den Mantelkragen hochstellen. Sie wehrt ihn ab; dann gehen sie nebeneinander, ohne Berührung.
Was tue ich ihnen an, denkt Lucia wieder, es ist doch Advent.
Sie geht durch die stille Wohnung. Die Mutter hat das Geschirr gespült.
Im Schlafzimmer greift sie unter ihr Kopfkissen.
Lucia drückt ihr Gesicht in Martins Pullover. Ich möchte tot sein, denkt sie, bei ihm sein.
Sie setzt sich wieder ans Fenster, den Pullover im Arm, lehnt die Wange an einen neuen, eiskalten Fleck und sieht hinaus.
Es ist leise geworden da draußen. Alles in Weiß gehüllt. Die Autos rollen durch glitzernden Schnee.

 

Hallo Jutta!

Das ist wundervoll. Es ist keine Geschichte, die man schnell einfach so runterlesen kann, man braucht Zeit und muss sich einlassen, dafür wird man aber mit herrlichen Bildern belohnt. Die Wange und die Scheibe, eine kleine Berührung mit der Außenwelt, und manchmal wärmt sich die Scheibe, nimmt Wärme auf und wirkt nicht mehr so kalt. Und dann sucht man sich einen neuen, unverbrauchten Platz, weil man nicht will, dass die Welt draußen auch warm sein kann und weil man nicht will, dass man selbst noch Wärme besitzt.

Sehr schön geschrieben.

Bleibt zu hoffen, dass bald der Frühling kommt.

Schöne Grüße,

yours

 

Hallo Jutta,

ich finde in der Rubrik Weihnachten hat diese Geschichte wenig verloren. Dieses Thema spielt ja gar keine Rolle.
Ansonsten sind deine Schilderungen sehr eindringlich bei mir angekommen. Deine Prota schämt sich dafür, ihren Eltern weh zu tun, indem sie sich so verhält, wie sie sich eben verhält: leblos, lethargisch, eben ausgelaugt und energielos. Aber sie vermag nicht, aus diesem Vakuum herauszuschlüpfen. Das macht den Umgang mit dm Verlust noch schwieriger.
Ich fand es auch passend, dass du auf Anführungsstriche verzichtet hast, weil die Form so der (für die Prota monoton und eintönig wirkende) Inhalt unterstützt wird.
Doch, hat mir gefallen. Nr die Rubrik ist daneben.

grüßlichst
weltenläufer

 
Zuletzt bearbeitet:

Sieh doch, es schneit. Die Stimme der Mutter drängt mit falscher Munterkeit. …Ein Wanderlied, denkt sie und sucht einen neuen, eiskalten Platz für die Wange.
Was noch frisch und jung an Jahren… Ich kann die Melodie hören - grausam. Das tritt sie noch tiefer hinein in ihre Trauer, wenn jemand so kommt…

Was tue ich ihnen an, denkt Lucia wieder, es ist doch Advent.

Trauer und weihnachtliche Erwartungen – eine Katastrophe. Jetzt fühlt sie sich auch noch schuldig, weil sie nicht fröhlich ist.

Lucia drückt ihr Gesicht in Martins Pullover. Ich möchte tot sein, denkt sie, bei ihm sein.
Sie setzt sich wieder ans Fenster, den Pullover im Arm, lehnt die Wange an einen neuen, eiskalten Fleck und sieht hinaus.
Wäre sie damit bloß allein geblieben! Schlimm, wenn Menschen mit der Trauer der Mitmenschen nicht umgehen können. Leider fast normal.
Stark beschrieben.

Und zur Rubrik: Weihnachten steht doch für Mitgefühl, Nächstenliebe, Zusammenhalt ... denkste. Deswegen paßt es hier. Weihnachten ist für viele gespielte Fröhlichkeit, da wird ein Schalter umgelegt und es läuft ein Band ab ... im Normalfall schon schlimm genug. In Deiner Geschichte wird genau das grausam. Auch wenn die Eltern das gar nicht merken und eigentlich nur hilflos sind, weil sie schon mit ihren eigenen Gefühlen nie umgehen konnten.

Gruß Set

 

Hallo Jutta,

die Geschichte ist wundervoll. Das Gefängnis der Trauer, die Qual des weder Könnens noch Wollens, gleichzeitig erkennend, dass weiteres Leid daraus erwächst, das ist auf sehr berührende Weise in eine sehr runde Geschichte gekleidet worden.

Viele Grüße, Sister Vigilante

 

Hallo bmn,
da dachte ich zuerst, jetzt käme der Totalverriß, nach dem Satz mit dem Trauerkloß...Bin sehr froh und danke dir, besonders für das Sprachkompliment!

Hallo yours,
das hast du schön interpretiert, die Sache mit der Scheibe, es trifft ziemlich genau meine Intention. danke dir für das Lob und hoffe, dass auch der Winter noch schön wird!

Hallo weltenläufer!
Also, ist Weihnachten denn nur Zuckerbäckerei und Kerzenschein? Ich denke, es ist ein gaaaanz großer Teil von Weihnachten, dass in vielen Familien so getan wird als ob...man sich freut, man miteinander fühlt, man sich füreinander interessiert, und je weniger das klappt, desto mehr Lichter und Tannenduft vielleicht? In meiner Geschichte klappt es eben nicht, da ist zwar der Wunsch, der Konvention genüge zu tun, doch es klappt nicht, echte Nähe ist (zumindest in der Phase) nicht möglich. Und es wird in der Adventzeit besonders deutlich sichtbar, weil es da am Wenigsten erwünscht ist. Aber das es dir gefallen hat, macht natürlich alles wieder glatt und das dritte Kerzchen brennt schon!

Hallo set,
schön,die einzelnen Stellen, die du interpretiert hast. Ja, ich denke auch, dass es allgemein schwer fällt und auch schwer ist, mit Trauer umzugehen, bei nahestehenden menschen kann man sich wirklich hilflos fühlen, weil es ganz besonders schmerzt. Wie du schon schreibst, haben die Eltern es auch nie gelernt. Danke dir!

Hallo rueganerin,
natürlich kannst du das so verstehn, doch es war ehrlich gesagt, nicht ganz so gemeint. Der vater wollte in seiner Hilflosigkeit sich selbst das Gefühl geben, der Tochter etwas Gutes zu tun. Aber das Eine schließt das Andere ja nicht aus. Vielen Dank für die Zitate!

Hallo Sister Vigilante,
danke für das schöne Lob und nachträglich willkommen auf KG.de!

Euch Allen herzliche Grüße,
Jutta

 

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