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Geh doch mal unter Menschen
Geh doch mal unter Menschen
Hast du gesehen, wie schön es draußen ist, sagen sie fast gleichzeitig und halten ihre Hand. Nicht fest, sie spürt kaum Druck, nur ein Huschen der warmen Finger.
Sie nickt, schaut aus dem Fenster auf die Lichter, die in der Scheibe tanzen. Flackernde Irrlichter, denkt sie und zieht ihre Hand zurück. Die Eltern sehen sich vielsagend an.
Immer sorgen sie sich, lästige Kümmerer. Doch jetzt tut es ihr Leid, dass sie die rauen Hände einfach in der Luft hängen ließ. Nur zögernd tasten sie sich wieder in den Schoß, zurück auf den Tisch und schlingen sich umeinander.
Hilflose Hände, denkt sie und lehnt die Wange an das kühle Fensterglas. An der Kreuzung stauen sich die Autos. Rotes Ampellicht, dreifach zerfließend. Es beginnt zu schneien. Kurz überm Asphalt verschwindet das Weiß, verwandelt sich in Regen.
Sie findet es banal. Jetzt Gelb, dann Grün, ein wütendes Hupen, Motorstottern ganz vorne.
Sieh doch, es schneit. Die Stimme der Mutter drängt mit falscher Munterkeit. Sie richtet sich in den Himmel, nicht auf die Erde, dort, wo die Pfützen glänzen.
Soll ich Kaffee machen? Der Vater ist aufgestanden, schlenkert mit den Armen.
Er ist hilflos, denkt sie, was tue ich ihnen nur an?
Ja, koch Kaffee, ganz starken. Die Wange löst sich für einen Moment von der Scheibe, die schöne, kühle Wange. Erwartungsvoll neigt der Vater den Kopf. Eifriges Nicken.
Oh ja, so stark wie du ihn gerne magst. Er macht sich nützlich, hat endlich was zu tun, rumort in der Küche und singt eine Melodie, die sie kennt. Ein Wanderlied, denkt sie und sucht einen neuen, eiskalten Platz für die Wange.
Was noch frisch und jung an Jahren…
Die Mutter weint. Die Tochter hört das an ihrem Atem. Wenn sie ruckartig schnell die Luft einsaugt, weint sie. Niemand soll es merken. Lucia, Lucia, denkt die Mutter, warum lebst du nicht mehr? Es reicht doch, wenn einer tot ist, wirklich tot.
Sie kann die Gedanken hören, für heute erschöpfen sich die Kräfte der Älteren.
Der Kaffee duftet, doch sie nimmt nur einen Schluck. Er schmeckt wie gestern und vorgestern, gut und stark. Ein Schluck genügt, sie kennt das Aroma. Unten springt die Ampel wieder auf Rot. Die Autos schicken Abgaswolken in den Schnee. Lucia sieht den schwarzen Rauch aufsteigen in das weiße Gewirr. Die Flockenbataillone verdichten sich trotzig, umsonst.
Geh doch mal raus, unter Menschen, es ist doch Advent. Die Mutter flüstert es fast. Sie sollte das Flehen unterlassen; es ermüdet mich, denkt Lucia.
Geschlossene Kreise Mama, antwortet sie, geschlossen und kugelrund.
Die Tasse hüpft klirrend auf dem Teller. Was redest du da, Kind, ruft die Mutter. Ihre Stimme klingt hoch und dünn.
Ich gucke mal die Tagesschau, sagt der Vater und klickt auf die Fernbedienung.
Du bist doch noch jung, keine vierzig, drängt die Mutter.
Als ob das was bedeutet, denkt Lucia mit müder Heiterkeit. Jedes Jahr ist Advent, Mama.
Der Vater starrt durch brennende Häuser.
Sie sind gegangen. Für heute ist Lucia allein. Unten stehen sie auf dem nassen Trottoir. Der Vater will der Mutter den Mantelkragen hochstellen. Sie wehrt ihn ab; dann gehen sie nebeneinander, ohne Berührung.
Was tue ich ihnen an, denkt Lucia wieder, es ist doch Advent.
Sie geht durch die stille Wohnung. Die Mutter hat das Geschirr gespült.
Im Schlafzimmer greift sie unter ihr Kopfkissen.
Lucia drückt ihr Gesicht in Martins Pullover. Ich möchte tot sein, denkt sie, bei ihm sein.
Sie setzt sich wieder ans Fenster, den Pullover im Arm, lehnt die Wange an einen neuen, eiskalten Fleck und sieht hinaus.
Es ist leise geworden da draußen. Alles in Weiß gehüllt. Die Autos rollen durch glitzernden Schnee.