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Gehör der Vergangenheit/ Normalität
Bald wird es dunkel. Dichte Wolken ziehen über den smoggetrübten Himmel des Industieviertels. Der rote Himmel des Sonnenunterganges wird düster. Der Stern unseres Systems verschwindet hinter einem Hügel.
In der Ferne bellen die Hunde. Ansonsten ist es still. Viele Maschinen arbeiten seit Jahren nicht mehr. Die meisten Firmen haben sich einen anderen Standort gesucht.
Ein Gewitter zieht auf. Noch eine Weile lässt es warten, aber dafür wird es umso heftiger kommen.
Es ist die dritte Nacht, in der sie ihn suchen. Er hat sich in den alten Lagergebäuden im Osten versteckt. Dort bellen die Hunde.
Zu fünft sind die Verfolger. Kaum einer hat sich frei entschieden, mitzukommen. Nur die Hunde jagen gern. Selbst solche Mörder. Die Polizisten aber haben Angst.
Ein Gewitter zieht auf und die Familien warten zu Hause. Vielleicht werden sie lange warten. Vielleicht vergeblich. Der Gesuchte hat bereits mehrere Male zugeschlagen, in den drei Tagen, in denen er durch die Stadt gestreift war. Er hat die idyllische Stille der Stadt in ein panisches Chaos verwandelt.
Während seine vier Begleiter ihn flankieren, folgt Seb den Hunden. Er ist der einzige, der sich freiwillig bereiterklärt hat, an der Suche teilzunehmen. Seine Frau aber war strikt dagegen. Verständlich: Ihr Sohn war weg, sie wollte nicht auch noch den Mann verlieren. Sebastian will sich für seinen Sohn rächen.
Die blutige Bettwäsche, der Sohn am Boden mit durchschossener Brust und weggebissenem Oberarm... Dieses Bild geht Seb nicht mehr aus dem Kopf.
Wenn er könnte, würde Seb dem Mörder den Kopf abschlagen und den Hunden zum Frass geben. Sebastian hält den Killer für ein brutales Arschloch mit einem gefährlichen Bedürfnis nach Kannibalismus und einem höchst psychopathischen Gehirn. In diesem Hirn war zweifelsfrei alles verkehrt.
Die Behörden und die Zeitungen berichteten just von einem ‚gefährlichen Killer‘. Nicht einmal die Boulevardpresse wagte in diesem besonderen Fall allzu sehr ins Detail zu gehen.
Das Bild ist schrecklich und will nicht mehr aus seinem Kopf. Wenn er nichts unternimmt, wird das Bild nicht bleiben, nein; es wird sich vermehren. Es wird grösser werden. Es hat noch mehr unschuldige Kinder in der Stadt.
Noch ist es still. Drei Hunde und fünf Menschen erreichen das Tor eines Lagerhauses. Es ist dunkel. Irgendwo im Innern des Gebäudes schlägt Metall auf Metall. Kein Zweifel: Er ist dort drin. Der Himmel ist traurig, keine Sterne, nicht einmal der Mond vermag die Wolken zu durchdringen. Aber der Himmel ist auch aggressiv. Im Westen zucken die ersten Blitze. Kurz darauf grollt düster der Donner, unterstreicht die entsprechende Atmosphäre.
Ein Blitz erhellt die Nacht und das grosse Gebäude. Das Tor ist halb offen. Ängstlich rucken die Hunde zusammen. Sie scheinen zu wissen, dass dem plötzlichen Aufflackern von Licht zwangsläufig das unbeliebte, laute Grollen folgt. Sebastian denkt, dass ihm die Hunde nicht mehr viel nutzen werden. Er bindet sie neben dem Tor fest. Wenigstens versperren sie dort dem Mörder einen Fluchtweg.
Nun wartet er auf den nächsten Donner. Kurz und leise bespricht er seinen Plan mit seinen Begleitern. Vierzehn Jahre Polizei haben ihm gezeigt, dass Lärm durchaus nützlich sein kann. Für ihn wie für den Gegner.
Und doch ist ihm unbehaglich, er ertappt sich bei dem Wunsch, Blitz und Donner möchten für die Nacht wegbleiben.
***
Ich bin nicht so, wie alle meinen. Ich bin nicht verrückt. Ich bin kein Psychopath. Ich bin kaltblütig, gefährlich ja. Aber ich bin nicht krank. Nicht auf die Art; sie denken, ich hätte meine Gedanken nicht unter Kontrolle und frässe aus rein naturbedingtem, primitivem Drang Menschenfleisch. Das ist nicht wahr. Im Grunde genommen hat diese Neigung mit meinem eigentlichen Problem zu tun: Ich höre, was vergangen ist. Ich höre Schreie meiner Opfer. Jetzt sind sie natürlich tot, aber ich höre sie trotzdem. Ich höre den Verkehr auf den Strassen der Stadt, obwohl die Strassen leer sind. Manchmal höre ich auch nichts, völlige Stille, wie in den Momenten, in denen ich alleine war. Dabei grollt vielleicht der Donner, aber ich höre nichts. Ich höre nicht die Polizisten, die das grosse Tor dieser Halle öffnen – vielleicht werde ich dieses Geräusch in einigen Minuten hören. Und doch weiss ich, dass sie es gerade tun.
Vor ein paar Minuten habe ich es gesehen.
Das ist mein Problem, meine Krankheit. Während ich die Vergangenheit höre, sehe ich vor meinen Augen die Dinge, wie sie in Kürze sein werden. Diese Eigenschaft ist mir angeboren, aber ich strebe nach Normalität. Auch wenn ich das Kind einer Inzest-Beziehung bin, habe ich das Recht auf ein anständiges Leben. Dazu gehört zeitgerechtes Sehen und Hören. Auch wenn ich mich mittlerweile an diese Verwirrung gewöhnt habe, bevorzuge ich es dennoch, wenn meine Sinne mir ein einheitliches Bild des momentanen Geschehens liefern.
So habe ich als Kind eine schicksalsbestimmende Entdeckung gemacht. Als ich einmal schrie, legte mir jemand die Hand auf den Mund und ich biss in diese Hand. Ich musste ein kleines Stück Haut oder so abgebissen haben, denn ich fühlte, wie die Hand sogleich meinen Mund floh. Was aber viel wichtiger ist: Ich hörte, wie der Typ schrie und sah, wie seine Hand blutete. Etwa fünf Minuten lang erlebte ich alles, wie es gerade passierte, alles zur richtigen Zeit. Und ab diesem Tag an wusste ich, dass auch ich die Möglichkeit hatte, normal zu leben. Ich brauchte nur das Fleisch meiner Mitmenschen zu essen.
Natürlich ist dadurch meine Unschuld verloren gegangen. Das bedauere ich, denn Unschuld ist mir beinahe so wichtig wie Normalität. Vielleicht habe ich deshalb häufig das Fleisch von Kindern gegessen, weil ich hoffte, vielleicht ein bisschen Unschuld erben zu können...
Ich musste mich getäuscht haben. Es machte keinen Unterschied.
Heute Abend werde ich wahrscheinlich ein bisschen von den Polizisten nehmen müssen. Es ist seltsam, ich bin wie süchtig geworden. Als Kind bin ich lange ohne ausgekommen. Aber das wäre jetzt nicht mehr möglich.
Gestern und vorgestern haben sie mich auch schon gejagt. Ich bin vor allem dank meiner Gabe, gewisse Dinge vorherzusehen, entkommen.
Aber heute wird es schwierig werden. Ich sehe, wie sie mich in die Enge treiben. Sie sind im Dunkeln versteckt, aber jedesmal, wenn ein Blitz zuckt, werden sie durch das Licht verraten. Sie sind bewaffnet. Auch ich bin bewaffnet. Ich ziele auf sie. Ich habe keine andere Wahl. Das alles sehe ich aber nur.
Währenddessen höre ich Schritte. Sie nähern sich meinem Versteck am Bahnhof. Mehrere Schüsse. Das war die Jagd von vorgestern.
Aber in Wirklichkeit ist es jetzt still. Es muss still sein. Sie werden jetzt versuchen, mein Versteck ausfindig zu machen. Dann werden sie sich anschleichen. Sie werde versuchen, sich im Dunkeln zu halten. Sonst würde ich sie jetzt sehen. nur manchmal, wenn ein Blitz den Raum erhellt, sehe ich sie, wo sie in Kürze sein werden. Ich ziele schon einmal mit der Pistole. Durch langjährige Erfahrung weiss ich unterdessen genau einzuschätzen, wann das, was ich sehe, geschehen wird. Ich werde im richtigen Moment abdrücken.
Ich höre einen Schrei. Ich lasse mich nicht verwirren. Es ist das dritte Opfer von gestern. Ein Junge. Ich musste mehrmals schiessen, er lag im Bett. Dann habe ich ein wenig von seinem Oberarm verspiesen.
Aber niemand schreit in Wirklichkeit. Vielleicht kracht ab und zu ein Donner. Bald bricht das Gewitter auch hier los, wenn es nicht schon losgegangen ist. Ich muss vorsichtig sein. Es ist besser, wenn ich meine Position nicht verrate. Auf dieser alten, grossen Maschine bin ich gut verschanzt. Ich will einen Fuss vor den anderen setzten, doch dabei schlage ich das Bein an einer Metallstange an.
Ich fluche innerlich und lausche. Nichts. Natürlich nichts, und wenn, dann hätte ich wahrscheinlich ein altes Opfer, den Verkehr von heute Nachmittag oder schon das Tor der Lagerhalle gehört.
***
Sebastian braucht es den anderen nicht zu sagen. Auch sie haben den hohlen, dumpfen Klang gehört. Das Nachsummen ist auch jetzt noch zu vernehmen. Seb wird sichtlich ungeduldig, am liebsten würde er seine Leute daran erinnern, abzuwarten. Aber er kann es nicht. Er würde die Stille durchbrechen und ihn und die anderen somit in Gefahr bringen. Nun wissen sie wenigstens, wo sich der Mörder befindet.
Das Nachsummen, immer noch. Die ersten Regentropfen auf dem Hallendach.
Aber ansonsten ist es still.
Ein Blitz erhellt die Lagerhalle. Gleich ist es soweit. Im Schatten versteckt, warten die Polizisten auf den Begleiter des Lichtes, nur einer geht schon los, rennt mit erhobener Pistole in Richtung der Maschine.
Der Donner grollt.
Seb und die drei anderen Polizisten nutzten den Lärm und stürmen Richtung Maschine. Die ersten Schüsse. Während Seb die Waffe auf das Mündungsfeuer des Mörders richtet, fällt der andere Polizist zu Boden. Sebastian fühlt, dss es seinen drei anderen Begleitern alles andere als wohl ist. Am liebsten würden sie zurückrennen. Doch die Anweisungen lauten: Wenn es hell ist, orten, wenn es dunkel ist, schleichen, wenn Donner ertönt, schiessen.
Die drei Männer eröffnen ein heftiges Feuer. Dann wieder erhellt ein Blitz die Halle. Seb, der ein bisschen Abseits steht, bleibt im Schatten, er versteckt sich hinter einer Reihe Kisten. Seine drei Kollegen werden vom Licht getroffen.
Draussen bellen die Hunde. Wieder Donner. Zu Hause warten die Familien. Womöglich werden sie lange warten.
***
Nichts. Es ist völlig still. Doch jetzt! Scheisse; der hohle, dumpfe Klang. Ich habe mich also doch verraten, mit dem Fehltritt. Es summt nach, deshalb wussten sie, wo ich bin. Aber was macht’s, ich habe ja gesehen, woher genau sie kommen würden. Den ersten habe ich schon abgeknallt. Bleiben drei oder vier. Ich höre die ersten Regentropfen, doch in Wirklichkeit prasselt das Wasser jetzt heftig auf das Dach nieder.
Ist jetzt der richtige Moment? Ich gebe drei gezielte Schüsse ab. Vor wenigen Minuten habe ich die Polizisten, vom Blitz erhellt, einige Meter vor mir gesehen. Das ist jetzt.
Der erste Schuss fällt. Natürlich ist er schon längst gefallen, aber nun kann ich ihn hören. Ich darf mich nicht verwirren lassen. Ich gehe drei Schritte auf die Seite. Wenn ich nicht alle getroffen habe, werden sie zurückschiessen. Ich sehe, dass es noch nicht vorbei ist, richte meine Pistole dorthin, wo in Kürze einer auftauchen wird.
Währenddessen höre ich Schüsse. Draussen bellen die Hunde. Wieder Donner. Darf mich nicht ablenken lassen.
***
Mit Entsetzen beobachtet Seb, wie zwei der übrigen Polizisten getötet werden. Der Mörder scheint genau zu wissen, wann er schiessen muss. Er hat nicht geschossen, nachdem der Blitz die anderen erhellt hat, sondern während.
Die Hunde bellen nicht mehr. Das einzige Geräusch ist der immer heftigere Regen, der auf das klangverstärkende Dach fällt. Seb ist nun nicht mehr auf den Lärm des Donners angewiesen, er könnte problemlos, ohne gehört zu werden, durch die ganze Halle laufen. Aber er muss das Licht meiden. Also bleibt er hinter den Kisten und wartet.
Marcel, der Polizist, der nicht getroffen wurde, hat rollend das völlig Dunkle erreicht.
Ein Blitz fällt. Marcel wartet. Kurz darauf heftig Donner. Marcel stürmt hervor, sehr nahe an die Maschine heran und schiesst dorthin, wo vorhin das tödliche Mündungsfeuer den Mörder verraten hatte.
***
Da. Ich bin spät, der Bulle hat schon geschossen. Natürlich dorthin, wo ich vorhin war, aber dennoch weiss ich, dass er schon geschossen hat.
Ich höre die drei Schüsse, die ich vorhin abgegeben habe. Allmählich wird es sehr Laut in der Halle.
Ich gebe erneut zwei Schüsse ab.
***
Schmerz durchfährt Sebastian, als er sieht, wie auch Marcel erschossen wird. Vier Männer, die nicht freiwillig dabei waren. Vielleicht vier Familien, die vergeblich warten werden. Jetzt gilt es nicht nur den Sohn zu rächen, er selbst darf nicht auch noch umkommen. Wenn er eine Weile wartet, denkt der Mörder vielleicht, dass alle tot sind. Vielleicht... vielleicht will er sich dann ernähren.
Während sich das Gewitter immer heftiger und lauter bemerkbar macht, während die Hunde draussen immer mehr klagen, verharrt Seb völlig still, darauf achtend, sich nicht doch durch ein falsches Geräusch zu verraten.
Mehrere Minuten vergehen. Ab und zu hört man den Donner, aber der Regen schlägt nicht mehr so heftig auf das Dach ein. Seb lauscht. Nichts.
Er zwingt sich geduldig zu sein.
Weitere Minuten verstreichen. Seb kann seinen eigenen Atem hören. Er will aufstehen. Dann vernimmt er ein Geräusch. „Dong, dong, dong.“ Jemand steigt eine kleine, metallene Treppe runter. Seb wird nun einfach warten, bis der Mörder an ihm vorbeigeht.
„Marcel! Er wird zu Marcel gehen!“, fährt es Seb dann durch den Kopf. Er will nach vorn stürzen. Dann nimmt er sich zusammen. Wenn er den Mörder verfehlt, ist alles vorbei.
Geduldig zielt Sebastian dorthin, wo er seinen Gegner glaubt, hält sich aber dennoch gut hinter den Kisten verborgen.
Ein Blitz.
Der Mörder neigt sich über Marcel. Er öffnet den Mund.
Ein Schuss.
Der Donner rollt heftig, ein letztes Mal.
Der kanibalisch veranlagte Killer fällt getroffen zu Boden.
Sebastian atmet tief durch und wischt sich den Schweiss von der Stirn.
„Für meinen Sohn!“
In der Lagerhalle verbreiten sich seine Worte echoartig.
Dann ist es völlig still. Minuten vergehen.
Erst als die Hunde das Ende des Gewitters mit begeistertem Gebell kundgeben, scheint sich Seb daran zu erinnern, dass er noch lebt.