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Gegensatz
„Die Noten Ihres Sohnes sind gut. Ich bin sehr zufrieden mit seinen Leistungen“, sagte der Lehrer.
„Ja, mein Mann und ich sind auch sehr zufrieden“, erwiderte die Mutter stolz. Sie war so froh, dass ihr Sohn, der seit einem halben Jahr die dritte Klasse von Herrn Bungartz besuchte, keine Probleme zu machen schien.
Herr Bungartz war schon sehr lange im Schuldienst. Die Kinder mochten ihn sehr und auch bei den Eltern war er beliebt. Er lehrte mit einer liebevollen Empathie, die selbst den unwilligsten Schüler für den Lehrstoff begeistern konnte und einer konsequenten, aber stets verzeihenden Strenge, die ihm Respekt verschaffte. Seine Urteile waren wohlüberlegt und gerecht. Herr Bungartz war kein Mann von großen Worten, nie gab er ungebetene Erklärungen oder ausschweifende Antworten. Er war der Ansicht, dass die Menschen sich mehr im Zuhören und weniger im Reden üben sollten. Wie oft hörten die Schüler ihn sagen: „Wer zuhört, versteht die Welt.“
Die Mutter saß gespannt auf ihrem Stuhl und schaute den Lehrer erwartungsvoll an.
Sie wollte noch mehr über ihren Sohn erfahren.
Herr Bungartz verstaute die unterschriebene Zeugniskopie in seinen Unterlagen. Für ihn herrschte Einigkeit, also konnten die nächsten Erziehungsberechtigten eintreten. Als er von seinem Schreibtisch aufschaute, sah er den fragenden Blick der Frau, die ihm gegenüber saß. Unschlüssig verschränkte Herr Bungartz die Hände vor dem Mund. Schließlich räusperte er sich und sagte:
„Ihr Sohn lässt das Böse einfach nicht sein.“
Die Mutter zuckte zusammen, als ob sie eine Ohrfeige bekommen hätte. Fassungslos starrte sie den Lehrer an. Was hatte Herr Bungartz ihr da gerade gesagt und vor allem, wie hatte er es gesagt? Sein milder Tonfall war für die harte Anklage geradezu unangebracht. Sie wusste nicht, ob sie diese seltsame Nachsichtigkeit schätzen oder sich darüber ärgern sollte. Durch den Schock unfähig, etwas zu entgegnen, tastete sie nervös den Stuhl nach ihrer Handtasche ab.
Ihr Sohn, ihr Nikolai, ein böses Kind?
Noch gestern hatte die alte Frau Schmitz von gegenüber erwähnt, wie zuvorkommend er ihr die Türe aufgehalten hätte. War diese Höflichkeit die Ausnahme und nicht die Regel, wie sie angenommen hatte?
Sie erinnerte sich an Fräulein Gaby, die ihm jeden Morgen entgegen strahlte, wenn er fröhlich durch den Kindergarten gehüpft kam. Sollte dies nur heuchlerisches Gehabe der Erzieherin gewesen sein, bis die Mutter weg war?
Nikolai und seine vierzehnjährige Schwester waren ein Herz und eine Seele, höchst selten gab es Streit unter ihnen. Freunde hatten ihr oft von heftigen Auseinandersetzungen unter den Geschwistern erzählt. Natürlich gab ihr Sohn Widerworte, wenn er den Fernseher ausschalten oder zu Bett gehen sollte, aber sie hatte das für das normale Maß gehalten. War sie einfach nur naiv und sah ihr Familienleben rosaroter als es in Wirklichkeit war?
Die Mutter konnte sich nicht entsinnen, dass Nikolais ehemalige Lehrerin sein Verhalten jemals bemängelt hätte. Möglicherweise war er in der Schule derart dreist und impertinent, dass sie ihn nicht gebändigt bekam. Da wunderte es nicht, wenn die Lehrerin dachte, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm und keinen Sinn darin sah, mit der Mutter darüber zu sprechen. Auch Herr Bungartz hätte von sich aus nichts gesagt, wenn sie nicht so auffordernd da gesessen hätte.
Sie dachte, sie hätte einen kleinen Engel. Jetzt entpuppte sich Nikolai als Satansbraten.
Zuhause artig und brav, draußen frech und rotzig. Ein Wolf im Schafspelz, ein hinterlistiger Kerl, der bei ihr Liebkind machte.
Was hatte sie nur falsch gemacht? Wieso hatte sie von alle dem nichts bemerkt?
Sie schämte sich und beschloss, von Herrn Bungartz die ganze Wahrheit zu erfahren.
„Ich habe in ihm immer nur den guten Jungen gesehen. Er teilt seine Sachen, hält höflich die Tür auf, hat nie ein Tier gequält.“
Der Lehrer hörte der Mutter aufmerksam zu und da er keine Anstalten machte, etwas zu erwidern, fuhr sie fort.
„Alle, ob Kindergärtnerin, Nachbarn, Freunde oder Mitschüler haben bei mir den Anschein erweckt, dass sie ihn mögen, dass es keine Schwierigkeiten mit ihm gibt.“
Herr Bungartz kräuselte die Stirn.
„Natürlich musste ich ihn auch schon mal ausschimpfen oder strafen. Aber für mich ist er ein liebevolles Kind, das immer nur das Gute will.“
Die Mutter war am Ende. Verzweifelt blickte sie in das Gesicht des alten Lehrers, in dem sie Unverständnis las. Im Geist beschwor sie ihn, doch endlich zu reden, ihr endlich zu sagen, was Nikolai böses angestellt hatte.
Herr Bungartz verschränkte die Arme vor der Brust und schaute ihr fest in die Augen. Für einen Moment herrschte Totenstille. Schließlich löste er seine Arme, nahm ihre Hände in die Seinen und sagte:
„Ich bin ganz Ihrer Meinung.“
Verwundert schaute sie ihn an, dann wiederholte der Lehrer:
„Ihr Sohn lässt das Böse einfach nicht sein!“