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Gegenangriff
Gegenangriff
Mailand, Stazione Centrale, am fünften Dezember zweitausenddrei, sechzehn Uhr sieben
Plötzlich war ein ohrebetörender Knall zu hören. Glassplitter, Steine, Metallstücke, Leichenteile wurden durch die Luft geschleudert. Die Schreie, das Kreischen hallten durch die umliegenden Viertel des Bahnhofes. Selbst am Corso Buenos Aires hielten die Menschen erschrocken inne. Martinshörner heulten durch die ganze Stadt, Polizeifahrzeuge, Wagen der Carabinieri, Feuerwehr eilten in Höchstgeschwindigkeit zum Ort des Geschehens. Die Hauptstraßen der Stadt wurden gesperrt.
Umherirrende riefen verzweifelt nach Angehörigen, Freunden, mit welchen sie gerade am Bahnhof waren. Von Schmerz verzerrte, weinende Gesichter, blutbefleckte Kleidungsstücke, Blutlachen am Boden, auf den Trümmern. Sanitäter kämpften sich durch die in Angst und Verzweiflung umherirrende Menge, ihre Gesichter hinter weißen Masken verborgen. Fernsehstationen hatten schnellstens ihre Journalisten samt dazugehöriger Kameraleute entsandt. Direktberichte vor Ort wurden in die ganze Welt ausgestrahlt. Inzwischen war bekannt geworden, dass es im ganzen Land Anschläge auf die Hauptverkehrsverbindungen der Eisenbahnen gegeben hatte. Es wurde vermutet, die Attentate wären durchgeführt worden, um die amerikanischen Truppentransporte zu den italienischen Häfen lahm zu legen, von wo aus man Soldaten und Gerät in das Kriegsgebiet am Persischen Golf verschiffte. Der Anschlag auf den Hauptbahnhof in Mailand, so mutmaßte die Mehrheit der Analysten, wäre der Abschluss einer Serie von Attentaten, um allgemeine Unruhe und Angst hervorzurufen.
Cesare Falconi versuchte, auf seinem mitgebrachten Klappschemel auf Zehenspitzen auf und ab wippend, Fotos zu schießen. Obwohl er, als die Nachricht vom Attentat durchkam, sofort zum Hauptbahnhof eilte, waren schon unzählige Fotografen vor ihm eingetroffen. Unentwegt drückte er auf den Auslöser seiner Kamera, manchmal, sah er gar nicht, was er fotografierte, hielt die Kamera so weit er konnte, mit gestreckten Armen nach oben, drückte unentwegt ab. „Ein paar werden sie mir schon abkaufen", dachte er, „das Monat wäre somit gerettet". La Storia Vera würde sicher einige seiner Bilder bringen, flüsterte er zu sich selbst. Das Wochenmagazin war schließlich sein Hauptabnehmer und bei einem solchen Ereignis, würden sie sicher mehr bezahlen. Allerdings wusste er nicht, wer der Redaktion noch Fotos anbieten würde, ob nicht ein Kollege schneller gewesen sein könnte als er und deshalb bessere Bilder aus der Nähe geschossen hätte.
Vollkommen erschöpft verließ er um drei Uhr morgens den Ort des Geschehens. Er durfte nichts versäumen. Einiges hätte sich noch ereignen können, doch entfernten sich die Journalisten, Fotografen und Kameraleute allmählich von dem Platz. Bis an den Rand des Möglichen arbeitende Rettungsmannschaften, mit undurchdringlicher Miene bewachende Carabinieri waren nun für die Berichterstattung ausgeschlachtet. Genug der weinenden Polizisten, der betroffenen Sanitäter und Ärzte, befragten Überlebenden, die mit zitternd bebender Stimme unter Tränen, das Erlebte in die Kameras erzählten. Cesares Beine schmerzten, auch hatte es zu regnen begonnen. Sein Haar war vollkommen durchnässt. Drei Stunden Schlaf konnte er sich noch gönnen, dann musste er in die Redaktion von La Storia Vera, um seine Fotos anzubieten. Missmutig öffnete er die Fenster seiner kleinen Wohnung. Vielleicht, dachte er, könnte er den ersten Film entwickeln, um zu sehen, ob die Bilder etwas hergeben würden. Cesare bewohnte nur eines seiner beiden Zimmer, das andere hatte er zu einem Fotolabor umgewandelt. Anstatt zu schlafen, entwickelte er den ersten Film und war von sich begeistert, als er sah, wie sich im dunkelroten Schein der Lampe auf dem in der Flüssigkeit schwimmenden Fotopapier ein Bild entstand, das aus geringer Entfernung einen Haufen blutüberströmten Schutts zeigte, auf welchem ein abgetrennter Fuß im modischen Stiefel mit dicker Kreppsohle lag. „Das", schrie Cesare voller Begeisterung, „ist ein Vermögen wert." Er rätselte, wie es ihm gelungen war, von der Entfernung ein solches Bild zu bekommen. Das Teleobjektiv hatte er offenbar genau richtig eingestellt. Auch der Blickwinkel gefiel ihm. Ob andere auch solche Bilder gemacht hätten?
Zweifelnd zog er seine buschigen Augenbrauen hoch, fuhr mit der Hand über seine fettige Glatze. Eilig zog er sich seinen blauen Wattemantel über, schnappte seine Mappe, in die er die entwickelten Fotos gelegt hatte, und begab sich in die Redaktion der Storia Vera.
Trotz der frühen Stunde herrschte in der Redaktion hektische Aufregung. Kolumnisten tippten eifrig in ihre Tastaturen, unwirsche Rufe wurden von Tisch zu Tisch geschrien. Telefone schrillten, piepsten unentwegt. Mappen in ihren Händen haltend, wuselten emsig Menschen an Cesare vorbei.
Der Redaktionsleiter Gianfranco Manconi war am Rande eines Nervenzusammenbruches, als Cesare das Büro betrat, welches hinter dicken Glasfassaden vom fieberhaft brodelnden Saal der Redaktion abgetrennt war. Stirnrunzelnd blickte Gianfranco auf. „Na gut Cesare, wir haben schon Überflut an Bildern, zeig, was du hast."
Cesare legte die geöffnete Mappe vor dem Redaktionsleiter auf den mit Papieren überhäuften Tisch. Als er die Fotografie mit dem abgetrennten Fuß sah, pfiff er anerkennend durch die Zähne.
„Das", brummte er nickend, „ist ein Goldschuss!"
Er blätterte bedächtig noch die anderen Bilder durch, legte noch eines mit einem weinenden Kind zur Seite.
„Die beiden kaufen wir dir ab, die anderen Filme brauchen wir dann nicht mehr. Wir haben schon viel zu viel. Aber das mit dem Fuß müssen wir bringen."
Cesare war völlig erschöpft, froh, dass er das Bild wahrscheinlich zu einem sehr hohen Preis verkaufen konnte. Er schleppte sich durch die Straßen, vorbei an den Polizeiwagen, den entsetzten Menschen. Die Piazza Duca d’Aosta war abgesperrt. Niemand, außer den Behörden hatte Zutritt. Meterhohe Berge an Blumen lagen vor den Absperrungen. Menschen knieten sich mit feuchten Augen auf den Asphalt, zündeten Kerzen an, schlugen das Kreuzzeichen. Viele standen nur stumm mit gesenktem Kopf, verweilten einen Augenblick lang, gingen weiter. Unbekannte sprachen sich an, fielen sich in die Arme, „Wie kann jemand so etwas tun!"
Fahnen hingen auf Halbmast. Der Ausnahmezustand war ausgerufen worden. Cesare fühlte einen Kloß in seiner Kehle, hörte seine Schritte am Trottoir widerhallen, blickte hinauf zu den Häusern, den dunklen Rollläden, den backsteinbraunen Fassaden, den Fensterläden. Die Stadt war plötzlich still geworden.
*****
Wien, Flughafen Schwechat, am sechsten Dezember zweitausenddrei um sieben Uhr fünfundzwanzig
Mit steinerner Miene, stieg der amerikanische Sonderbotschafter aus der Limousine. Umgeben von stahlgesichtigen Sicherheitsbeamten, begab er sich in die Halle des Flughafengebäudes. Er hatte tags zuvor bei einer Behörde der Vereinten Nationen über den Kriegsverlauf auf der Arabischen Halbinsel, sowie im Irak Bericht erstattet. Anschließend führte er noch ein Gespräch mit dem österreichischen Außenminister, der immer auf die Neutralität des Landes verwies und jegliche Durchfahr- und Überfluggenehmigungen verweigerte. Nun stand die Sondermaschine bereit, die den Botschafter auf direktem Wege zurückbringen sollte. Polizeibeamte streiften zwischen den Wartenden, Umherschlendernden und Sich-Verabschiedenden, beobachteten die Warteschlangen missgestimmter, mürrischer Reisender, die erhöhte Sicherheitskontrollen schon am Eincheckschalter über sich ergehen lassen mussten. Manchmal forderten sie Ahnungslose auf, die Taschen zu öffnen, durchwühlten den Inhalt, griffen mit Lederhandschuhen, Wäschestücke, Fotoapparate, Zeitungen, Bücher, Spielzeug und so manch Sonderbares ab.
Ein groß gewachsener rothaariger Mann schlenderte, den Einkaufssack eines Souvenierladens in seinen Händen schwingend, durch die Einkaufsmeile des Flughafens. Gelangweilt setzte er sich auf eine der Aluminiumbänke, ließ seine Füße unter der Sitzfläche ruhen. Er fummelte eine Weile im Plastiksack herum, stellte ihn auf den Boden, schob ihn unter die Sitzbank, stand auf und ging weiter, durch die automatische Glasschiebetür ins Freie.
Ein seltsamer Geruch breitete sich in der Halle aus. Menschen begannen zu husten, nach Luft zu ringen, fieberhaft nach Wasserflaschen zu kramen. Husten, Keuchen, Krächzen erfüllte die Halle. Einige hielten sich Tücher vor den Mund, andere pressten die Hand gegen Hals oder Brust, erbrachen sich, fielen zu Boden. Ein kleines Mädchen schlang noch die Arme verkrampft um den Leib seiner bereits toten Mutter, bevor es starb. Aus dem Mund eines älteren Herren quoll Blut, das sich über seinen dunklen Anzug ergoß. Sekunden später schlug er mit dem Kopf gegen die Kante eines Eincheckschalters, fiel zu Boden. Die Bedienstete hinter jenem Schalter, starb nach dem ersten Einatmen. Ihr Leichnam lag rücklings auf dem Boden, mit dem Hinterkopf am Rand des Rollbandes, auf welchem die Koffer zu den Gepäckabfertigungen transportiert wurden.
Schreie ertönten, erstickten bald. Einige hatten sich bereits übergeben. Polizei kam angefahren. Kopflos begannen die Menschen ins Freie zu drängen. Alarm wurde ausgelöst. Polizei, Rettung und Feuerwehr kam angefahren. Sirenen heulten. Blaulicht zuckte auf den Dächern der Fahrzeuge. Polizisten, Sanitäter und Feuerwehrleute rannten, ihre Köpfe in Gasmasken gehüllt, in die Halle. In Panik stürmten Menschen zu den Ausgängen. Reisende lagen bewusstlost am plankpolierten Marmorboden der Halle. Rinnsale an Blut rannen aus den Mündern. Männer, Frauen, Kinder lagen mit verrenkten Gliedmaßen, die toten Augen weit aufgesperrt, durcheinander, teils ineinander verflochten, teils übereinander liegend am Boden. Sauer fauliger Gestank nach Erbrochenem, Urin und Kot breite sich aus, vermengte sich mit dem Geruch des ausgehusteten Blutes. Von jenen, die es nach draußen geschafft hatten, waren viele zusammengebrochen, bekamen Sauerstoffmasken von den Sanitätern über das Gesicht gestülpt, doch die meisten starben. Scheiben wurden von röchelnd nach Atem Ringenden eingeschlagen, um nach draußen fliehen zu können. Sie trampelten über jene, die liegen geblieben waren, stiegen auf in den letzten Zügen liegende Körper. Taumelnd standen manche am Gehsteig, fielen zu Boden, krampften Hände, Beine, Arme, verkrampften ihre Gesichter zu Grimassen des nicht glauben wollenden Entsetzens, rangen nach Luft, erstickten.
Der Sonderbotschafter war ums Leben gekommen. Er war auf dem Wege zum für ihn abgesperrten Ausgang. Als er in Begleitung seiner Leibwächter, sowie der Sicherheitsbeamten knapp vor der Türe standen, drang das todbringende Gift in ihre Lungen. Die Leichname seiner Beschützer lagen neben ihm, einer hatte noch im Todeskampf den Arm auf des Botschafters Rücken gelegt.
Polizisten, die ihre Gasmasken draußen abgenommen hatten, weinten, ob des furchtbaren Höllenbildes, das sie gezwungen waren, mitanzusehen.
Fluchend schlug Franz Komarek mit der Faust gegen das Lenkrad. Absperrung auf der Südosttangente, an einem Samstag um drei viertel acht am Morgen. Ausgerechnet an jenem Tag, an dem er seine Tochter vom Flughafen abholen wollte, die von ihrem Aufenthalt in England zurückkam. Ob er es noch bis neun Uhr schaffen könnte? Stau hatte sich gebildet. Missmutig drehte er den Knopf am Autoradio. Von einem Attentat mit Gas am Flughafen wurde berichtet. Reporter kreischten aufgeregt Berichte vom Ort des Geschehens. „Monika.. um Gottes Willen Monika ... nein!" Monika war noch im Flugzeug. Sie würde erst um viertel zehn landen. Sein Herz begann zu rasen. Sie würde sicher anrufen, wo immer sie auch ankommen würde. Entsetzte Gesichter hinter den Autofenstern rund um. Der amerikanische Sonderbotschafter sei getötet worden, ihm habe der Anschlag gegolten, hieß es.
Monika Komarek verdreht die Augen, als durchgesagt wurde, dass der Flug auf Grund technischer Probleme nach Bratislava umgeleitet werde.
„Das hat man von den Billigflügen, die setzen einen ab, wo’s ihnen grad passt", dachte sie, seufzte und ließ ihr Hinterhaupt gegen die gepolsterte Kopfstütze fallen. Mürrisch setzte sie sich die Kopfhörer ihres CD-Spielers auf. Nach einer halben Stunde rumpelte das Flugzeug auf der Landepiste. Nervös stotterten die Flugbegleiter die Anweisungen ins Mikrofon, entschuldigten sich für die technische Panne, die zur Umleitung auf einen anderen Flughafen geführt hatte.
Monika kämpfte sich durch die Menge verwirrter reisender zum Zoll. Jedes Reisedokument wurde von finster blickenden Beamten genauestens überprüft. Nach der Passkontrolle suchte sie verzweifelt eine Wechselstube, um Geld für das Telefonat zu einzutauschen. Mit ihrer schweren Tasche um die Schultern gehängt, quälte sie sich zu einem Schalter, der nach Geldinstitut aussah. Missmutig streckte sie dem blonden Jüngling eine Zwanzig-Euro-Note hin, erhielt ein paar Scheine und auf ihr Verlangen eine Hand voll Münzen. Monika warf sie alle, eine nach der anderen in den Schlitz des Telefons. Als ihr Vater sein Mobiltelefon abhob, stieß sie nur „Scheißfluglinie, ich bin jetzt nämlich in Bratislava!" hervor.
„Na Gott sei Dank!", hörte sie ihn noch am anderen Ende erleichtert seufzen, bevor die Leitung unterbrochen wurde. Monika begriff nichts mehr. Sie konnte nicht verstehen, weshalb ihr Vater dermaßen erleichtert klang, als sie ihm mitteilte, der Flug sei umgeleitet worden.
Der Bus war unbequem, quälte sich durch den Stau an der Grenze. Österreichische Zollbeamte kontrollierten jedes Fahrzeug.
„Guten Tag, Reisepass bitte, und Gepäck öffnen!"
Monika war ungehalten, als sie der Zollbeamte in grauer Uniform dermaßen forsch aufforderte.
„Muss das sein?"
„Mochns kane Faxn junge Frau, Toschn auf!"
Widerwillig öffnete Monika ihre Reisetasche. Der Beamte betastete mit lederbehandschuhten Fingern ihre Wäsche, ihre Bücher, die Flasche Whisky, durchwühlte den gesamten Inhalt. Auch ihren kleinen Rucksack musste Monika durchschnüffeln lassen.
„Ach des is wegn Italien, des woa jo fuachtboa!", meinte eine ältere Dame.
„In Wien woa ah a Aunschlog sogn’s grod. Mit Giftgas!", rief der Buschauffeur. Monika fühlte sich unbehaglich. Hinter der Grenze wehten die Fahnen auf Halbmast. In manchen Fenstern konnte man Kerzen leuchten sehen.
******
Palermo, sechster Mai zweitausenddrei, ein sonniger, heißer Spätnachmittag
Achmed Diab schlenderte die Gasse entlang. Seine Schirmkappe keck schief am Kopf tragend, ging er einer jungen Frau hinterher, betrachtete ihre lange, schwarze Mähne, die über ihre Schultern fiel, atmete den Hauch ihres Parfums, schielte auf ihr Gesäß, das sich im lockeren braunen Stoff ihrer Hose schaukelte, lauschte dem Rhythmus, in dem ihre Absätze gegen das Gehsteigpflaster klopften. Sie drehte ihren Kopf zur Seite, sodass er den schwarzen Bügel ihrer Sonnenbrille sehen konnte, auch ein kleines Eckchen ihres dunkelrot bemalten Mundes, ein Stückchen ihrer geradlinig zarten Nase. Achmed pfiff ihr hinterher, „Schöne", rief er. Sie drehte sich um, runzelte die Stirne, betrachtete ihn für einen kaum merkbaren Augenblick. Sie ging kopfschüttelnd weiter. „He", er ließ nicht locker, rief ihr weiter hinterher. „Verpiss dich!", fluchte sie und beschleunigte ihre Schritte.
Achmed bog achselzuckend in eine schattige, enge Seitengasse. Vier Jahre war er nun schon hier. Er lebte anfangs von wenigen Gelegenheitsarbeiten, musste sich bei der Bezahlung übers Ohr hauen lassen, teilte sich eine miefige, feuchte, winzige Wohnung mit vier Zimmergenossen, die ebenfalls aus Nordafrika hierher gekommen waren. So manche Nacht hatte er in einer Zelle der Questur verbracht, nachdem seine Daten aufgenommen worden waren. Am Morgen danach wurde er ermahnt, das Land zu verlassen, schließlich auf freien Fuß gesetzt.
Seit einiger Zeit bekamen er und seine Freunde Geld überwiesen. Achmed brauchte keinen miesen, schmutzigen Gelegenheitsarbeiten mehr nachzugehen, lebte in den Tag hinein. Irgendwann, hieß es, müsse jeder von ihnen Tätigkeiten für das überwiesene Geld ausführen. Sein Zimmergenosse Amr kümmerte sich um jene Angelegenheiten, hielt den Kontakt mit den Personen, die das Geld schickten. Amr war sehr ernst geworden in letzter Zeit, saß oftmals stundenlang mit steinerner Miene und verschränkten Beinen da. Nachdenklich, ruhig war er geworden. Die anderen waren auch ernster, lachten nicht mehr wie früher, sprachen viel über Religion, Ungerechtigkeit, Ungläubige, den nicht zu rechtfertigenden Krieg, welchen die Ungläubigen in die Heilige Erde gebracht hätten. Auch sprach er oft von Rache und vom Sieg über die Teufel.
Achmed kümmerte das nicht. Er zog es vor, jeden Tag die Straßen entlang zu spazieren, an den Strand zu fahren, des Abends sich in der Via Candelai herumzutreiben, die zahlreichen Bars zu begutachten, ein Bierchen oder mehrere dort zu trinken. Seine Zimmergenossen schalten ihn oft deshalb. Ob er denn keinen Respekt habe vor der Religion und ihren Geboten. Achmed war es egal, keifte zurück, legte sich schlafen.
Als er die stickig miefige Behausung betrat, empfing ihn Amr mit sehr ernster Miene. Der Ventilator surrte, quietschte kurz bevor er seine Umdrehung vollendete. Die Fensterläden waren nur einen Spalt offen gelassen, ließen nur ein dünnes Bündel Sonnenstrahlen durch die Klinse in das Zimmer. „Wir haben eine große Aufgabe", sprach er salbungsvoll. Achmed wurde stutzig, fragte aufgeregt, um was es denn ginge. Amr zeigte ihm einen dicken Umschlag, den ein Bote vorbeigebracht hatte. Er fingerte ein Foto heraus, hielt es gegen den dünnen Lichteinfall. Es zeigte ein rothaariges, feinknochiges Männergesicht. „Diesen Mann", fuhr Amr fort, „werden wir treffen! Dann werde ich dir sagen, was zu tun ist."
„Na und was dann? Was soll das?" Achmed verstand nicht recht, was sein Freund meinte.
„Frag nicht! In ein paar Monaten fahren du und ich zusammen nach Mailand", antwortete Amr. „Hassan", er zeigte auf den Mitbewohner, der traurig ins Leere starrte, „fährt nach Wien!"