- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Gegen die Dunkelheit
Es ist kalt. Wir frieren. Doch das nur vorübergehend. Seit Stunden bombardieren die Deutschen unsere Häuser und die Stadt ist eine einzige verfallene Ruine. Im Morgengrauen sieht sie aus wie ein Skelett. Man fühlt sich wie in einem toten Körper, gefangen und machtlos. Doch in der Nacht haben wir die Möglichkeit, diesem ganzen Terror ein Ende zu bereiten. Flugblätter haben uns erreicht. Mutige Scharfschützen haben Unzahlen an Deutschen erschossen, Spezialeinheiten aus Sibirien sind für hunderte zerstörte Panzer verantwortlich. Und wir werden die Infanterie sein, die Russland ein Stück nach Berlin bringt. Wir sind ein Volk. Wir sind Helden. Wir kämpfen für das Richtige. Die Nazis haben meine Freunde getötet, von meiner Familie habe ich seit Tagen nichts mehr gehört. Wir sind in den Untergrund gezogen, in die Keller, um der von den Flugzeugen kontrollierten Luft den Rücken zu weichen. Nachts sehen sie uns jedoch nicht. Es wird ihnen nicht gelingen, unseren Willen zu brechen. Wir sind unsterblich. Die Deutschen und ihr System haben keine Überlebenschancen. In all ihrer Arroganz sind sie in unser Land einmarschiert und hatten Erfolge, doch die Erfolge werden selten, die Niederlagen häufen sich. Sie haben keine Ahnung.
Wir schleichen los. Ein oder zwei Veteranen sind in unserer Gruppe. Sie haben Maschinenpistolen. Einige von uns tragen Munition, einige Gewehre. Es wird reichen. Sobald unsere ersten Gegner ihre Waffen fallen lassen, sind wir vollständig ausgerüstet.
Wir bleiben stehen und blicken umher. Es ist still. Der erste in unserer Einheit späht um die Ecke und nickt uns zu. Wir gehen weiter. Schutt und halbe Gebäude ragen in den Nachthimmel. Sie bieten Schutz. Wir robben, kriechen und hören. Doch es ist nichts. Kälte durchdringt meine Genossen und mich. Es ist bald vorbei. Mein Gewehr der Marke Mosin Nagant liegt schwer in meinen Händen. Ich habe noch nicht viel damit geschossen. Doch es ist kinderleicht. Entsichern, zielen, abdrücken und repetieren. Fünf mal. Dann nachladen und von vorne beginnen. Es ist kinderleicht. Die Straße auf die wir blicken, brennt. Tote liegen in der Gosse. Es sind Deutsche vom Morgen, am Mittag starben hier Russen. Insgesamt wurde diese Einbahnstraße zehn Mal von den Deutschen eingenommen. Das wird ihnen nicht mehr gelingen. Einer meiner Genossen packt heimlich ein Kreuz aus und küsst es. Dann steckt er es schnell wieder weg. Der Veteran in der Reihe blickt über den Schutthaufen vor sich. Da hinten ist es wieder dunkel.
Wir haben unsere Ausbildung im Keller erhalten. Ein guter Kommunist und ehrenvoller Veteran erklärte uns alles über Mut, Ehre und unseren großen Führer Stalin. Wir haben die Macht, sagte er. Die Deutschen sind reich an Waffen, doch an Mut und Stärke fehlt es ihnen. Sie werden unserem Hass und der gerechten Sache nicht standhalten. Wir werden den Sieg mit uns bringen.
Der Veteran ist dürr, zittert am ganzen Leibe. Doch er ist willensstark. Er kann kämpfen. Seine verstümmelte Hand geht langsam in die Luft und zuckt in Richtung Dunkelheit. Schnell. Zweimal. Wir holen tief Luft. Der Alkohol wirkt noch. Wodka soll uns mutig machen, doch die meisten meiner Genossen haben noch nie welchen getrunken und haben Probleme, richtig zu laufen. Ich hebe mein Gewehr. Drei Kugeln. Sie sollten genügen. Drei tote Deutsche. Dann nehme ich mir eine neue Waffe. Es geht los.
Die Artillerie und Maschinengewehre bilden die ganze Geräuschkulisse in der Stadt. Diese mittlerweile entspannende Monotomie wird jäh unterbrochen.
„ANGRIFF“, schreien wir alle auf einmal. Mit großem Gebrüll richten wir uns auf und rennen gen Dunkelheit. Schwach erkennt man zwei riesige Hakenkreuzflaggen an den Fassaden noch stehender Häuser wehen. Ich sehe eine kleine Bewegung im Dunkeln, hebe mein Gewehr und schieße. Dann renne ich weiter. Etwas Unverständliches kommt von der anderen Seite. Es ist ebenfalls ein Schrei, auf Deutsch. Wir brüllen auf einmal wie die Wilden los. Schreien gegen die Dunkelheit, rennen in sie hinein. Vereinzelte Schüsse meiner Genossen heben die Kampfmoral der Gruppe. Wir rennen ungefähr hundert Meter. Dieser Moment ist glorreich.
Auf einmal zischt es hunderte und aberhunderte Male neben meinem Ohr. Ein hämmerndes, primitives Geräusch ertönt und der Veteran vor mir wird mit einem Mal zerfetzt.
MG42. Einige bleiben verdutzt stehen, die meisten rennen weiter auf das Ziel zu. Fünf vor mir werden erschossen. Ihre Körper fallen, ihre Köpfe zerspringen. Einige werden in dem Feuer blitzschnell zu Krüppeln, fallen und halten den Rest der zerstörten Körperteile. Sie schreien nicht mehr den Namen von Stalin oder Wörter wie Freiheit. Sie schreien auf einmal nach ihren Familien. Die meisten schreien nach ihrer Mutter. Doch ihre Schreie halten nur so lange an, bis eine weitere Welle des Todes über sie hereinbricht. Ein aufsteigender Rauch aus dem Maschinengewehr. Wir schreien und schießen, rennen weiter ins Dunkle. Ich stelle mich aufrecht hin und ziele auf den Rauch. Betätige den Abzug. Doch es nutzt nichts. Der Deutsche schießt einfach weiter. Meine Genossen rennen auf das Ziel zu, der eine mit einer roten Flagge in der Hand. Ihre jungen Körper zerfetzen im Sturm des Maschinengewehrfeuers. Ich sprinte. Schreie ertönen. Jetzt oder nie. Ich kann die Deutschen und ihre angstverzerrten Gesichter schon sehen. Ich lasse mein Bajonett aufspringen und setze zum Sprung über die Sandsäcke an.
Zwei 7.92er Kugeln zerschmettern meine rechte Schulter und ich falle zu Boden. Ich sehe den Toten, auf dem ich liege. Ein Deutscher. Die Gosse wird gefüllt. Mein Blickfeld verschwimmt. Ich bin der Letzte. Meine Genossen winden sich in Schmerzen oder versuchen, wegzukriechen. Sie werden kaltblütig exekutiert. Zwei deutsche Landser gehen mit ihren Pistolen los und schießen jedem Überlebenden in den Kopf. Vierzig neue Leichen. Ich denke an das, was mir erzählt wurde. Wer hat uns belogen? Leise triumphieren die Deutschen auf der anderen Seite. Doch sie haben Angst. Ihnen wurde das gleiche gesagt wie uns. Und auch sie werden den Phantasien von Verrückten erliegen. Der eine der beiden Deutschen legt seinen kalten Lauf auf mein Genick. Es ist kalt. Ich friere. Nun für immer.
Stalingrad, Oktober 1942