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Gegenüber

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23.11.2012
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Gegenüber

Von meinem Standpunkt aus konnte ich dem Mann mit der hohen Stirn direkt ins Gesicht blicken. Mit seinem beigen Trenchcoat und der sandfarbenen Tuchhose hob er sich kaum von der dahinter liegenden Hauswand ab, stand in einem Meer von gelbem Herbstlaub und lächelte in meine Richtung.
Aber das Lächeln galt nicht mir, denn er konnte mich durch die Fensterscheiben unmöglich sehen, sondern den drei jungen Mädchen mit den quadrathischen Schulranzen in der gläsernen Tramstation auf der ihm gegenüberliegenden Straßenseite. Alle drei saßen sie halb, standen halb, da die von ihnen auserwählten Sitzgelegenheiten aus einfachem, grün lackiertem Drahtgeflecht nicht für Person und Ranzen hintereinander konzipiert worden waren, sie rutschten immer wieder von der Sitzkante herunter, schienen sich darüber jedoch prächtig zu amüsieren. Ich konnte sie nur von hinten betrachten, zwei blonde und einen braunen Haarschopf, welche nur geringfügig über die Schultaschen ragten. Der Mann mit dem schütteren Haar lächelte unentwegt in ihre Richtung, unsicher, jedoch auffallend freundlich, immer dann, wenn er glaubte, einen Blick von ihnen erhaschen zu können.
Vorerst stand er nur da. Dann ging er ein, zwei Schritte in die eine Richtung entlang des Tramsteiges, dann wieder in die andere Richtung, unablässig eines der Augen auf die Haltestelle geheftet. Um ihn herum wirbelte säuselnd der sanfte Wind die Blätter von den Bäumen auf die Pflastersteine und die gefallenen Blätter wieder hoch in die Bäume zurück, ein Phänomen, das es in solcher Schönheit nur im Herbst zu beobachten gibt.
Der Mann schlenderte vor und zurück, wieder vor, blieb stehen, lächelte schlagartig.
Die Mädchen waren mit sich selbst beschäftigt und ihre Gesichter sah ich nur von Zeit zu Zeit aus dem Profil, wenn sie ihre Köpfe zusammensteckten, tuschelten und dabei kichernd von der Sitzbank rutschten. Sie schienen noch ziemlich jung zu sein, womoglich gerade erst eingeschult. Von ihnen war keine Reaktion zu erwarten, sie schauten noch nicht einmal zu ihm herüber.
Aktiver in das Geschehen eingreifen, dachte er, in die Offensive gehen, nur Mut, nur Mut, sagte er zu sich selbst, tat dann einen etwas unkontrollierten Schritt vom Bordstein hinab und wäre fast auf dem feuchten Herbstlaub ausgerutscht. An seinem rechten Arm baumelte hilflos ein heller Baumwollbeutel von Kaisers, er hielt den Mann offensichtlich auf dem Boden, als er verkrampft leichten Fußes über die Straße schwebte, wohl darauf bedacht links, rechts und wieder links nach nahenden Gefahren zu schauen, einen schlechten Eindruck wollte er ja nicht machen.
Die Bordsteinkante des gegenüberliegenden Fußweges noch nicht erreicht, hatten sich bereits kalte Schweißperlen auf seiner Stirn gebildet, er explodierte förmlich vor Aufregung und das freundliche Lächeln war einem breiten Grinsen gewichen.. Nur Mut, sprach er zu sich selbst und beim nächsten Schritt hatte er den Bordstein erreicht, atmete tief ein und stand dann von der Mädchengruppe verzaubert wie festgenagelt auf dem Fußweg. Auf seiner Stirn hatte sich ein Schweißfilm gebildet. Der Ausdruck in seinen Augen wurde leicht panisch, als die Mädchen noch immer vertieft die Köpfe zusammengesteckt hatten und ihm keine Notiz schenkten, nachdenken, dachte er, nicht so offensichtlich, äh, schau auf die Tafel, äh, frag sie etwas. Und er fragte sie etwas.
Die Mädchengruppe zog die Köpfe auseinander und bemerkten den aufgeregten Mann, der da vor ihnen stand. Nach kurzer Überlegung antworteten ihm praktisch alle Mädchen gleichzeitig. Er war entzückt. Bestimmt verstand er kein Wort, von dem was sie ihm erzählten und mit ihren Ärmchen gestikulierten, aber seine Augen funkelten.
Langsam ließ er seinen rechten Arm aus dem Trenchcoat gleiten, wärend er gleichzeitig den kaiserlichen Jutebeutel auf dem Boden abstellte. Der Mantel rutschte ihm über den Rücken, der linke Arm wurde frei, er ließ ihn auf das feuchte Herbstlaub fallen. Seine Augen glänzten. Hastig hantierte er an der Gürtelschnalle seiner sandfarbenen Tuchhose herum. Mit ungeschickten Bewegungen löste er nun endlich den Verschluss des Gürtels, öffnete die Hosenknöpfe und die Hose rutschte ihm über die Knie.
Mir stockte der Atem. Unter der unscheinbaren Beinbekleidung des Mannes kam eine überaus eng anliegende quietschpinke, knielange Radlerhose mit zwei weißen Streifen, seitlich an den Oberschenkeln entlang zum Vorschein. Dann, wärend er mit den Schuhen aus der Hose stieg, zog er sich das hellbraune Hemd über den Kopf und darunter setzte sich die pinke Radlerhose in einem weit ausgeschnittenen, ärmellosen und hautengen Oberteil fort, die weißen Streifen bildeten die dünnen Träger, welche sich - die Brustwarzen verdeckend - über seinen Schulten spannten. Dieses besagte Oberteil enthüllte mehr von dem hellen, fleischigen Körper, als es zu verhüllen vermochte, die rotblonde Brustbehaarung des Mannes erinnerte mich an eine vertrocknete Wiese im Hochsommer. Er sah aus wie ein dicker Mann in einem Tütü. Dann griff er zu seinem Beutel und zog daraus ein ebenso pinkes Stück Stoff heraus, was sich, als er es über den Kopf zog, als Maske entpuppte. Die Augenpartien waren von zwei weißen Sternen bedeckt, nicht zu sagen, ob er darunter etwas sehen konnte, jedoch hatten die Mädchen mitlerweile das Reden eingestellt und hatten sich auf das reglose Beobachten des aufgeregten Mannes in seinem pinken Kostüm spezialisiert. Er stellte sich direkt vor die Mädchen und stemmte die Arme in die Hüfte, seine Beine leicht gespreizt für einen sicheren Stand. Dann zog er die Arme vor seinen Bauch und spannte seine Muskeln an, ballte die Hände zu Fäusten und stieß einen animalischen Schrei aus, welcher eher einem lauten Grunzen glich. Er posierte vor den drei jugen Mädchen in unterschiedlichen Positionen, präsentierte ihnen seine Stärke und Mannhaftigkeit auf eine sehr subtile Art und Weise. Das pinke Cape auf seinem Rücken flatterte im Wind.
«Ah, Rupert hat sich ein neues Kostüm genäht.» hörte ich einen Mann murmeln, der einzige Gast.
In diesem Moment fuhr ratternd die Tram der M-Linie in die Haltestelle ein und Rupert tat einen erschrockenen Schritt von der Bordsteinkante weg. Die Mädchen erhoben sich von ihren Plätzen, drückten sich geniert, jedoch auch amüsiert an ihm vorbei und bestiegen die Bahn. Die Türen fiepsten, schlossen sich und mit hängenden Schulten, schaute er der sich entfernenden Metro hinterher bis sie um die Ecke gebogen war. Er war nun nicht mehr so imposant, war kleiner geworden. Dann sammelte er seine Kleidung vom Boden auf und setzte sich auf einen der grünen Drahtsitze, wo zuvor die drei Mädchen gesessen hatten. Er stützte seine Ellebogen auf die pinken Oberschenkel und versteckte sein maskiertes Gesicht in den Handflächen.
Ich glaube, er weinte. Man konnte es natürlich nicht sehen und ich an sich, nur seinen gebeugten Rücken mit dem Cape und dem surrealen Sternenhimmel darauf, aber ich vermute es. Ich hatte wärend des Einräumens der Kaffeetassen innegehalten und das Geschehen verfolgt.
«Bekomme ich noch einen Milchkaffee?»
Der Mann von vorhin war aufgestanden und an den Tresen getreten, die leere Tasse vor sich hingestellt. Er schaute ebenfalls nach draußen.
«Sie kennen den Mann?» fragte ich und schlug den Kaffeesatz auf dem Holz aus dem Filter.
«Kennen wäre wohl zu viel gesagt, aber wir wohnen im gleichen Haus.» sprach er durch das Mahlen der Maschine etwas lauter weiter, «Er wurde als Kind von einem Traktor angefahren und in seinem Kopf sammelte sich Blut. Das entstandene Anorisma drückte auf die Aterie und das Gehirn bekam nicht mehr genug Sauerstoff. Die Schäden hatte man nicht mehr beheben können. Er ist in seiner Entwicklung hängen geblieben, quasi noch immer ein Kind. Er wohnt zusammen mit seiner Mutter und ihrer Cousine zusammen im vierten Stock, also gegenüber von mir.» Ich stellte ihm den Milchkaffee auf den Tresen, er nippte und ich tippte auf der Kasse, gab ihm sein Rückgeld. Wir betrachteten beide weiterhin den weinenden Mann.
«Meinen Sie, er würde sich über einen heißen Kakao freuen?»
«Bestimmt.» der Mann grinste, «Wer würde das nicht?»

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo lea victoria,

das ist eine liebe Geschichte. Obwohl Gehirnblutung fies ist, und die Imponiergeste in bitteren Traenen endet, die ich durchaus ernst nehme, schliesst sie mit heissen Kakao. Ein versoehnlicheres Ende kann ich mir kaum vorstellen.

Ich war auch dankbar, dass er sich den Maedchen da nicht entbloesst, das haette mich so gelangweilt. Und ich hab das Gefuehl der Text erwartet diese Dankbarkeit auch, also der droht so ein bisschen mit dem Langweilerverlauf. Schon traurig, zu was fuer einfallslosen Erwartungen man durch bestimmte Lese- und Fernsehguckerfahrungen getrieben wird.

Viele Deiner Beschreibungen gefallen mir sehr gut: dass Bushaltestellendrahtflechtsitzgelegenheiten nicht fuer Mensch + Ranzen konzipiert sind, dass der Mann nur von seinem keiserlichen Leinenbeutel am Boden gehalten wird.

Mir gefaellt auch die Schiefheit der Perspektive, dieser Wechsel von externer Fokalisierung zum Allwissenden und wieder zurueck.

Aktiver in das Geschehen eingreifen, dachte er, in die Offensive gehen, nur Mut, nur Mut, sagte er zu sich selbst
Bestimmt verstand er kein Wort, von dem was sie ihm erzählten und mit ihren Ärmchen gestikulierten, aber seine Augen funkelten.
Das traegt viel zur surrealen Anmutung des Ganzen bei, dieser kleine Kunstgriff.

Ich find auch die Platzierung in Alltag gut, weil man immer das Gefuehl hat, die Geschichte driftet jetzt so in "Seltsam" ab, aber dann wird sie zum Schluss auf den Hosenboden der Realitaet gesetzt.

Ich finde aber, einige zusaetzliche Ueberarbeitungsschritte, koennten dem Text sehr zugute kommen. Ein paar kleine Fehler sind noch drin, z.B.

quadrathischen
gewichen..
wärend

Und teilweise ersticken die Bilder zwischen den Worten. Zum Beispiel hier:
Aber das Lächeln galt nicht mir, denn er konnte mich durch die Fensterscheiben unmöglich sehen, sondern den drei jungen Mädchen mit den quadrathischen Schulranzen in der gläsernen Tramstation auf der ihm gegenüberliegenden Straßenseite.
Da wuerd ich zwei Gedanken draus machen.
Auch bei der zentralen Beschreibung des Kostuems hatte ich den Eindruck, man koennte das noch praegnanter gestalten. Und ohne "welcher", das ist so ein unbeholfen daherstelzendes Wort.

Um ihn herum wirbelte säuselnd der sanfte Wind die Blätter von den Bäumen auf die Pflastersteine und die gefallenen Blätter wieder hoch in die Bäume zurück, ein Phänomen, das es in solcher Schönheit nur im Herbst zu beobachten gibt.
Das kommt mir in diesem Text eher wie eine Persiflage vor, der saeuselnde, sanfte Wind und dann der letzte Halbsatz :dozey:
Also, kann sein, dass das so :dozey: gewollt ist, aber das bleibt mir so punktuell, dass es wie ein Ausrutscher aussieht.

Also eine interessante Miniatur, die aber durchaus noch eine Politur vertragen koennte.

lg,
fiz

 

Hallo lea aimee victoria

Eine witzige und abgehobene Idee, die du da zu einer ansprechenden kurzen Geschichte konzipiert hast. Trotz des Ernstes der Sache liess es mich schmunzeln. Die Situationskomik, welcher der Anblick des Protagonisten bot, erlaubte dies ohne jede Abfälligkeit. Die Zeit, bis er sich entblösste, sein Kostüm vorführte, steigerte sich mir die Vorstellung, er plane einen exhibitionistischen Anschlag. Nun dies war es auch, doch auf eine unverfängliche Art, die man ihm nicht übel nehmen konnte.
Die Beobachterin im Café gegenüber der Tramstation, durch deren Augen ich dies mitverfolgen durfte, ärgerte mich beinah einen Moment, dass sie nicht Eingriff, als er die Hosen fallen liess. Doch ahnte sie da vielleicht bereits die Harmlosigkeit seines Tuns. Das Ende bindet das Ganze zu einem gefühlvollen Bild.

Gern und amüsiert gelesen.

Schöne Grüsse

Anakreon

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo lea aimee victoria,

ich hatte deine KG kurz nach deinem Posting gelesen. Zuvor hatte ich bereits manche Kritik bei anderten Neueinsteigern ins Nichts gesendet und nahm mir deshalb vor, zukünftig nur noch Kritiken an jene AutorInnen zu schreiben, die auf Kritiken auch reagieren. Also, erst einmal abwarten ...

Bevor ich zu kg.de wechselte, war ich einige Zeit in einem anderen Forum aktiv. In diesem Forum gab es einige wenige beherzte AutorInnen, zu denen auch ich gehörte, die den Laden am Laufen hielten. Die schrieben sich die Finger wund, um die Texte irgendwelcher "AutorInnen" zu kritisieren, zu verbessern, zu loben, zu korrigieren, zu lektorieren, ohne dass von den meisten Autor/Innen je irgendeine Rückmeldungen gekommen wäre.

Was soll das? Wozu postet ihr öffentlich eure Texte, wenn ihr an Kommunikation nicht interessiert seid? Wenn es nur um Veröffentlichung geht, kopiert euren Kram, nagelt ihn an Bäume, werft ihn in Briefkästen eurer Umgebung oder als Flaschenpost ins Meer. Ich begreife so was langsam nicht mehr. Umso weniger, wenn man in deinen öffentlichen Profil liest, was du hier erwartest, und was dich stört. Meinst du, es wird das Interesse und Verständnis für deine Geschichte(n) fördern, wenn du offensichtlich nur nehmen, aber nicht geben willst?

Und dann tauchen hier immer wieder mal neue AutorInnen auf, die sich wundern, warum Anfängertexte oft weniger Beachtung finden, als Texte von AutorInnen, die schon länger dabei sind.

Dieser Fall, stellvertretend für viele andere "schweigsame" Neueinsteiger, gibt die Antwort darauf. Genau DARUM!

Hier wird eine KG am 23.11. gepostet, es werden zwei fundierte Meinungen geschrieben, aber die Autorin schweigt (und wundert sich vermutlich, warum nicht noch mehr Kritiker sich zum Text äußern).

Nun, ich hätte eigentlich auch gern was zum Text geschrieben. Aber warum sollte ich? Ich werd jetzt gleich ein wenig Schnee schippen gehen, und anschließend mal ein Kreuzworträtsel lösen ...

Damit es aber doch noch irgendwie eine Kritik wird, und sich nicht gänzlich zur Autorenschelte auswächst (und vielleicht sogar gelöscht wird):

Ich finde die KG soweit ganz gut und auch recht originell - aber es gäbe auch einige Ansätze, etwas mehr dazu zu sagen. Bloß hält mich das augenscheinliche Desinteresse der Autorin davon ab, meine kostbare Zeit weiter dafür zu verschwenden, Worte ins Nichts zu schreiben.

Sorry, dass du das jetzt stellvertretend für einige andere aus der schweigsamen Masse abbekommst. Ich möchte nur mal hinter dieses Geheimnis kommen, was sich Leute dabei denken, hier Geschichten abzuladen, als wäre das eine Textentsorgungsstation, oder eine einseitige Kritikverfassungsmaschine, in der Forumsmitglieder nur darauf warten, Geschichten von AutorInnen kritisieren zu dürfen, die sich selbst zu fein sind, oder keine Zeit haben, sich aktiv in einem Literaturforum einzubringen. Bitte verschont uns mit euren Texten!

Und ja, ich bin heute mit dem linken Bein aufgestanden, sorry!

Rick

 

an meine Kritiker,
ich habe die Kritik auch schweigend zu Herzen genommen und an der kg weitergearbeitet. Was manchen Menschen - wie in meinem fall - fehlt ist zum einen die zeit und in manchen Fällen (um auf die frage: was soll das? einzugehen) das Durchhaltevermögen an Dingen dranzubleiben und auch der Arsch in der Hose, sich Kritik anzunehmen. Rick, deine Kritik ist voll angebracht. Und es tut mir leid, dass ich mich bisher nicht geäußert habe, denn die Kritik von feirefiz und anakreon ist wirklich gut und hat mir weitergeholfen. Ich bedanke mich dafür. Als Flaschenpost verschicken ist jedenfalls auch eine gute Idee, ich werde es demnächst einmal ausprobieren.
Ich werde mich bessern, vielen dank fürs wachrütteln.

 

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