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Gefurztag
Wer sich nicht wehrt, endet am Herd. Ich endete genau so, wie gehießen. Und das immer sonntags. Denn am Wochenende hatte unsere Haushälterin immer frei. So stand ich da, statt unserer Kochfee, und knetete umständlich Teig, rührte an der Soße für 8 Pizzen. Ich hatte noch 20 Minuten Zeit.
Denn... die Kinder, für die ich da war, verstanden in dieser Hinsicht keinen Humor. Sonntag war und blieb immer der Pizzatag, vorausgesetzt ich war im Dienst. Die Kinder haben keinen Sinn für unerwartete Abweichungen im Essensplan. Sie hatten nach mehreren Monaten Psychiatrie, bevor sie zu uns in die Einrichtung entlassen wurden, gar keinen Sinn, für rein gar nichts. Außer für sich selbst und für ihre Probleme. Und probleme? Die hatten sie genug. Nicht dass ich selbst keine Probleme hätte. Die hatte ich ja auch gestrichen voll, sonst wäre ich am Ende meiner beruflichen Laufbahn nicht in diesen Sümpfen der Traurigkeit gelandet. Aber meine Probleme hingen mir zumindest nicht aus der Nase oder aus den Ohren. Ich ging nicht damit hausieren: Hier, bitte schön, habe ich dies oder jenes! Nein, das machte ich nicht. Und so stand ich wieder in der Küche wie jeden Sonntag und war im Begriff, wie am Fließband acht Bleche Pizza zu zaubern.
Anfangs achtete ich auf die genauere Beschreibung und die Äußerlichkeiten der gewünschten Scheiben aus Teig: kein Knoblauch, keine Zwiebeln, keine Kapern, kein Majoran, keine Tomatensoße, nicht zu wenig Käse hier, nicht zu viel Käse da, entschied mich dann aber für den Mittelweg: Tomatensoße aus passierten Tomaten und Öl, etwas Salz und viel Käse. Denn ich wollte heute entspannt ins Bettchen gehen und morgen ja wieder gesund, ohne gebrochenen Rippen heimkehren.
Das Telefon klingelte. Plötzlich. Aus dem Nichts. Ohne Ankündigung. Nichts Gutes verheißend. Und rieß mich aus meiner meditativen Teigvermöbelung. Die Pizzen und der dünne Hauch eines ruhigen Augenblicks verschwand sofort. Ich näherte mich vorsichtig dem schreienden Gerät, wie sich ein Dieb einer verschlossenen Schublade in einem fremden Haus nähert. Telefons Lautsprecher kratzen hilfeschreiend eine undefinierte Melodie aus seinem Bauchinneren heraus, während ich mir überlegte, ob ich mich doch lieber auf den Anrufbeantworter verlassen sollte. Die Neugier schien kurzzeitig die Oberhand zu gewinnen. Die innere Stimme wollte dann aber doch nicht aufgeben und begann an den Gedanken an die innere Ruhe zu appellieren.
Ich drehte mich mit einem heimtückischen Grinsen vom Telefon weg, voll in Gedanken an meine Meditation, und wollte schon den Tatort verlassen, als ich von einem meiner herbeigeeilten Klienten unsanft im Türrahmen umgerannt wurde: von unserem Neuankömmling - von der acht Jahre alten Johanna, die sich im Schoße unserer stationären Kinder- und Jugendhilfe erst seit drei Tagen befand.
Johannas, im neuen Bekanntenkreis zu Wladimir getauft, mochte keine Kompromisse, schon gar nicht mit dem Telefon, Anrufbeantworter oder sonstigen Gerätschaften: wenn es läutete, dann wäre es aus ihrer Sicht zweckmässig und ratsam gewesen, daran zu gehen. So lautete ihre Lebensparole in der Trennungsphase von den Eltern. Ihre Besonderheit, nie und unter keinen Umständen zu lächeln, sowie eine gewisse Ähnlichkeit mit einem gewissen Herr Wladimir Klitschko machte die Situation mit meinem scheinbar siegessicheren Abgang und Rückzug in die Küche keines bisschen einfacher. Wladimir’s schmale Lippen zu einem winzig kleinen Knopf zusammengepresst, die langen schwarzen lockigen Haare, abstehend in alle Richtungen, begleitet von der Telefonmelodie, die einem Menschen wie mir alles im Magen umdrehen ließ, versprachen nichts Gutes.
Ich wandte verstört meinen Blick von Wladimir’s Lippen ab, machte erneut kehrt und begann instinktiv den Raum vorsichtshalber nach Fluchtwegen abzutasten - weg aus Wladimir Sichtweite, noch besser aus Wladimir’s Hörweite.
Nein, das war nicht Wladimir’s Mutter. Nicht Wladimir’s Familie. Zum Glück. Ich machte Wladimir ein Zeichen, sich zu verpissen. Wladimir hatte nämlich keine Mutter mehr, hoffte aber insgeheim, noch einmal von ihrer Mutter, von einer vertrauten Stimme angerufen zu werden, dieser Stimme etwas Sakrales anzuvertrauen. Es stand aber fest, sie hatte keine Mutter, stand nun also mutterlos im Leben da. Obwohl sie gerne eine hätte. Es mag für einen uneingeweihten Leser wie Sie als schockierend oder sogar grauenvoll erscheinen, für einen Eingeweihten war aber an der ganzen Geschichte nichts Besonderes.
Die Story hatte an sich ein unangenehmeres Ende, als es Wladimir lieber war. Als Wladimir’s Mutter mit Wladimir schwanger war, es handelte sich inzwischen um das sechste Kind, entschied sie sich plötzlich, keinen Wert mehr auf bürgerliche Werte zu legen. Sie "furzte", wie sie es schön ausgedruckt hat, Johanna zur Welt und ließ sich fünf Jahre später nach Wladimir's Geburt schlicht und einfach ein neues Ende setzen beziehungsweise sich in einen Mann umwandeln. Ob Mutter’s Entscheidung für diese heldenhafte Tat, zum Vater 2.0 zu werden, mit Wladimir’s Unfähigkeit zu lächeln oder Wladimir’s Nicht-Lachen-Können mit mütterlichen Verwandlung zu tun hatte, darüber steht nichts in den Geschichtsbüchern.
Diese Entscheidung stand jedenfalls fest und wurde umgesetzt. Dies machte die bis dahin ziemlich angespannte Familiensituation keineswegs einfacher. Alle sechs Kinder, samt Wladimir, verloren auf Anhieb beide Väter, das Zuhause und wurden somit vom besorgten liebevollen Vaterland adoptiert.
Ich gab Wladimir erneut ein Zeichen, sich zu verziehen. Nein, es war weder ihr Vater noch ihr Vater 2.0. Ihre Enttäuschung über ausgebliebene Möglichkeit, einem der beiden Arschlöcher, für das geschenkte Leben eine auszuwischen, war Wladimir ins Gesicht gemeißelt. Zu den verkrampften Lippen gesellten sich noch ein paar steife Augenbraunen.
Die Frauenstimme im Hörer gehörte Mascha’s Mutter. Was? Mascha weigert sich vom Hochbett herunterzukommen, will nicht mehr zurück ins Heim. Sehr spannend! Ob ich mit Mascha sprechen will? Ich bewarf die vor Wut kochende Wladimir mit meinen belustigten Blicken, wie sie sich auf dem Esstisch samt Füßen liegend, rastlos hin und her mit dem Kopf rollend, ein Show abzog.
Der Vater von Mascha übernahm inzwischen das Telefongespräch. Ob ich irgendwelche Tipps hätte? Ja, ich kenne Mascha doch so gut und ich verstehe sie - all das Zeug. O ja, ich kann sie gut verstehen, dachte ich und fixiere mit meinem aufgesetzt mordlustigen Blick Wladimir, die meines Blickes völlig bewusst eine Serviette nach der anderen aus dem Körbchen auf dem Tisch holte, eine nach der anderen theatralisch ausfaltete und sich damit sehr effektvoll zuzudecken begann: zwei - auf die Brust, eine - auf Schambein. Meine Lippen pressten sich langsam zu einem engen kleinen Knopf, dann zu einem großen kurz vor Eruption befindenden rot angelaufenen Furunkel. Wladimir entging diese Verwandlung nicht. Sie erstarrte augenblicklich zu einer Wachsfigur: eine Servette fest zwischen zwei Händen wie ein Leichentuch über das Gesicht in der Luft hängend.
Ja-a…, zog ich etwas entgeistert die Luft aus meiner Lunge. Ich denke, ich kann Ihnen da nicht weiter helfen. Das Einzige, was ich habe, sind zwei-drei Kilo Sarkasmus und schlechten Humor. Das ist das Einzige, was bei Mascha zählt. Ich meine, ich hatte eine ähnliche Situation. Was habe ich damals noch gemacht?
Ich fixierte Wladimir immer noch mit meinem Blick. Sie atmete noch. O ja, wie gerne habe ich ungebetene Zuhörer - eine meiner neuen etwas übertriebenen Geschichte war geboren.
Sie hat das Gleiche einmal bei mir probiert. Eines Morgens, als sie bei uns in der Einrichtung ankam, wollte sie gleich am Anfang nicht zur Schule. Als ich es erfuhr, ging ich gleich in ihr Zimmer, teilte ihr mit, dass sie zehn Sekunden Zeit hat herunterzukommen. Ansonsten werde ich zu ihr ins Bett hochklettern und ihr unter ihre hoch geschätzte Decke - furzen. Im Hochbett unter der Zimmerdecke bewirken meine Furze Wunder, wissen Sie? Sogar oder vor allem bei allen Pubertierenden. Mascha reagierte erst darauf nicht. Ich war… Die Hände der auf dem Tisch liegenden Wachfigur begannen sich langsam zu senken! Wladimir’s Augenbraunen lockerte und würmten sich zu einem Fragezeichen, gespannt auf die weitere Details… im Begriff zu ihr zu klettern, um meine Drohung umzusetzen, wurde ich aber sofort von Mascha gewarnt, dass sie mir eine brettern würde, sollte ich ihre Decke mit dreckigen Händen nur berühren. Ich sagte kurz darauf, sollte sie mich schlagen, so würde ich sie erst an ihren schönen Haaren packen, von ihrem schönen Hochbett herunterwerfen, samt der Decke, dann eine zementieren oder betonieren oder brettern, was ihr am liebsten ist, dass sie nicht mehr laufen kann, und zu guter Letzt aus ihrem Zimmer durch das Fenster aus dem dritten Stockwerk pfeffern. Sie meinte, ich komme ins Gefängnis dafür: Ja, erwiderte ich, ich werde dann ins Gefängnis müssen, vielleicht für 2-3 Jahre. Fazit ist: Mascha, du bist tot, ich muss ins Gefängnis und all das nur, weil du nicht zur Schule wolltest. Ich glaube, Mascha brauchte keine zwei Minuten, um sich anzuziehen und das Haus zu verlassen, Richtung Schule. Seitdem sind wir unzertrennlich wie Bonnie und Clyde.
Am anderen Ende der Leitung herrschte tote Stile. Auf dem Tisch rührte sich nichts. Niemand lachte. Ich war stolz: meine Geschichte kam sehr gut an. Ich ging langsam zum Fenster im Esszimmer und machte es auf. In diesem Moment streifte Wladimir geräuschlos alle Servietten mit einem Schlag vom sich ab, sprang blitzschnell vom Tisch herunter und rannte aus dem Raum die Treppe hoch, zu anderen Kindern, in der Hoffnung, dort in Not Schutz zu finden, mit einer neuen Geschichte im Schlepptau, mit der sie bei anderen Kindern punkten kann, gefolgt von übertrieben lautem Stampfen meiner Hausschuhe.
Ich räusperte. Der Vater am Ende der Leitung war sprachlos. Ich mag solche Momente der Stille: Erzählen Sie aber Mascha nichts von dieser Geschichte. Richten Sie bitte ihr von uns aus, dass wir sie lieb haben und jetzt schon vermissen. Sie ist die Beste und die Tollste. Kein Wort bitte von der Furzerei unter ihre Decke? Wir verabschiedeten uns und legten auf. Ich holte das Nudelholz und startete damit, den Teig auszurollen.
Zwei Stunden später klingelte das Telefon wieder. Alle Teller, Besteck, Gläser lagen bereits sauber in ihren Schränken, alle Kinder - in ihren Betten. Meine Kollegin ging ans Telefon. Sie hörte lange und angespannt zu, sagte kurz „Ja“, „Nein“ oder „Natürlich“ und legte anschließend auf. Majestro, bist du total überschnappt? Was waren das schon wieder für Tipps, die du Mascha’s Eltern gegeben hast?! Die Kolleging begann zu lachen: Der Vater meinte gerade, selbst der Trick mit dem Furzen hat nichts geholfen. Er kündigte Mascha nämlich an, dass er ihr unter die Decke furzen wird, sollte sie nicht herunter kommen, worauf sie nur laut zu lachen begann und nicht mehr mit Lachen aufhören konnte. Mascha lachte und meinte, er würde sich Worte von einer anderen Person in den Mund legen.
Zwei Tage später wurde Mascha von ihren Eltern zurückgebracht. Ich weiß nicht, wie die Eltern ihre dreizehnjährige Tochter, die sie mit einem halben Kopf überragte, dazu bewegen konnte, ins Auto einzusteigen und hierher zu fahren. Tatsache war, Mascha stand leibhaftig vor mir, freudestrahlend wie immer, grinste mich aus vollem Gesicht an. Wir hatten uns einfach unheimlich gern. Martin, bist Du heute im Dienst, bin ich froh! Sie fixierte mich mit ihrem Blick und wartete. Ich lächtelte zurück und wartete auch, auf eine Erklärung. Es kam keine Erklärung, es wäre alles wie immer. Weisst du was? Du hast meinem Vater gesagt, er soll mir unter die Decke pupsen? Ja!? Du wirst es nicht glauben! Aber... Mein Vater hat mich fast kniend gebeten, es dir nicht zu sagen. Aber ich mache es trotzdem!
Ihre rechte Augenbraune zog sich höher als es erlaubt war - in Erwartung meiner sturmischen Reaktion, die aus professionellen Gründen natürlich ausblieb.
Mein Vater hat mir... mir tatsächlich unter die Bettdecke gefurzt. Ihre Augenbraune begann zu tanzen und sie konnte sich nach wenigen Augenblicken nicht mehr halten. Es lachte. Erst leise, dann aber immer lauter und lauter. Meine aufgesetzte Proffesionalität kündigte, und ich begann mitzulachen. Vielleicht lachte sie, weil ich ihrem peinlichen Vater solche abgefahrenden Ratschläge gab, ich lachte vielleicht über den Mißverschick von Mascha's Vater und dass ich über diese Entgleisung jetzt bescheid wusste. Vielleicht lachten wir einfach so - ohne Grund. Nur weil wir beide nichts von diesem Leben hatten oder nichts mehr von diesem Leben erwarteten: ich - ein Mann ohne Vergangenheit, sie - ein Mädchen ohne Zukunft mit ihrem Diagnose. Vielleicht lachten wir jetzt nur, weil wir sonst niemanden zum Lachen hatten. Zum Lachen ohne Verpflichtungen, ohne "Wenn" und "Aber". Jetzt hatten wir uns wieder - zwei Lachkönige. Ja, das war uns wichtig, wir hatten uns wieder. Als wären wir füreinander bestimmt, sich gegenseitig zum Lachen bringen, sich grundlos über die Kleinigkeiten dieses Lebens zu freuen. Zusammen. Und so standen wir da und lachten.
Andere Kinder steckten die Köpfe aus ihren Zimmern und begann sich zögern zu uns zu gesellen. Als letzte kam die Neue: unser Wladimir. Etwas scheu und mit steifen misstrauischen Lippenknopf mitten im Gesicht.
Kaum konnte ich wieder Luft bekommen, kotze ich Wort für Wort einen Satz aus mir heraus: Mascha… ich… ich flehe dich an… auf Knien… verspricht es mir!.. Versprich es mir wirklich! Sag bitte… bitte… bitte… deinem Vater nicht… dass du mir… gesagt hast… dass dein Vater dich anflehte… nicht zu sagen… dass er… er... dir unter die Decke gefurzt hatte. Inzwischen konnte sich die ganze Gruppe nicht mehr vor Lachen halten. Entweder saß oder lag man am Boden und lachte grundlos mit.
Klitschkos steife Lippenknopf stand unentschlossen versteckt hinter dem Schrank im Flur, scheinbar unbeteiligt und trotzdem die ganze Situation gierig und genau beobachtend. Dann geschah etwas Undenkbares! Der "Schrank" pupste plötzlich. Wladimir's Lippenknoten verzog sich zu einer Grimase, begann dann aber unkontrolliert zu beben, löste sich langsam, zog sich in die Länge, um dann anschließend einem gewaltigen unhaltbaren Lachen den Weg freizumachen. Zum ersten Mal seit drei Tagen. Vielleicht im ganzen Leben. Eine schwere Geburt. Alles Gute zum Gefurztag! Willkommen in dieser verrückten Welt...