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Geflutet
Bizarr! Und Rosa! Vielleicht mit einem Hauch Violett.
Genau so sahen die Wolken über dem leicht bewegten Meer vor Erwin aus. Er wusste, bald würde sie kommen. So wie jeden Tag.
Erwin lächelte, während seine Zehen im warmen Sand spielten.
Leute hatten ihm erzählt, sie hätte etwas Unheimliches - die langsam steigende Flut. Weil sie es irgendwie unauffällig tat - wie sie kam. Tropfen für Tropfen pirschte sie sich heran, nässte und unterspülte langsam den Strand. Rinnsale formten kleine Teiche, diese verrannen zu Seen und noch bevor man es richtig wahrnahm, war der Ozean nähergerückt. Und das Spiel begann von vorne. Zentimeter für Zentimeter. Tropfen zu Rinnsal zu See zu Meer. Erwin mochte vor allem die Ruhe, aber auch das unaufhaltsame Streben dieses Vorgangs.
Unheimlich fand er daran rein gar nichts.
Sicher, sie konnte gefährlich sein - keine Frage. Wenn sie sprang oder auch, wenn sie nicht mehr heimkehren wollte. Doch Erwin nahm ihr das nicht übel.
Was soll's? Menschen waren auch oft ungeduldig und wollten statt kleinweise gleich als Ganzes durch die Wand. Auch sie blieben manchmal, wo sie nicht hingehörten. Und wenn wieder einmal Schreckensbilder einer gefräßigen Flut weltweit über die Bildschirme flimmerten und allerorten Trauer und Grauen herrschte, vergaßen die Menschen den simplen Umstand, dass sie auch oft mehr aßen, als ihnen gut tat.
Sand und Wasser vermischten sich zu einer lockeren, gleichzeitig zähen Masse, die Erwins Füße umspielte und danach zwischen seinen Zehen abtropfte.
Das Schöne an der Flut war, dass, selbst wenn sie einschloss, alles am Fließen blieb. Obwohl - ehrlicherweise musste man zugeben, dass auch sie nicht gerne hergab, was sie einmal in ihren feuchten Armen hielt. Doch wer tat das schon?
Erwin zum Beispiel - einst hatte er fast alles gehabt. Gesundheit, Job, Freunde, Geld und sogar hin und wieder ein wenig Zeit für sich selbst. Andere wären damit mehr als zufrieden gewesen. Nicht so Erwin. Tag für Tag hatte er alles zusammengerafft, um das zu zelebrieren, was man gemeinhin Leben nennt. Er hatte gesucht, ohne zu finden oder überhaupt zu wissen, dass er suchte. Immer am Puls der Zeit, immer auf der Jagd nach mehr. Die Ansprüche waren zeitgleich zu seinem Vermögen gestiegen, doch irgendwann musste er sich eingestehen, dass nichts mehr ging. Er steckte fest. Zähe Massen verklebten seinen Bewegungsdrang. Die Freunde wurden ihm zuwider, das Geld immer weniger, der Job langweilig, seine Gesundheit vernachlässig- und die Zeit verschwendbar.
Bis nichts mehr floss. Bis er nur noch eingeschlossen war in seinem eigenen lächerlichen Ich. Unfähig, die eigene Uferlosigkeit auch nur zu erahnen.
Ein wohliges Stöhnen entrang sich Erwins Lippen, als das steigende Wasser seinem bloßen Unterkörper schmeichelte, zärtlich seinen Penis in kleine Bewegungen versetzte.
Wie hatte er nur glauben können, dass sein Lebensdilemma mit immer ausschweifenderen, zuerst visuellen - später körperlichen Reizungen kompensierbar war?
Die Flut hingegen ... machte es richtig in ihrer Gleichgültigkeit. Was interessierte eine natürliche Urform irgendwelche Reize? Der einzige Anreiz für sie war, ihrer Bestimmung zu folgen. Sie wurde vielleicht mehr aus Sicht des Eingeschlossenen - aber niemals wollte sie mehr. Sie war absolut zufrieden mit der Chance, das Land zu erobern, doch die Berge im Hinterland beachtete sie nicht.
Bei Erwin lagen die Dinge da etwas anders. Dabei hatte es harmlos angefangen. Eigentlich fand er nur, dass immer mehr Schrott im Fernsehen gespielt wurde. Darum begann er, ins Kino zu gehen. Doch das intellektuelle Zeug nervte bald und der Kommerzfilm bescherte nur immer schlechtere Gags, kitschigere Romanzen und noch blutigere Leichen. Dadurch bekamen diese aussterbenden Kinos, die man unauffällig über Seiteneingänge betritt, eine immer größere Faszination. Aber auch dieser Reiz verflog schnell. So etwas konnte man sich leicht nach Hause holen - nebenbei waren dort die hygienischen Verhältnisse besser. Film folgte auf Film und die Bilder überschwemmten sein Gehirn. Schon bald wurde aus vaginal anal und selbst Doppelpenetrationen langweilten rasch. Sado-Maso musste her oder zumindest "Golden Showers", wenn nicht "Kaviar". All die kopulierenden, schlagenden und defäkierenden Paare und Gruppen wurden zu einer einzigen verschwommenen Fleischlichkeit.
Den Bildern folgten Taten. Die "freie Wildbahn" war schnell abgegrast und überfordert von seinen immer exklusiveren Wünschen. Erwin wollte mehr und bald half nur der immer tiefer werdende Griff in die Geldbörse. Alles wollte, alles musste ausprobiert werden. Immer feuchter die Träume, immer tiefer das Vordringen, immer steigender die Ansprüche.
Vielleicht doch ein wenig ähnlich der Flut? War ihr denn nicht ebenfalls egal, in welche Löcher sie vorrückte, welche Gefühle sie ertränkte? Schwemmte sie nicht vorwärts bis zu dem Punkt, wo sie wieder umkehrte, nur um es beim nächsten Mal wieder zu tun - gefangen in einem ewigen Drang? Aber immerhin kehrte sie um.
Wasser bis zum Hals.
Metapher, Sinnspruch und ewige Ausrede. Erwin konnte gar nicht mehr zählen, wie oft diese Worte in seiner Umgebung gefallen waren. Doch was bedeuteten sie eigentlich? Dass man zu feige war unterzutauchen? Dass man genau in diesem Moment dahinter kam, vergessen zu haben, schwimmen zu lernen?
Erwin genoss diesen Zustand - zumindest jetzt. Die Flut reinigte seinen Körper. Das Salz, der Sand, das Wasser, die mitgebrachten Muscheln und Pflanzen - sie alle massierten und kratzten, liebkosten, spielten und heilten ihn von all dem Wasser, das ihm bis zum Hals gestanden war.
Irgendwann konnte Erwin nicht einmal mehr sein Spiegelbild ertragen. Er war gesunken. Tief. So tief, dass sein Kinn den Wasserspiegel berührte. Auch eine Methode, Wasser bis zum Hals stehen zu haben. Seine Freunde waren mit diversen Strömungen von ihm weggetrieben. Der Job an schwimmenden Eisbergen zerbrochen. Zeit, Gesundheit und Glück den Bach hinunter gegangen.
Seltsam.
Wo die Flut doch normalerweise alles wiederbringt, was sie einst mit sich genommen hat, schienen die Gezeiten des Lebens anderen Regeln zu folgen.
Wie das Wasser der steigenden Flut lieblich in seinen Ohren kitzelte.
Es flüsterte leise von wendigen Fischen, nie gesehenen Schönheiten und tiefen, wundersamen Geheimnissen.
Ja - Erwin konnte die Flut nur schön finden. So direkt, so stetig, so ehrlich.
Niemals dem reißenden Strom entsprechend, der einen vergessen macht, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Erwins Nase und Augen wurden vom salzigen Nass benetzt.
Er konnte feststellen, dass es auch nicht mehr brannte als so vieles andere, was seine Augen sehen und seine Nase riechen mussten.
Ach, es war einfach nur schön, wenn man geflutet wurde.