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Eine Neuerzählung der Sage um Pyramus und Thisbe. Die wesentlichen Merkmale des Originals wurden beibehalten.
Geflüstert
Phelan stand da, den Kopf an die Wand gelehnt. Sie war angenehm kühl an seiner Haut. Das einzige Geräusch war sein Atem, dessen leises Echo von der Wand zurückgeworfen wurde. Wie jedes Mal hatte er lange gewartet, bis seine Eltern aus dem Haus gegangen waren und ihn in seine Hausaufgaben vertieft am Schreibtisch zurückließen. Sie waren besorgt, das wusste Phe. Er sprach nicht viel, zog sich immer weiter zurück, auch von seinen Freunden. Oft hörte er seine Eltern deswegen streiten und über die unmöglichsten Gründe für sein Verhalten diskutieren. Doch den wahren Grund erkannten sie nie, obwohl er direkt vor ihnen lag. Praktisch nur eine Wand entfernt.
Es war das Nachbarhaus. Das einzige Haus im Dorf, das von Graffiti verunstaltet worden war, mit Sprüchen voller Hass und Drohungen. Niemand sprach mehr den Namen der Familie aus, die dort wohnte. Der Mann wurde schon vor langer Zeit mitgenommen, in einer von Blaulicht und Schreien erfüllten Nacht. Doch als er weg war, der Mörder, verschwand die Wut nicht mit ihm. Die Leute brauchten ein neues Ziel für ihren Hass. Seine Frau verlor ihre Arbeit, kam wochenlang nicht aus dem Haus. Doch das war Phe egal. Denn sie war nicht die Person, mit der er litt.
Schlagartig riss er den Kopf hoch. Hatte er sich das Rascheln auf der anderen Seite nur eingebildet? Sorgsam suchte er den Raum hinter sich auf unerwünschte Beobachter ab und linste dann durch den schmalen Spalt in der Wand auf die andere Seite. Nichts. Phe sah nur einen Teil des alten Ledersessels und die übliche, grüne Tapete. Vor einem Jahr hatte er noch in dem Sessel einen Platz gefunden. Wie oft war er damals in diesem Haus gewesen, hatte sie vor dem schmalen Fenster zum ersten Mal geküsst. Er ließ ab und legte stattdessen sein Ohr horchend an die Wand. Direkt neben den tiefen Spalt, von dem seine Eltern nie erfahren durften.
Lange Zeit wusste er nicht, wohin er im Leben gehen sollte, hatte nie einen Weg oder ein Ziel. Fühlte sich nie richtig angekommen in dieser Welt. Bis er sie traf. Denn ab dem einen Augenblick wusste er ganz genau, wo sein Platz war.
Plötzlich wehte ihm ein sanfter Hauch über seine Wange und ein erleichtertes, aber trauriges Lächeln stahl sich über sein Gesicht. Phe‘s Körper kribbelte, als ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief und er seine Lippen nahe an den schmalen Riss in der Wand legte.
„Ich habe Len`s Kellerschlüssel geklaut, als er wieder seine Spraydosen rausholen und deinem Haus einen Besuch abstatten wollte. Jetzt hat er mal ordentlich Zeit zum Nachdenken“, wisperte er ernst in den dunklen Schlund.
Len war ein alter Bekannter. Früher, als diese Welt noch nicht zusammengebrochen war, ein Freund. Doch als der Mörder gefasst war, ließ Len seinen Hass an dessen Familie aus.
Das leise Lachen auf der anderen Seite ließ ihn selbst unweigerlich lächeln. Und da war es wieder, dieses Gefühl, das seinen ganzen Körper zu elektrisieren schien.
„Das kannst du dir bei dem schenken“, kam es ebenso ernst zurück, doch Phe hörte ihr Kichern im Unterton.
Bei dem Gedanken, dass ihnen nur diese heimlichen Treffen blieben, wurde sein Lächeln wehmütig. Seine Eltern hatten es ihm ausdrücklich verboten, er sollte jeden Kontakt abbrechen. Wenn sie es herausfinden würden … Es herrschte Stille auf beiden Seiten. Sie wussten, dass beide dasselbe dachten.
Phe räusperte sich. „Thea?“
„Ja, Phe?“, flüsterte Thea zurück und stellte sich auf die Zehenspitzen, um einen Blick auf die andere Seite der Wand zu werfen. Phe schien denselben Gedanken gehabt zu haben, denn sie blickte in seine dunkelblauen Augen. Eine wunderschöne Farbe, fand Thea. Schon als sie ihn zum ersten Mal sah, hatte sie sich jeden einzelnen Fleck in seiner Iris eingeprägt. Wie jetzt, als sie durch den Riss in der Wand miteinander sprachen, bildete sie sich jedes Mal ein, die Unregelmäßigkeiten der Farben im schwachen Licht erkennen zu können. Die Jahre vergingen, als Phe sich an seinem fünftzehnten Geburtstag das Bein brach, Thea sich mit sechzehn über eine schlechte Note ärgerte und als aus ihrer Freundschaft viel mehr wurde. Als sich dann vor einem Jahr die Ereignisse überschlugen, ihr Vater verhaftet wurde, ihre Mutter sie nicht mehr aus dem Haus ließ, weil die Leute sie auf der Straße bespuckten, obwohl sie sich selbst vor Schock kaum aufrecht halten konnte, wollte niemand mehr etwas mit ihr zu tun haben.
Nur Phe blieb.
Auge in Auge sahen sich nun entgegen. Wenige Zentimeter entfernt, doch wie immer unerreichbar. Wie oft hatten sie so dagestanden, Thea auf der einen Seite, Phe auf der anderen. Wenn sich ihr Atem traf, vermischte in dem schmalen Spalt, den niemand sonst kannte. Wie oft hatten sie sich gewünscht, dass sie sich nur einmal berühren könnten. Doch mit jedem Tag, an dem sie ihre Treffen verheimlichten mussten, geflüsterte Worte in einsamen Momenten, loderte das Feuer in ihnen umso mehr.
Als Phe sich erneut räusperte, beschlich Thea ein ungutes Gefühl. Seine Stimme klang brüchig, als er sprach. „Ich kann einfach nicht mehr, Thea“, flüsterte er.
Thea zog überrascht die Luft ein. Eine Welle aus Panik überrollte sie. „Was meinst du damit …?“, fragte sie heiser und betete, dass er ihr nicht die Antwort gab, die sie in ihren Albträumen verfolgte.
Doch es war genau diese.
„Das hier. Die Heimlichtuerei. Dass wir uns nicht treffen dürfen. Dass ich nicht jedem eine reinhauen kann, der schlecht über dich spricht. Das ALLES! Ich kann das nicht mehr aushalten!“, brach es aus Phe heraus.
Thea warf hastig einen Blick zur Tür hinter sich und hoffte inständig, dass ihre Mutter nichts mitbekommen hatte. Oder hoffte sie innerlich doch, dass nun ihre Mutter hineinkam und sie das Gespräch auf den nächsten Tag verschieben müssten? Aber als nur Stille den Raum erfüllte, ließ Thea sich auf ihre Füße sinken und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Sie wusste nicht, wie sie einen Tag ohne Phe einen einzigen Schritt vor den anderen setzen sollte.
„Lass uns abhauen“, sagte Phe plötzlich in die Stille.
Thea schnaubte halb lachend, halb frustriert. „Das kann nicht dein Ernst sein.“ Sie stellte sich blitzschnell wieder auf die Zehenspitzen und linste zur anderen Seite. Doch Phe’s Miene war ernst.
„Ich meine es so“, wisperte Phe beinahe unhörbar. Er starrte durch den dunklen Riss und wartete auf eine Reaktion. Die Brust explodierte ihm fast vor Spannung. Als er dachte, dass er es nicht mehr aushalten würde, blinzelte Thea.
„Okay“, flüsterte sie zurück.
Fast glaubte er, sich verhört zu haben. „Wirklich?“, fragte er.
Ein Lächeln breitete sich langsam auf ihrem Gesicht aus. „Ja.“
Es war, als fiele die Last der ganzen Welt von seinen Schultern. Erleichtert atmete Phe aus und sein Blick wurde sanft. „Heute Nacht. Am Maulbeerbaum.“ Er wollte sich abwenden.
„Warte“, sagte Thea hektisch und Phe blickte sich erschrocken um, obwohl er der Einzige im Haus war.
„Bist du dir wirklich sicher, dass du es willst?“, fragte sie.
Phe wurde ernst. „Jeder hier ist mir egal. Ich dachte immer, dass ich nie etwas an meinem Leben ändern könnte. Dass alles ist, wie es ist. Aber du bringst mich dazu, es - nein ALLES infrage zu stellen. Ich gehöre nur zu dir, Thea.“
Thea’s Stimme klang entschlossen, als sie sprach. „Und ich zu dir.“
Dann war Phe allein. Er stand noch ein paar Minuten da, die Hand an der Wand abgestützt und kämpfte darum, seinen bebenden Atem wieder unter Kontrolle zu bekommen.
~
Die Kälte der Nacht ließ Thea ihre weiße Strickjacke fester um den Körper wickeln. Im Schutz des Gebüsches, hinter das sie geflüchtet war, blickte sie auf ihren Arm. Er war blutverschmiert und ein großer Stofffetzen war herausgerissen. Als Phe und sie das Gespräch beendet hatten, hatte sie umgehend ihre Sachen gepackt. Doch als die Nacht endlich angebrochen war, war es trotzdem nicht leicht für sie gewesen, ihre Mutter schlafend und unwissend in ihrem Bett zurückzulassen. Monatelang hatte Thea ihrer Mutter gehorcht, sie war nie aus dem Haus gegangen, hatte sich abgeschottet. Der einzige Lichtblick waren die Gespräche mit Phe gewesen. Es war die richtige Entscheidung, hatte sie sich noch ermutigt und war hastiger vorwärtsgegangen. Zu dieser Tageszeit schliefen die meisten Leute bereits. Sonst wäre es wegen der Menschen gefährlich gewesen, die Thea Böses antun wollten. Doch als Thea ihre Tasche abgestellt hatte und aufgeregt unter den dicken Ästen des Maulbeerbaumes gewartet hatte, merkte sie, dass es hier am Rand des Dorfes ebenfalls nicht sicher war. Das tiefe Knurren dicht neben ihr, gepaart mit den drohend reflektierenden Augen zwischen den Blättern der Büsche, hatte sie in die Realität zurückgerissen und schlagartig zusammenfahren lassen. Thea hatte sich suchend umgesehen, doch da Phe noch nicht da war, blieb ihr nur die Flucht. Der dünne Stoff ihrer Jacke hatte sich in den Dornen des Gebüsches verfangen und war hängengeblieben. Sie hatte ihren Arm losgerissen und leise geflucht, als dabei ihre Haut aufgerissen wurde und ein blutverschmiertes Stoffstück hängengeblieben war.
Thea wusste nicht, wie viel Zeit mittlerweile vergangen war, bis sich ihr Atem endlich beruhigt hatte. Da der Mond nun hoch am Himmel stand, wagte sie sich wieder aus ihrem Versteck und ging vorsichtig zurück in Richtung ihres Treffpunkts. Phe wartete bestimmt schon ungeduldig. Selbst aus der Ferne glitzerten die weißen Früchte des Maulbeerbaumes im Mondlicht. Er stand auf einer Lichtung, nur ein paar Gebüsche links und rechts, die jedoch genug Versteck bieten konnten, das wusste Thea nun. Sie hörte keine Schritte weit und breit, doch atmete erleichtert aus, als sie Phe’s Tasche neben ihrer stehen sah. Gepackt, fertig für den Aufbruch. Er saß hinter dem Baum, sodass Thea nur einen seiner Schuhe ausmachen konnte. Glücklich schlich sie um den dicken Stamm.
Als sie ihn erreichte, verstand sie nicht, was sie dort sah. Doch die Erkenntnis sickerte in ihren Verstand, langsam und bitter. Und mit einem Mal war Thea wie unter Wasser. Sie hörte nichts, fühlte sich wie schwerelos, ihr Verstand war vollkommen leer, ausgelöscht. Wie in Trance setze sie sich neben Phe. Seine Haut sah bleich aus, wie er da so saß im Gras. Thea nahm seine Hand und strich geistesabwesend über die zarte Haut. Sie hatte ihn so lange nicht berührt. Selbst im weißen Licht des Mondes konnte sie die Farbtupfer ausmachen, die das dunkle Blau seiner Iris durchbrachen. Thea beugte sich vor und küsste ganz sachte seine Lippen. Sein Gesicht glitzerte, war vor Tränen nass. In der Hand hielt er noch den blutigen Fetzen von Thea‘s Jacke. Ihr eigenes Blut an seinen Lippen.
Sie konnte ihn vor sich sehen. Wie er an dem Maulbeerbaum ankam, glücklich, erwartungsvoll. Doch nur ihre Tasche dort liegen sah neben den Tierspuren, das Blut an seinen Händen, als er den Überrest ihrer Jacke an sein tränenüberströmtes Gesicht hielt. Dass auch er es keinen Tag ohne sie aushalten würde, keine Sekunde länger in einer Welt ohne Thea. Wie er ihren Namen wimmerte, immer wieder fluchte, weil er sie allein hatte gehen lassen, doch es jetzt zu spät war, sie zu wenig Zeit zusammen gehabt hatten. Er mit leerem Blick zu seiner Tasche sah und sich kraftlos sinken ließ.
Aber Thea weinte bei dem Anblick nicht. Vielmehr fühlte sie rein gar nichts, sie war betäubt, innerlich bereits tot. Thea zog Phe sein eigenes Messer aus der Brust. Das Blut darauf war noch warm. Das Metall spiegelte sich im Mondlicht und sie blickte zusammen mit Phe in den Himmel. Es war eine wunderschöne Nacht, bemerkte sie wie in weiter Ferne. Die Sterne glitzerten selig auf Thea hinab, während sie die Klinge gegen sich selbst richtete. Und ihr Blut vermischte sich mit dem von Phe, als sie ihren Kopf an seine Schulter legte, seinen Duft einatmete. Es schimmerte im sanften Schein, verschmolz langsam mit den Kontouren um sie herum und färbte die hellen Früchte des Maulbeerbaumes in ein tiefes Rot.