Gefangen
"Heh! Hallo! Ist hier jemand?" rief Angela und lauschte angespannt. Nichts. Es war vollkommen still, nich mal ein Echo, dass die drückende Stille erfüllt hätte. Sie hob ihre Hände, ballte sie zu fäusten und hämmerte gegen die verschlossene Lifttüre, während sie weiter um Hilfe schrie, wieder verstummte und lauschte, ob wohl nicht doch jemand kam. Schliesslich liess sie sich auf den Boden sinken, zog ihre Beine an, schloss ihre Arme darum und legte das Kinn auf die Knie. Eine Träne bahnte sich ihren Weg über die Wange der jungen Frau. Wie lange war sie nun schon in diesem Lift eingeschlossen? Als sie den Lift betreten hatte war es 16:00 Uhr gewesen - dies wusste sie, da sie in der Eingangshalle gestanden und ungeduldig von einem Bein aufs andere getreten war und darüber geflucht hatte, wie langsam der Lift sich bewegte, weil sie den Zug nach Zürich nicht hatte verpassen wollen. Jedenfalls fuhr der Lift nun gar nicht mehr, Angela verspürte keine Ungeduld mehr und um die Zeit brauchte sie sich auch nicht mehr zu kümmern, da ihre Uhr den Geist schon vor langem aufgegeben hatte. Eigentlich schien alles bestens, nur dass sich der Lift ausgerechnet einen Freitagabend zum Streiken ausgesucht hatte. Samstags wurde hier nicht mehr gearbeitet, Sonntags sowieso nicht und Montags - Montags war der 25. Dezember. "Verdammt!" fluchte Angela. Dies musste auch ausgerechnet ihr, einem ausgesprochenen Weihnachtsmuffel, passieren. Sie sprang auf und kickte wütend gegen die Wände, während ihr erneut die Tränen in die Augen schossen. Es war ihr egal, wie doof sie von dem Mann, der die ganze Zeit schweigend in der Ecke des Liftes gestanden hatte, angestarrt wurde. Angela warf ihm einen wütenden Blick zu. Wenn Blicke töten könnten, wäre der Herr sofort tot umgefallen, dachte sie. Tat er auch. Zumindest war das Angelas erster Gedanke, als der Mann in sich zusammensackte und auf den Boden glitt. "Was...?" fragte Angela und blickte ihn entgeistert an. Seine Augen waren verdreht, so dass nur noch das Weisse zu sehen war. Sie kniete sich nieder und legte ihr Ohr auf die Brust des Mannes, doch was sie hörte war ihr eigener aufgeregter Herzschlag. Sie griff nach dem Handgelenk und wechselte mehrmals die Stelle, um den Puls zu fühlen, doch sie spürte nichts - nicht die kleinste Regung in den Adern des Mannes. Angela legte ihre Finger an den Hals und suchte nochmals verzeifelt nach dem Puls. Doch auch diesmal fühlte sie nichts. "Na toll, mit einer Leiche im Lift eingeschlossen - SUPER, ich liebe Weihnachten", murmelte sie. "Wenigstens geht mir so die Luft erst später aus, falls ich nicht verdurste oder sonst irgendwie krepiere, so wie der da." Angela stand auf und lehnte sich, möglichst weit von dem Mann entfernt, an die Wand, fingerte eine Zigarette aus einer Zigarettenpackung ihrer Jackentasche und zündete sie an. Es war ihr so ziemlich egal und auch den Gedanken, in ihrem eigenen Zigarettenqualm zu ersticken, fand sie gar nicht mehr so schlimm. Vielleicht löst es sogar den Feueralarm aus und es kommt jemand, dachte sie, obwohl sie von dieser Idee nicht sehr überzeugt war. Sie wusste nicht mal, ob es in Astano eine Feuerwehr gab. Sie blickte nach oben. In "Mission: Impossible" war Tom Cruise (oder wer auch immer, sie sah selten fern) einfach durch die Decke geklettert. Was dieser Trottel kann, kann ich schon lange, dachte Angela entschlossen und machte sich daran, die Deckplatte zu entfernen. Endlich gab sie nach und sie konnte die Platte wegschieben. Verbissen krallte sie sich an den Kannten fest und versuchte, sich hoch zu ziehen. Mit den Beinen strampelnd versuchte sie, irgendwo Halt so finden, doch die Liftwände waren zu glatt. Angela verfluchte ihre schlechten Zensuren im Sportunterricht und nahm sich fest vor, in Zukunft immer brav die Treppe zu nehmen. Als sie sich gerade ein Stück weit hochgezogen hatte, ertönte hinter ihr eine Stimme. Vor Schreck versagten die Muskeln in ihren Armen, sie verlor den Halt, fiel auf den Boden und schlug hart mit dem Schädel an die Wand. Angela langte mit ihrer Hand nach hinten und rieb sich die schmerzende Stelle, während sie schon wieder den Mund öffnen und etwas sagen wollte, als sie sich erinnerte, warum sie überhaupt gestürzt war. Sie blickte auf. Das Blut gefror ihr in den Adern, als sie die Leiche direkt vor ihr anstarrte - oder hatte er doch gelebt? Die Augen des Mannes waren immer noch unnatürlich verdreut, so dass immer noch nur das Weisse und die feinen roten Äderchen zu sehen waren. Angela schluckte und spürte, wie ihr Herz schneller schlug, als sich der Mann neben sie niederkniete. Sein Gesicht schwebte nun direkt vor dem ihren und Angela erkannte, dass es nicht der Mann war, dem sie den Puls gefühlt hatte - dies war eindeutig ein anderer Mann, da war sich Angela ganz sicher, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie er in den Lift gekommen sein sollte. Ihn übersehen zu haben war ausgeschlossen. Oder...? Wie war der andere Mann gestorben? Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Der Mann legte seine Hand an das Gesicht der jungen Frau. Angela schluckte. In dem Moment erklang ein Surren und der Mann schaute kurz auf, als sich die Lifttüren öffneten und Angelas Bruder Sebastiano hereinstürzte. Angela atmete auf und lächelte triumphierend, wenn auch schwach. Es war ihr letzter Atemzug. Das letzte, was sie sah, bevor ihr die Sinne schwanden, war das Grinsen des Mannes, als er feststellte, dass er gewonnen hatte. Den schockierten Gesichtsaudruck ihres Bruders, als er sich zu ihr niederkniete, um den Puls zu fühlen, oder den Moment, als sich die Lifttüren wieder schlossen und Sebastiano vergebens daran rüttelte und, wie sie vor Stunden, um Hilfe rief, erlebte sie nicht mehr.