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Gefangen
Der Sturm blies noch einmal ordentlich die Backen auf, als Rebecca auf dem Rückweg war. Obwohl sie jung und gut in Form war, brannten ihre Oberschenkel, während sie sich im Stehen in die Pedale stemmte. Das Klappern des Fahrrades wurde übertönt von der Brandung, die unten neben dem Weg an die Kippen schlug. Sogar hier oben auf dem Höhenweg, spürte sie den Sprühnebel der Ostsee auf ihrem Gesicht. Auf ihren Lippen mischte sich der salzige Geschmack von Schweiß, Seewasser und Tränen.
Die kleine Lampe erhellte nur schwach den holprigen Waldweg, und die Bäume bogen sich im Wind. Wenn jetzt nur kein Ast runterkommt, dachte sie verschwommen. Jede Kurve, die sie besonders nah an den Klippenrand brachte, erinnerte sie an die Meldungen über die Küstenabbrüche im letzten Jahr. Besonders bei Sturm und viel Regen sei es besonders gefährlich, und erst im Dezember war hier ein kleines Mädchen abgestürzt und verschüttet worden. Sie wusste, dass diese Information auf den großen Tafeln stand, die sie jetzt nur als dunkle Schatten am Wegrand wahrnahm. Ich sollte hier nicht sein, nicht jetzt, ging es ihr durch den Kopf. Sie kämpfte die Panik nieder und strampelte noch ein bisschen schneller.
Als der Regen einsetzte, musste sie absteigen. Ganz plötzlich stürzte das Wasser aus dem dunkelgrauen Himmel, der direkt über den im Wind schwankenden Bäumen zu hängen schien. In kurzer Zeit war der Weg aufgeweicht und erinnerte an einen Bach. Sie schmiss das Fahrrad zur Seite und rannte weiter. Der Schlamm quatschte weich zwischen ihren Zehen, die nur in Sandalen steckten. Ihre Füße wurden immer schwerer und sie konnte nichts mehr sehen.
Plötzlich wurde sie ganz ruhig. Sie hielt ihr Gesicht in den Sturm, genoss das kalte Wasser auf ihrem Gesicht und tastete sich einfach weiter. Sie spürte die raue Rinde der Kiefern unter ihren Handflächen. Egal, sagte sie sich, es ist egal. Und sogar ein kleines Kichern entfuhr ihr. Wir müssen alle sterben, dachte sie, das sage ich doch immer. An irgendetwas müssen wir alle sterben, das gehört zum Leben dazu, und wenn es so sein soll, dann sterbe ich eben hier. Das ist nicht der schlechteste Ort. Bei schönem Wetter ist es hier sehr romantisch. Und weiterleben wäre sowieso nicht die beste Idee, nach dem, was ich getan habe. Lieber hier sterben, an einem wundervollen Ort, als für den Rest meines Lebens im Knast verrotten. Es gab keine Zeugen und wer würde ihr schon glauben, einem obdachlosen Mädchen aus Berlin, dass sich nach Rügen verirrt und einen kleinen Jungen getötet hat. Ein kleiner Junge, der gar kein kleiner Junge war. Er sah nur aus wie ein kleiner Junge, vermutlich auch jetzt noch, wie er da liegt.
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Das leerstehende Gebäude am Nordstrand hatte sie gestern gefunden. Nachdem sie ihren Rucksack auf dem verdreckten Fußboden abgestellt und ihren Schlafsack ausgebreitet hatte, war sie zum Strand gegangen und hatte den schönen Tag genossen. Jetzt konnte sie sich nicht mehr vorstellen, dass es gestern noch so warm war, dass man sich die Füße auf dem heißen Sand verbrannte.
Als es abends kühl wurde, hatte sie ein Feuer gemacht und ihre letzten Würstchen gegrillt, die sie zuvor in einem kleinen Supermarkt geklaut hatte. Die letzten Touristen waren irgendwann verschwunden, in ihre Hotels und auf ihre Campingplätze, und sie hatte noch lange glücklich im Sand gesessen und beobachtet, wie der Himmel immer dunkler wurde und der Wind immer heftiger.
Dann war sie zurück gegangen in ihr neues Zuhause und hatte sich in ihren Schlafsack gekuschelt. Sie träumte. Wirre Bilder und Geräusche. Wind, Brandung und ein Klopfen. Ein Schleifen und Kichern. Langsam tauchte sie aus dem Schlaf auf und der Traum verblasste. Die Geräusche blieben. Sie schrak hoch und öffnete die Augen. Zuerst dachte sie, sie sei erblindet oder sie träumte noch, denn sie konnte nichts sehen.
Sie träumte oft davon, nichts sehen zu können. Das passte zu ihr, sie konnte wohl einfach nicht sehen, wie das mit dem Leben funktionierte, andere konnten das besser. „Mein kleiner Bruder zum Beispiel“, dachte sie bitter. „Der wusste von Anfang an, wie man alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Wahrscheinlich haben meine Eltern längst vergessen, dass sie je eine Tochter hatten.“
Dann wurde ihr klar, dass sie wach war. Und eingesperrt. Sie sprang auf. Draußen hörte sie Schritte. „Hey“, brüllte sie, „lass mich raus hier!“
Ein Kichern drang durch das Geräusch des stärker werdenden Windes. „Ein Kind“, dachte Rebecca perplex.
Sie rannte zur Tür und fand sie verrammelt. Als sie sich dagegen warf, stellte sie fest, dass ein Baumstamm davor lag. Sie wandte sich den Fenstern zu und rüttelte an den davor genagelten Brettern. Sie presste ihre Nase an einen Spalt und spähte hinaus. Es war dunkel draußen, aber sie sah einen Schatten. Einen menschlichen Schatten. Und der war groß, sehr groß. Das Frösteln, dass ihr über den Rücken lief, war nicht der Kälte geschuldet.
Sie bekam keine Luft, obwohl sie sich selbst atmen hörte. Stöhnend, schluchzend. Sie klopfte sich mit der flachen Hand auf die Stelle zwischen Hals und Brust, während sie in der dunklen Hütte auf und ab ging. Immer wieder versuchte sie, die Bretter vor den Fenstern zu lösen. Mit aller Kraft warf sie ihren kleinen Körper dagegen, prallte ab und versuchte es erneut, bis ihre Schultern schmerzten und ihre Fingerkuppen bluteten. Sie rief „Hallo“ und „Hilfe“, immer wieder, bis ihre Stimme versagte und sie weinend zu Boden sank. Draußen hörte sie nichts mehr.
„Was passiert hier mit mir?“, dachte sie, „Wer tut mir das an und warum?“
Und dann kamen die Gedanken. Die Gedanken an früher. War es nicht immer schon so gewesen? Hatte sie sich nicht schon immer eingesperrt gefühlt? Eingesperrt in ein Leben, das nicht ihres war? Die Eltern, die gute Noten erwarteten, braves Benehmen und hübsches Aussehen? War sie nicht schon immer unfähig gewesen, sich daraus zu befreien, so wie jetzt?
Und doch hatte sie sich befreit. Sie war einfach gegangen, mit ihrem Rucksack. Bis hierher.
Sie stand auf. Sie tastete sich an den Wänden entlang, spürte Holz, Spinnweben und Staub. Sie stieß sich die Hüfte an einem alten Tisch. Als sie ihn abtastete, erkannte sie, dass es sich um eine Werkbank handelte, so eine, wie zu Hause in Papas Garage stand. Ihr Herz klopfte.
Ihre Finger stießen an etwas Hartes, Metallenes.
Eine Stange.
Als sie die Hände darumlegte, fühlte sie sich wieder stark und zuversichtlich. Ein Kuhfuß. Sie erinnerte sich daran, dass sie diesen Begriff lustig fand, als Papa ihr gesagt hatte, dass dieses Werkzeug so hieß. Damals, als er sie noch mit in die Garage genommen hatte, bevor der kleine Bruder geboren wurde. Sie ging zum Fenster und steckte das Ding in den Spalt, durch den sie vorher den Schatten gesehen hatte. Sie zögerte.
„Was, wenn ich hier rauskomme, und dann bringt mich dieses Monster um? Vielleicht ist es ein Dämon. Oder ein böser Mann. Ein Triebtäter.““
Sie zog den Kuhfuß aus dem Spalt und spähte noch einmal nach draußen. Nichts. Dunkelheit und die Schatten der sich im Wind biegenden Bäume. Rauschen. „Hallo?“, rief sie wieder, diesmal etwas leiser.
Dann wagte sie es.
„Nicht nachdenken“, sagte sie sich. „Nur raus hier“.
Papa hatte ihr das mit der Hebelwirkung erklärt, aber sie wusste nicht, in welche Richtung sie hebeln musste. Sie probierte es mal in die eine und mal in die andere Richtung und dann löste sich das Brett. Es ging leichter, als sie gedacht hatte und sie fiel fast hintenüber. Rebecca wunderte sich, dass die Nägel von innen eingeschlagen waren. Aber sie hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken, sie musste jetzt schnell hier weg, bevor das Monster oder der böse Mann sie bemerkte.
Also kroch sie durch die Lücke, den Kuhfuß fest in der Hand. Als ihre Füße den sandigen Waldboden berührten, hörte sie ein Geräusch.
Sie fuhr herum und schwang ihre schwere Waffe. Doch sie war klein und das Eisen schwer und so traf sie das große Wesen nur schwach. Es lachte und fletschte spitze Zähne. Rebecca schrie. Sie rannte los, stolperte und schlug lang hin.
Mit Kiefernnadeln und Sand im Mund rappelte sie sich wieder auf. Vor ihr stand das Monster und lachte immer noch. Es machte aber keine Anstalten, sie zu berühren. Verzweifelt sah sie sich nach einer neuen Waffe um, aber hier gab es nichts außer kleineren Zweigen, die der Wind von den Bäumen geweht hatte. Das Wesen bewegte sich nicht, stand nur da und lachte.
„Wer bist du?“, kreischte Rebecca.
„Ich bin deine Angst“, sagte das Monster, hörte auf zu lachen und sah jetzt traurig aus.
„Was willst du von mir?“, fragte Rebecca „Warum hast du mich eingesperrt?“
„Das war ich nicht“, sagte die Angst, „Es ist nur ein Baum vor die Tür gefallen, die Fenster waren vorher schon zugenagelt, hast du das nicht gesehen?“
Rebecca schüttelte den Kopf, nicht nur, um zu verneinen, sondern auch, um ihn klar zu bekommen. „Was geht hier vor? Bin ich verrückt geworden? Wo ist der Junge?“
Das Monster, das jetzt gar nicht mehr wie ein Monster aussah, schrumpfte. Es fiel zusammen wie eine Luftmatratze, aus der die Luft entweicht.
Rebecca erstarrte und schlug die Hände vor den Mund. Am Boden lag ein kleiner Junge mit einer blutenden Kopfwunde, daneben der Kuhfuß.
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Sie zuckte zusammen, als ein Blitz ihre Umgebung taghell erleuchtete. Der Donner folgte augenblicklich und sie schrie auf. Irgendwo ganz nah zerbarst etwas mit lautem Krachen und stürzte zu Boden. Die ganze Insel schien zu beben. Das mit dem Sterben kam ihr auf einmal doch nicht mehr so verlockend vor. Sie kroch weiter. Ihr dünnes Sommerkleid klebte schlammverschmiert an ihrem Körper. Die Bauchtasche mit ihren Papieren und etwas Geld vom Schnorren hielt sie fest umklammert.
Dann erreichte sie den umgestürzten Baum. Sie kroch ganz nah an den liegenden Stamm, schmiegte ihren Körper zwischen die Äste und blieb einfach liegen.
Irgendwann musste sie vor Erschöpfung eingeschlafen sein, denn als sie erwachte, strahlte ein hellblauer Himmel friedlich über die See, als sei nichts gewesen. Der Schlamm war auf ihrer Haut getrocknet und blätterte jetzt ab wie Haut, die sich nach einem Sonnenbrand schält. Sie wand sich aus der Umarmung der Äste und holte das Fahrrad.
Auf dem Weg zum Bahnhof fand sie eine Telefonzelle, überlegte kurz, und wählte dann den Notruf.