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Gefangen
Obwohl ich schon lange wach bin, schlage ich meine Augen nicht auf. Wie jeden Morgen. Erst, wenn ich die Stimme meiner Mutter höre, werde ich wissen, dass das alles nur ein Traum war, ein schlimmer Albtraum. ‚Aufstehen, Skye‘, wird sie sagen. ‚Sonst kommst du noch zu spät.‘ Wie sie es immer tat. Früher.
„Guten Morgen, Annaschätzchen, hast du schön geschlafen?“ Ich halte meine Augen weiterhin fest geschlossen. Nein. Nein, nein, nein. Das ist die falsche Stimme, das ist nicht meine Mutter, ich bin nicht Anna. Ich bin Skye. Ich habe nur Annas Körper.
Ich war dreizehn, als ich starb. Als Skye starb. Ich hatte mir nie Gedanken über den Tod gemacht, oder das Danach. Ich glaubte nicht an Gott. Paradies und Hölle – das klingt doch absurd. Manchmal wünsche ich mir, ich wäre in den Himmel gekommen. Oder kann man das nicht, wenn man kein Christ ist? Vielleicht gibt es gar kein Paradies, keine Hölle. Schlimmer als mein Leben jetzt, kann es in der Hölle nicht sein. Vielleicht bin ich in der Hölle, weiß es nur nicht. Aber weswegen? Weil ich nicht an Gott glaube, auch damals nicht an Gott geglaubt habe?
Werden alle Menschen wiedergeboren? Vielleicht wird das Gehirn bei der Wiedergeburt gelöscht, sodass man sich an nichts erinnern kann. Dann ist bei mir ein Fehler passiert … oder? Vielleicht werden auch nur manche Menschen wiedergeboren. Aber warum dann ausgerechnet ich? Und was passiert mit den anderen Menschen?
„Annamaus, du musst aufstehen“, unterbricht Annas Mutter mit einer so fröhlichen Stimme meine Gedanken, dass ich ihr am liebsten den Hals umdrehen würde. Ich nenne sie in Gedanken immer Annas Mutter. Es fällt mir schwer, sie als meine Mutter zu sehen. Meine Mutter war ganz anders als Annas Mutter. Ich habe sie geliebt. Habe meinen Vater geliebt, sogar meinen nervigen, älteren Bruder. Ich bin nicht Anna. Ich bin Skye. Ich bin dreizehn, war dreizehn als ich starb. Anna ist sieben. Mein Körper ist sieben. Es ist ein komischer Gedanke, dass ich dann schon zwanzig sein müsste. Ich fühle mich keinen Tag älter als an dem Tag, an dem alles begann.
Das Letzte, an das ich mich erinnere, sind die Flammen. Das Brennen auf meiner Haut. Der Rauch. Das Gefühl, zu ersticken und dann … nichts. Schwärze. Ich fiel. Oder kann man nicht fallen, wenn man nirgends aufkommt? Ich wachte von meinem eigenen Schrei aus den Nichts auf.
Jemand hielt mich an den Beinen, sodass ich kopfüber hing. Eine junge Frau sah mich voller Liebe an und ich wurde vorsichtig in ihre Arme gelegt. Der Krankenhausgeruch und dann wieder das Gefühl, als würde ich ersticken, als mir langsam klar wurde, als ich langsam registrierte, was gerade passiert war. Dass ich ein Baby war. Außen. Und innen … ich war immer noch Skye. Und dann doch nicht.
Die ersten paar Monate meines Lebens erlebte ich wie in Trance. Es ist schon komisch, wie schwer es ist, über seinen eigenen Tod hinweg zu kommen. Der Gedanke, dass ich meine Familie, meine Freunde, alle die Menschen, die mir etwas bedeuteten, etwas bedeutet hatten, nie wiedersehen würde. Dass ich immer noch in der gleichen Stadt wie früher lebte, machte es nicht besser. Was, wenn ich eines Tages meine Mutter sehen würde? Meinen Vater, meinen Bruder? Es brach mir das Herz, zu wissen, dass sie mich nicht erkennen würde.
Wenn ich mich in den Spiegel sehe, ist nichts wie früher. Ich sehe mich selbst nicht. Ich sehe sie. Anna. Meinen Körper, aber nicht mein Ich. Nur die Augen, diese großen blauen Augen, sie sind dieselben wie früher.
„Süße, du bist doch nicht etwa krank?“ Ich zwinge mich, meine Augen zu öffnen und sehe in das besorgte Gesicht von Annas Mutter. Sie befühlt meine Stirn, doch ich schiebe ihre Hand vorsichtig zur Seite und setze mich auf. Früher war ich oft krank, war Anna oft krank. Ich lag tagelang im Bett und habe nichts getan. Nachgedacht. Über alles, alles und nichts.
Es ist nicht leicht, wie ein kleines Mädchen auszusehen und das Wissen und die Reife einer Dreizehnjährigen zu haben. Wenn meine Klassenlehrerin mir das Schreiben und Lesen beibringen will, was ich längst beherrsche. Ich musste es nur Annas Körper beibringen, wie so viele Sachen, doch das geht schnell. Schule ist langweilig; noch eine Klasse kann ich nicht aufrücken, das erlaubt das System nicht. Aber Schule ist besser als zu Hause sein, wo Annas Mutter ist und mich bemuttert. Dann lieber sich den halben Tag langweilen, ohne sie. Zum Glück ist Annas Vater nicht oft zu Hause. Geschwister hat sie auch nicht. Vielleicht sollte ich sagen: Ich habe keine Geschwister. Aber das stimmt nicht Ich habe Geschwister, einen großen Bruder. Aber er ist nicht Annas Bruder, er ist meiner, Skyes Bruder.
Ich habe oft überlegt, wie es wohl sein wird, wenn ich wieder sterbe. Wenn Anna stirbt. Ob ich dann wieder wiedergeboren werde und der ganze Albtraum von vorne anfängt? Ein schrecklicher Gedanke. Aber was sollte sonst passieren? Ich weiß es einfach nicht, werde es vielleicht nie wissen.
Über all das denke ich nach, während ich mich anziehe, schweigend frühstücke und danach meine Schultasche packe. Annas Mutter fährt mich zur Schule. Küsst mich noch kurz auf die Wange, bevor ich aussteige und zu meinem Klassenzimmer gehe. Ich zwinge mich, nicht das Gesicht zu verziehen. Sie kann nichts dafür, dass ich nicht Anna bin. Dass ich wiedergeboren wurde und mich an alles erinnern kann.
Erinnerungen können eine Qual sein. Manchmal wünsche ich mir, ich wüsste nichts, nichts von früher. Hätte einfach ein ganz normales Leben, nicht als Skye in Annas Körper, sondern einfach als Anna, ohne zu wissen, dass ich wiedergeboren wurde, ohne zu wissen, dass es Wiedergeburt gibt, ohne über solche Sache nachdenken zu müssen.
Die Stunden verstreichen fast ohne, dass ich es bemerke. Vom Unterricht bekomme ich nicht viel mit, doch das ist egal, ich weiß schon seit Jahren, wie man rechnet, liest, schreibt. Wie man in Gruppen arbeitet, wie der menschliche Körper aufgebaut ist, wo Japan liegt und alle möglichen anderen Länder. Sogar viele der französischen Vokabeln, die ich damals gelernt habe, früher, an die meisten kann ich mich noch erinnern. Aber das ist nicht wichtig, ich werde sie sowieso noch einmal lernen, wie fast alles.
Als es zur letzten Stunde klingelt, seufze ich leise und hole dann meine Mathebuch heraus und mein Heft. Warte darauf, dass unsere Lehrerin hereinkommt und uns die Regeln der Multiplikation erklärt.
Die Minuten verstreichen. Langsam werden die anderen Schüler unruhig, fangen an, sich zu unterhalten, herumzulaufen, im Zimmer Fußball zu spielen. Ich bleibe still sitzen und sehe ihnen zu, wie immer. Die Tür geht auf und jemand tritt ins Klassenzimmer, stellt seine Tasche auf dem Pult ab. Ich bekomme davon nicht viel mit, wie auch die anderen Schüler nicht. Bin in Gedanken viel zu weit weg.
Doch als ich ihre Stimme höre, schrecke ich auf. Was sie sagt, bekomme ich gar nicht mit, kann sie nur fassungslos anstarren.
Sie sieht noch fast genauso aus wie früher, nur viel älter. Ein Lächeln umspielt ihren Mund, doch es erstreckt sich nicht auf ihre Augen. In ihnen ist das Licht erloschen, sie funkeln nicht mehr fröhlich, so wie damals. Obwohl sie lächelt, sieht sie traurig aus. Ich schlucke.
Erst nach einer Weile bekomme ich mit, dass mich alle wartend ansehen. Ich habe überhaupt nicht zugehört. Anscheinend sollte ich gerade etwas sagen.
„Würdest du mir bitte deinen Namen verraten?“ Ich kann es kaum ertragen, ihre Stimme zu hören, versuche mich stattdessen auf das zu konzentrieren, was sie gesagt hat.
Anna. So haben meine Eltern mich genannt. Annas Eltern. Warum fällt es mir dann jetzt so schwer, es zu sagen?
„Skye. Ich heiße Skye.“
Sie zuckt zusammen, als hätte ich sie geschlagen, fängt sich aber schnell wieder und sieht mich an. Blickt mir tief in die Augen. Bilde ich es mir nur ein, oder huscht da ein Hauch von Wiedererkennung über ihr Gesicht?
„Skye?“, flüstert Mama.