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Gefangen in der Unendlichkeit
Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne hüllten den herbstlichen Laubwald in ein entspannendes, rötliches Licht. Phillip saß weit oben in einem Ahornbaum. Hier war sein Lieblingsplatz, von dem er bis zum weit entfernten Gebirge am Horizont sehen konnte. Seit ein paar Wochen war er schon in einer neuen Schule, hatte sich aber noch nicht daran gewöhnt. Sollte ihm das nach zehn Jahren Schulzeit nicht leichter fallen? Vielleicht lag es einfach nur an seinen Mitschülern. Was nutzte es, mit ihnen Zeit zu verbringen, wenn sie eine völlig andere Vorstellung von Freizeitgestaltung hatten? Kein Wunder, dass sie ihn ausgrenzten. Er verbrachte seine Zeit viel lieber hier im Wald.
Phillip fühlte das Schaukeln des Baumes im Wind. Die Blätter rauschten, moosiger Geruch lag in der Luft. Ein eisiger Windstoß erfasste ihn, drang unter seine Kleidung und verursachte eine kribbelnde Gänsehaut. Es war Zeit, wieder nachhause zu gehen.
Unten am Waldboden herrschte ein Halbdunkel, das von den dichten Baumkronen verursacht wurde. Phillip konnte in der Dämmerung kaum mehr die roten, gelben und orangen Blätter erkennen, mit denen der Waldweg übersät war. Mächtige Baumstämme zogen an ihm vorbei, während er in Gedanken versunken war.
Kurz vor Einbruch der Nacht erreichte Phillip sein Elternhaus. Es war ein Altbau aus dem späten 19. Jahrhundert, in dem er mit seinen Adoptiveltern wohnte. Phillip ging durchs Vorzimmer und hängte seine Jacke an die Garderobe. Er warf einen kurzen Blick ins Wohnzimmer und grüßte seinen Adoptivvater Bernhard, der auf dem Sofa lag und fernsah.
„Julia kommt erst um Acht“, sagte Bernhard, ohne aufzusehen. „Hast du schon gegessen?“
„Mach ich später“, sagte Phillip und schloss die Tür. Er griff zum Lichtschalter an der Wand und stieg die Treppe hinauf. Oben angelangt, ging er wie gewohnt auf seine Zimmertür zu. Doch etwas war anders. Die Tür ins Arbeitszimmer stand einen Spalt offen. Phillip blieb stehen. Seit Jahren war diese Tür ständig verschlossen. Sie war so gut wie niemals geöffnet, selbst wenn Bernhard im Zimmer arbeitete, sperrte er sie zu.
Nur einziges Mal war Phillip in diesem Raum gewesen. Das war vor acht Jahren, Bernhard hatte ihm damals vom Autounfall seiner leiblichen Eltern erzählt. Seitdem dachte Phillip jedes Mal daran, wenn er an der Tür vorbeiging. Dabei konnte er sich nicht an den Unfall erinnern, weil er damals drei Monate alt war. Die Erinnerung war fabriziert, es konnte genauso eine Lüge sein. Julia und Bernhard kamen ihm seitdem merkwürdig distanziert vor. Dabei konnte er ihnen doch nichts vorwerfen, sie hatten ihn wie ihr eigenes Kind aufgezogen.
Phillip konnte dem Ziehen in seiner Hand nicht mehr widerstehen. Sein zitternder Arm streckte sich nach dem alten, hölzernen Türblatt aus. Als würde er einem tierischen Instinkt folgen, trat er ein. Das Arbeitszimmer lag im Halbdunkel. Nur die Umrisse des Schreibtisches waren zu erkennen. Mit kleinen Schritten ging er darauf zu. Ein finsteres, rundes Objekt befand sich davor. Phillip fröstelte. Das Objekt zog ihn näher. Er musste wissen, was Bernhard vor ihm verheimlichte. Eiswände erdrückten ihn. Der Tunnel nahm kein Ende. Phillips Herzschlag dröhnte in seinen Ohren, das Echo hallte durch die Höhle. Er schabte, biss und kratze an der Eisschicht. Doch ohne Erfolg.
Der Metallgriff der Schublade fühlte sich an wie festgefroren. Phillip zog daran, unterdrückte einen Schrei. Die schweißnasse Schlagzeile sprang ihm ins Gesicht. Zehntausend Jahre.
Phillip stand in einem endlosen Wald zwischen gigantischen Baumriesen, die endlos weit über ihn aufragten. Es war tiefe Nacht und die dichten, hohen Baumkronen versperrten ihm die Sicht auf den sternenbedeckten Nachthimmel. Doch es war nicht stockdunkel. Denn der Boden war übersät von einem Lichtermeer aus blauen, türkisen und grünen Blättern. An den Baumstämmen waren dicke Adern zu erkennen, in denen türkis leuchtender Lebenssaft vom üppigen Boden bis in die Baumwipfel strömte. Phillip legte seine Hand auf den Baumstamm und spürte, wie die kühle Flüssigkeit durch die armdicken Schläuche des mächtigen Baumriesen floss.
Kleine Schweißtropfen perlten von Phillips Stirn. Möglicherweise blieb ihm jetzt nur ein kleines Zeitfenster. Er wusste, dass Bernhard etwas vor ihm versteckte. Vielleicht würde er nichts finden, aber es war einen Versuch wert.
Mit angehaltenem Atem streckte Phillip seine Hand nach der obersten Schublade aus. Er zog er am Metallgriff der Lade aus Kiefernholz, konnte aber nicht verhindern, dass sie vernehmbar knirschte. Phillip kniff die Augen zusammen und wartete auf Bernhards mahnenden Schrei, der vom Erdgeschoss zu ihm heraufdrang. Doch stattdessen blieb es im Haus ruhig.
Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen. Phillip durchbrach die Wasseroberfläche und schnappte nach Luft. Die felsige Decke war mit spitzen Stalaktiten bestückt. Sie kam rasend schnell näher. Bald würde die ganze Höhle unter Wasser stehen. Phillip hielt die Luft an und tauchte unter.
Im Zimmer war es unerträglich heiß. Die Innenseite seiner Decke war durchnässt von seinem Schweiß. Phillip befreite sich aus seiner Bettdecke und stand auf. Er tastete sich ans Fenster, zog den Vorhang beiseite und riss es auf. Die Nacht war klar und wolkenlos.
Im Inneren befand sich ein dicker Stapel mit ausgeschnittenen Zeitungsartikeln und Titelseiten von alten Magazinen. Ganz oben lag ein Titelblatt einer Tageszeitung, dessen Datum zehn Jahre in der Vergangenheit lag. Phillip vergewisserte sich erneut, dass sich niemand im Flur befand und begann dann mit einem unwohlen Gefühl im Magen den Stapel zu durchblättern. Die Zeitungsausschnitte waren nach dem Datum sortiert. Je tiefer Phillip vordrang, umso älter wurden sie.
Schwer atmend rannte Phillip durch den Wald. Das ständige Hungergefühl ließ ihn nicht los. Er wollte etwas fangen, seine Zähne ins bloße Fleisch schlagen und es verschlingen. Etwas Großes näherte sich.
Plötzlich ging er zu Boden, ein greller Schmerz durchfuhr seinen Körper. Ein armlanger Speer hatte seinen Brustkorb durchbohrt. Glühend heißes Blut tropfte von seinem nackten Oberkörper herunter und sammelte sich auf dem Waldboden.
Phillip schreckte hoch und wäre mit seinem Kopf fast gegen die Wand gekracht. Sein Herz raste wie wild. Hastig betastete er seinen Oberkörper, war aber unversehrt. Er schälte sich aus der Bettdecke und nahm eine sitzende Position ein.
„Phillip! Was machst du hier?“
Ein gewaltiger Schrecken durchfuhr ihn. Phillip richtete sich auf und blickte in Bernhards verzerrtes Gesicht.
„Was hast du in der Hand?“, fragte Bernhard. „Hast du das aus dem Schreibtisch genommen?“
Phillip streckte seine Hand aus, doch der Zeitungsartikel entglitt ihm und fiel zu Boden.
„Pass doch auf!“, rief Bernhard und griff danach.
Phillip stieß an die Tischkante. Er hörte Bernhard wie aus großer Entfernung schreien.
Als Phillip aufwachte, wusste er sofort, dass etwas nicht stimmte. Seine Hände waren voller Erde. Der Boden war eiskalt und von Moos überzogen. Sein erster Gedanke war, einfach wegzurennen, noch tiefer in den Wald hinein, wo ihn niemals jemand finden würde. Phillip stürmte los, nasse Blätter blieben an seinen Füßen kleben.
Sensationelle Entdeckung: Menschlicher Körper in Eishöhle gefunden!
„Ist alles wieder gut?“ Bernhard sah durch ihn hindurch. „Ich kann es gerne ein zweites Mal erklären … Es war die erste vollständige Expedition in der Höhle … hinter einer meterdicken Eisschicht eingeschlossen. Niemand von uns konnte sich erklären, wie … drei Monate alt. Die größte Schwierigkeit … haben einen Entschluss gefasst. Wir konnten dir ein neues Leben ermöglichen.“
Phillip nickte nur.
„Hast du … Es ist schon spät, du bist bestimmt müde.“
Schule, Straßenlärm, Fernsehen und ewiges Herumsitzen. Wozu das alles? Phillip sollte gar nicht hier sein. Er passte nicht in diese Zeit. Nicht in diese Welt. Nach mehreren Stunden fiel er in einen unruhigen Halbschlaf.
„Phillip! Hast du den Wecker nicht gehört?“
Julia zog die Decke vom Kopfkissen, aber das Bett war leer. Sie wurde auf einen frostigen Windstoß aufmerksam. Das Fenster stand einen Spalt offen. Sie trat davor und blickte hinaus in den Laubwald. Ist Phillip etwa wieder im Schlaf gewandelt?
Der Wald erstreckte sich bis an den schroffen Horizont, der von einer rauen Gebirgskette gebildet wurde. Julia spürte, wie ihre Augen glasig wurden. Sie schloss das Fenster und unterbrach damit den eisigen Luftzug. Sie wusste nicht, was in Phillips Kopf vorging, hatte aber das Gefühl, dass sie ihn nie wieder sehen würde.