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Gefallenes Blut
Lamina nahm Varans Gesicht in ihre Hände und mit leicht geöffneten Lippen küsste sie ihn. "Mein Liebster," flüsterte sie und sah ihm in die Augen. Grenzenlos faszinierend war sein graublauer Blick für sie. Gespannt beobachtete sie, wie sich die Größe der Schwärze in seinen Augen veränderte. Doch halt – was war das? Seine Augen, die gerade noch graublau gewesen waren, hatten die Farbe gewechselt und erleuchteten nun in einem hellen, giftigen Grün. Irritiert wandte sie sich für einige Wimpernschläge ab, und dann sah sie wieder seine graublauen Augen. Was hatte das zu bedeuten? Träumte sie? Hatte etwas Unbekanntes von ihrem Liebsten Besitz ergriffen? War er es etwa gar nicht? Kurze Panik stahl sich in ihr Herz, doch lang blieb sie nicht. Sie überlegte, dass wohl der Vollmond seine Augen hatte so aussehen lassen oder dass sie es sich womöglich eingebildet hatte, denn Varan schien nichts von alldem bemerkt zu haben; verträumt lächelnd sah er sie an.
"Sie hat die schönsten Augen aller Welten," dachte er. Wenn er sie ansah, vergaß er alles: seine Einsamkeit, wenn sie nicht bei ihm war, seine Ängste, sie könnten entdeckt werden, und auch dieses beunruhigende Gefühl des kommenden Unglücks. Jedenfalls war das so gewesen. Heute Nacht war dieses Gefühl so stark, dass er daran dachte, ihr zu erzählen, was ihn beschäftigte und ängstigte, aber er entschied sich, sie nicht zu behelligen. Erst, als Lamina neue Kerzen angezündet, hatte er bemerkt, dass die Kerzen abgebrannt waren – so hell war der Mond in dieser Nacht. In einer normalen Nacht bemerkte man, dass die Kerzen aufhörten zu brennen, egal, wie hell der Mond schien. Doch diese Nacht war nicht normal. Sie schien ihm unheimlich: zu hell und zu dunkel zugleich. Seine Liebste hatte das Verlöschen der Kerzen bemerkt, also sah sie den Mond, die Nacht, nicht so wie er. Schon der vorangegangene Tag war sehr merkwürdig verlaufen. Varan war ein Mensch, der sich des Morgens früh von seinem Lager erhebt, um die Geburt des neuen Tages zu genießen. Doch heute war er erst erwacht, als sich der Tag wieder verabschiedete. Er hatte den ganzen Tag geschlafen!
Er erinnerte sich unscharf daran, dass er bei Sonnenaufgang die Vorhänge fest zugezogen hatte und dass sein ganzer Körper geschmerzt hatte, als die Sonne auf ihn gefallen war. Unter dem Linnen des Bettes verschwand der Schmerz wieder. Er hatte geglaubt, er würde krank werden, nun zweifelte er daran. Diese Erinnerungen kamen ihm seltsam unwirklich, wie ein Traum, vor. Doch die Schmerzen durch die Strahlen der Sonne waren wirklich gewesen, das wusste er. In dieser überaus langen Nacht und dem dann folgenden Tag, der für ihn ebenfalls wie eine Nacht gewesen war, hatte Varan geträumt; es war ein entsetzlicher Traum
(kein Traum, Varan, sondern Wirklichkeit)
gewesen...
Er fand sich in einer Kirche wieder, die keine war. Er stand am Eingang des riesigen Saales und schaute hinter sich. Er hätte ein Tor erwartet, doch da war nichts. Varan sah sich um. Die Wände bestanden aus undurchdringlichem, schwarzem Basalt, und die Decke konnte er fern in der Höhe ausmachen. Es gab sechs mächtige Fenster, auf jeder Seite des Raumes drei davon. Sie waren so hoch wie mindestens sechs Menschen, und umrahmt wurden sie von roten, schweren Samtvorhängen. Um sich die Fenster näher anzusehen, ging er voran. Er machte den ersten Schritt, und plötzlich war er schon im Zentrum und war in der Lage, alles um ihn her zu erkennen. Abgesehen von den sechs Riesenfenstern gab es nicht viel zu sehen; der Saal hortete Leere. Nichts befand sich in ihm. Außer ihm selbst. Noch. Eines der Fenster schaute er sich näher an. Weder konnte er ausmachen, was sich außerhalb dieses Raumes befand, noch konnte er sein eigenes Spiegelbild sehen. Er starrte nur auf das, was ihn da vom Fenster aus anblickte: Die Frau bestand zwar nur aus buntem Glas, war nur ein Mosaik, und das wusste er, doch ihm war, als beobachtete sie ihn. Auf den ersten Blick war es eine gewöhnliche Frau, sich über etwas beugend. Ein schwarzer Schleier verbarg ihr Haar, welches, so ahnte er, ebenfalls schwarz war. Sie schien bei etwas überrascht worden zu sein und fürchtete sich nun. Wahrscheinlich würde sie flüchten, wenn sich ihr jemand nähern würde. Sie schien ihm hilflos und harmlos zu sein. Doch bei näherem Hinsehen bemerkte er, dass Blut an ihren Mundwinkeln war. Und ihre Augen waren gelb und seltsam geformt, wie die eines Raubtieres.
Da erkannte er, sie würde nicht flüchten, auch war sie nicht hilflos. Diese Frau, wenn es denn eine war, hatte soeben etwas erfolgreich gejagt und sich dann darüber hergemacht. Trotz ihrer Gefährlichkeit mutete sie wunderschön an; schöner als seine Lamina. Er wollte nicht zulassen, dass er so dachte, doch er konnte ihr hier nichts entgegensetzen. Die fremden Augen des Wesens verfolgten die seinen. In seinem Traum war er ihr verfallen. Er wusste, dass sie sein Verhängnis werden würde, und es hatte bereits begonnen. Varan konnte sich endlich von dem Mosaik losreißen und betrachtete die anderen Fenster, in denen es weitere ihrer Art gab. Nun wurde ihm gewahr, wo er sich befand. Dieser monströse Saal war in der Tat eine Kirche, und zwar eine Gegen-Kirche, in der die nach Blut gierende Dunkelheit geehrt wurde. All diese Wesen waren Vampire; jedoch die anderen Kreaturen in den fünf Fenstern waren nicht so prächtig wie sie: Die mit den fremden Augen, welche ihn verfolgten, war so etwas wie eine Heilige. Sie war die, die hier, in der Blutkirche, gepriesen wurde. Varan wollte zu ihren Jüngern zählen. Er schloss seine Augen, die noch niemals zuvor solche Schönheit gesehen hatten, und ihr Bild brannte noch immer deutlich im Schwarz seiner gesunkenen Augenlider. Niemals würde er es vergessen. Ungewollt öffneten sich seine Augen.
Von einem zum anderen Moment glaubte er, weder seinen Augen noch seinen Ohren trauen zu können. Der dunkle Saal war nun mit Lichtern erfüllt, und sie beleuchteten den Raum so, dass er nun alles erkennen konnte. Regelmäßig auf den Boden verteilt, ungefähr jeden Schritt befand sich eine leuchtende Kerze. Das Licht ließ ihn jedoch nicht weniger Furcht einflößend erscheinen. An seine Ohren drang ein lieblicher Gesang, der von überall und nirgends zu kommen schien. Eine hohe Frauenstimme sang in einer fremden Sprache, und im Hintergrund konnte er ein dunkles Grollen gewahren; es hörte sich an wie aufkommendes Gewitter, doch er glaubte, dass es ein Chor war, der aus den Wänden zu dringen schien. Bisher hatte Varan alles gefesselt und ohnmächtig betrachtet, doch nun bemerkte er etwas, das ihn kurz aufschreien ließ. "Oh, ihr Götter!" flüsterte er den Wänden entgegen, die zu bluten begonnen hatten. Rinnsaale von Blut färbten die zuvor schwarzen Wände dunkelrot. Träge umfloss das Blut die Kerzen und seine Füße. Der Gesang und das Grollen des dunklen Chores wurden allmählich lauter. Er hielt sich mit den Händen die Ohren zu, in der Hoffnung, das Grollen aus seinem Verstand zu verbannen, doch es gelang ihm nicht. Es schien auch aus seinem Kopf zu kommen. Er richtete seinen Blick auf die Decke der Blutkirche, welche er nun vollständig erkennen konnte. Vier Gestalten waren unter die Decke gemalt worden. Es waren Menschen, zwei junge Männer und zwei junge Frauen. Eines der zwei Paare hatte recht viel Ähnlichkeit mit ihm und seiner Liebsten. Sein Ebenbild und auch die anderen drei hatten Male am Hals, und aus diesen Malen regnete es Blut. Die warmen Tropfen fielen auf Varan und bedeckten seine Haare und sein Gesicht. Die vier Vampiropfer zeigten gemeinsam in die gleiche Richtung, alle zur Spitze der Kirchenkuppel.
Nochmals schwollen der Gesang und das Grollen an, und durch die Decke geschwebt kam die Vampirheilige, die er im Fenster gesehen. Er stand einfach nur da, hatte den Mund geöffnet und starrte nach oben. Seine Beine wollten sein Gewicht nicht mehr tragen, und so sank er auf die Knie. Der Anblick dieser dunklen Schönheit erfüllte ihn mit Verlangen, zugleich mit Furcht. Der Gesang kam von ihr. Aber sie bewegte ihre Lippen nicht; sie schickte ihm ihre Melodie in der geistigen Sphäre anstatt in der Luft, die immerfort nach Blut roch. Sie schien in seine Gedanken eingedrungen zu sein, und nun erfüllten ihr Singen und der dunkle Chor sein Denken vollends. Ihr verführerischer Blick aus den gelben Augen eines Raubtieres, ihr Gesang und ihr wissendes Lächeln machten ihn zu ihrem Diener. Er würde alles für sie tun, das war nicht zu ändern – und das wusste auch sie. In vollständig schwarze Gewänder war sie gehüllt; ein Schleier bedeckte ihr ebenmäßiges, weißes Gesicht. Doch auch der vermochte ihre Augen nicht zu verbergen. Seide, Samt und andere edelste Stoffe schmiegten sich um ihren Körper, und während sie zu ihm hernieder schwebte, sah es so aus, als wäre in ihnen selbst lebendes Dunkel, dem nach Blut verlangte. Und er erfreute sich daran, dass er als ihr Diener auserkoren worden war. Vorfreude erfüllte ihn. Bald würde sie ihn berühren und ihn zu dem machen, was sie war... Endlich war sie bei ihm und küsste ihn. Ihre Zunge schlang sich um seine, und er schmeckte Blut. Trotz seiner Bitternis wollte er mehr. Sie nahm Varans Kopf in beide Hände, und mit sanften, aber auch bestimmenden Bewegungen drehte sie ihn zur Seite und fuhr mit Leidenschaft und Krallenhand durch sein Haar. Er konnte ihren schweren Atem an seinem Ohr spüren, worauf sich seine Nackenhärchen aufstellten. Er spürte ihre Gier nach ihm, nach seinem Blut. Der erste Wimpernschlag ihres Bisses war voll von Schmerz, doch dieser wich unendlicher Lust und Freude. Während die Vampirheilige ihn trank, drehten sie sich wie im Tanze immer und immer schneller. In ihrem blutigen Walzer schwoll das Grollen stetig an und ihr Gesang wurde zu einem lustvollen Kreischen, welches alle Gedanken aus seinem Kopf verdrängte. Es gab nur noch sie, um sie herum war nichts als Dunkelheit.
Plötzlich verstummte das Kreischen und sie stieß ihn von sich. Ohne sie war es kalt und schmerzvoll einsam, und kurz und von weit her kam die Erinnerung an die schmerzende Sonne. Varan fiel in eine unendliche Dunkelheit; er fiel und fiel und fiel. Wollte schreien und konnte nicht. Doch dann Helligkeit von Kerzen, Duft von Blut. Er fand sich wieder in der dunklen Kirche, und wieder hatte sie sich verändert: Die zahlreichen Kerzen – nun an den Wänden – waren Holzbänken gewichen, auf denen sich wiederum zahllose Gestalten niedergelassen hatten. Er sah ein groteskes Bild: Tropfen roten Blutes regneten aus den Malen der armseligen Menschen von der Kuppel herab und benetzten die Mäuler der Gestalten auf den Bänken, die sich daraufhin begierig die Lippen leckten. Ihr Gesang war vollends verstummt – sie hatte bekommen, was sie wollte –, der Chor jedoch war noch immer da; bald würde sein Kopf bersten. Die meisten der Gestalten auf den Bänken waren ihn unbekannt, doch einige Gesichter, die nun verzerrte Fratzen waren, erkannte er wieder. Es waren Menschen seines Anwesens; nun saßen sie hier und tranken den Blutregen. Nicht fassen konnte er, dass er sie hier sah: Lamina! Sein Verstand drohte sich vollends aufzulösen in einem Wirbel von Schwarz und Rot. Er sah die grausige Gestalt, die nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem Menschen hatte, den er damit verband. Seine Liebste saß auf der Bank in der Blutkirche und hatte die Arme ausgebreitet; ihren Kopf hatte sie nach hinten gebeugt und ihren Mund geöffnet, sodass das Blut in ihren Rachen fiel. Ihr einstmals seidenes Haar war schmutzig und verklebt von geronnenem Blut. Dann sah sie ihn an. Lamina offenbarte ihrem Liebsten ihren weißen Fänge, und er sah Hass in ihren gelben Augen. Sie bewegte ihren Mund und sagte etwas zu ihm, doch verstehen konnte er sie noch nicht. Ihr Flüstern wurde lauter: "Du trägst die Schuld! Deine Liebe tötete mich!" rief die Lamina-Gestalt immer wieder, und aus ihren Augen leuchtete der Hass und von der Decke der Blutkirche kam roter Regen.
Ihre Worte hallten noch immer nach, als er aufgewacht war. Besorgt hatte er sich von seinem Lager erhoben; noch nie in seinem Leben hatte er solch einen Furcht erregenden Traum gehabt: Es war zu wirklich gewesen. Im Laufe der vergangenen Stunden waren diese Bilder immer wieder in seinen Geist eingedrungen; das Bild der Vampirheiligen, die ihre Gläubigen mit Blutregen segnete, wie diese wunderschöne, aber auch gefährliche Kreatur ihn zu einem ihrer Gattung machte, der Regen aus Blut, das Bild der Lamina-Gestalt, die ihm die Schuld gab. Die Schuld wofür? Niemals hatte er seiner Liebsten etwas angetan. "Vielleicht war es ein Traum, der sich noch erfüllen wird," überlegte er, und diese Möglichkeit ängstigte ihn sehr. Er hatte gesehen, wie ihr Lächeln erstarb, und ahnend sah er das Unheil kommen.
Sie lagen, sich umarmend, nebeneinander. Sie strahlte ihn an; er sah verträumt dem Mond entgegen. Dem Mond, der wie die Sonne strahlte, viel heller als die Augen seiner Liebsten.
"Es war noch nie so wunderschön wie in dieser Nacht," sagte Lamina. "Findest du das nicht auch? Varan! Liebster! Hörst du mich?" Sie streichelte ihn an seiner Wange. Darauf reagierte er. "Was? Ja, ja, Liebste. Ich hörte nicht zu. Es tut mir leid."
"Bitte lasse mich erfahren, was dich bedrückt, Lieber."
Varan zögerte. Was würde sie sagen, wenn er ihr erklärte, dass er den Mond so sah wie sie die Sonne, dass er einen vollen Tag geschlafen hatte und trotzdem müde war, dass er in dieser Nacht einen Traum gehabt hatte, der ihn noch immer in Furcht erschaudern ließ. Stattdessen erklärte er ihr, er fühle sich unwohl und habe Kopfschmerzen. Dies war zwar nur ein Teil der Wahrheit, aber damit schien Lamina sich zufrieden zu geben. Sie schmiegte sich an seine Schulter, schloss die Augen und sagte: "Hoffentlich ergeht es dir bald besser. Ich liebe dich." Es sollten die letzten Worte sein, die er von Lamina hörte.
Auch Varan schloss seine Augen, seine Lider jedoch konnten den Mond nicht verbannen. Er sah ihn trotzdem; die Scheibe der Nacht tanzte als roter Punkt inmitten von Schwarz. Von weit her kam es, ganz langsam. Zuerst bemerkte er es gar nicht: ihren Gesang. Die Sterne schienen im Einklang mit ihm zu heulen...
Die Lerche, welche die Tagesverkünderin ist, riss Varan aus dem Schlaf. Es dämmerte schon und er bemerkte, dass es überall in und auf seinem Körper zu schmerzen begann. Doch plötzlich war ihm dies egal: Lamina war verschwunden, und Blut fand sich auf dem Liebeslager. Manchmal ist das Schicksal stärker als der Menschenwille, und einstweilen wollen wir nur noch, was jemand oder etwas uns zu tun geheißen hat. Was blieb Varan, als sich im Morgensonnenschein selbst zu richten?
Sommer 2000
© tristhor