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Gefallene Giganten
Sie spielen. Sich keck kräuselnde Dampfwolken entkommen ihren Mündern, verlieren sich in der Kälte. Ich höre wie sie hell lachend durch das Unterholz zu beiden Seiten des schmalen Weges brechen.
Abgestorbene Blätter, Äste, tote Steine, vom Frost an den Boden gefesselt. Wie Hohn der Natur in meiner Seele. Beiläufig zupfe ich den Schal zurecht, lausche dem Knirschen meiner Sohlen im zeitlosen braungrau des Weges.
Unzählige Male bin ich hier schon hergelaufen, einsam, oft mit Freunden. Dieses kleine Stück Natur hat mich aufwachsen sehen, hat gesehen wie ich mich blamierte, lachte und weinte. Und es beobachtet mich noch immer. Bei jedem Mal, das ich hier entlang schlendere, sehen mich die Bäume und Sträucher an, seufzen im Wind. Auch jetzt höre ich sie, sie kennen mich, vielleicht besser als alle Menschen um mich herum.
Sie spielten. Sommerlich warme Strahlen der Sonne verwöhnten ihre lachenden Gesichter, als sie durch das Gras tobten. Das konstante Zirpen der Grillen in der welligen Wiese begleitete ihr Kichern.
Der gefallene Gigant war ihr Spielplatz. Fern von allen Erwachsenen, ruhte er im Gras. Die Zeit nagte sichtbar an ihm, doch noch war er da, würde da bleiben. Er trotzte Regen, Sonne, Wind, stemmte sich gegen alles, was ihm zusetzte.
Kinderhände waren seine Gesellschaft, Kinderlachen seine Musik. Ein Schiff im tosenden Wasser, eine Rakete zum Mond, ein Flugzeug über den Wolken, er konnte alles sein, alles werden. Die Phantasie der Kinder war seine Bestimmung.
Die beiden spielten um ihn herum, nachlaufen, verstecken. Doch niemals waren sie auf ihn hinauf geklettert, zu hoch ragte er aus dem Gras, zu klein waren die Kinderhände die sich hochziehen mussten. Die Eltern wollten es nicht, das musste als Erklärung reichen. Es waren artige Jungen. Einzigartige. Der Eine etwas älter als der Andere, Brüder. Sie hielten zusammen, behaupteten sich.
Die Kälte dringt langsam auch durch meine Handschuhe. Ich spüre wie sie auf meine Haut einsticht, versuche es zu ignorieren. Das Lachen der Beiden durchdringt die eisige Luft. Es freut mich es zu hören und doch macht es mich traurig. Ich zwänge die Lider zu schmalen Schlitzen zusammen und sehe doch nirgendwo bestimmtes hin.
Ein Stück entfernt bemerke ich einen einsamen Vogel auf einem kahlen Ast. Seine Federn glänzen in der Sonne. Ich verharre, er verharrt.
Man sieht doch sonst nie Vögel um diese Jahreszeit? Verwundert beobachte ich ihn. Er scheint mich anzusehen, blickt in meine Richtung. Frei wie ein Vogel, in den Lüften segeln. Ein schwaches Frösteln durchfährt meinen Körper. Wir beide wären frei gewesen, irgendwann. Zusammen, durch dick und dünn.
Er hatte dunkle Augen, schwarzes Haar, ein sonniges Gemüt. Ungebändigte Ideen und Visionen schwirrten in seinen Gedanken, gaben ihm an jedem Tag wieder diese unbändige Kraft. Schon immer hatte mich seine Lebensfreude fasziniert. Beeindruckt. Wir waren so unterschiedlich und hatten gerade deswegen so vieles gemeinsam. Schwarzer Vogel, flieg in den blauen Himmel hinein.
Die Wärme trieb ihnen den Schweiß in die Stirn. Benetzte ihre erhitzte Haut. Der kleinere der Beiden hetzte um den riesenhaften Baumstamm herum. Erschöpft schnaufend lehnte er sich mit dem Rücken gegen das alte Holz. Hohe Grashalme schmiegten sich an den Stamm, umflossen seine Beine. Kurze, etwas zerbrechlich wirkende Stelzen, die so niedlich anzusehen waren, wie sie durch das hohe Gras staksten.
„Kannst du etwa schon nicht mehr?“ Sein Bruder war neben ihn getreten. Die Worte kamen gequält zwischen seinen Lippen hervor, während er angestrengt versuchte wieder zu Luft zu kommen. Ein schelmisches Grinsen spielte um seine Augen.
„Muss nur mal ganz kurz ausruhen, geht gleich wieder.“
„Streng dich mal ein wenig an, ich kann nicht immer auf dich warten. Mach weiter jetzt, du bist dran mit Fangen.“
„Aber du warst doch gerade dran“, keuchte der Kleinere zwischen zwei hektischen Atemzügen.
„Stimmt“, antwortete sein Bruder und stieß ihn dabei leicht an die Schulter, „aber jetzt bist du dran!“
Lachend sprang er ein paar Schritte zurück. Schweißperlen rannen über sein Gesicht.
Mit automatisierten Bewegungen trotte ich weiter. Der Vogel ist davongeflogen, hat seine Flügel ausgespannt und sich von Wind dahin tragen lassen. Noch eine Weile habe ich ihm schweigend nachgesehen.
Ein Knarren zwischen den Bäumen lässt mich auffahren. Die Kinder. Hektisch lausche ich auf die Geräusche um mich herum. Wo? Ich verharre, unfähig mich zu bewegen. Bin ich schon ein Stein, ein abgestorbener Ast, vom Sturm abgeknickt zu Boden gefallen und gestorben? Tu etwas brüllt es in mir, doch ich kann mich nicht rühren.
Plötzlich wieder das Lachen, ein Stück weiter weg, aber noch genauso fröhlich. Erleichtert gehe ich weiter, vermeide jede unnötige Bewegung. Sparsam lebe ich dahin, sparsam mit Gefühlen, sparsam mit Gedanken. Seit dem Tag. Wieder fröstle ich leicht, ein unangenehmer Schauer überzieht meinen gesamten Körper. Wo ist das Lachen?
Mit tänzelnden Schritten sprang der Ältere von Hügel zu Hügel. Vermied bewusst jeden kleinen Graben. Sie waren sich nah auf den Fersen, hin und her, her und hin. Wie zwei Gemsen schlugen sie Haken, lachten, kicherten. Übermütig warfen sie die Arme in die Luft. Sie öffneten sie zu ausladenden Gesten, als wollten sie die Welt umarmen.
Unvermutet strauchelte der Ältere, als er einen größeren Graben übersprang. Versuchte seine Bewegungen noch zu koordinieren, versagte und schlug der Länge nach hin. Einen kurzen Moment lang überlegte er zu jammern und zu weinen, dann fing er an zu Lachen. Es brach wie ein Wasserfall aus ihm heraus und doch wirkte es als überspiele er etwas. Der Jüngere erreichte ihn, streckte ihm schnaufend die rechte Hand entgegen.
Ohne die Hand auch nur zu beachten, richtete der Ältere sich auf. Schweigend. Er ließ seinen Blick über die hügelige Wiese schweifen, bemerkte, dass der Jüngere die ausgestreckte Hand langsam wieder zurückzog. Sein Blick blieb an dem braunen Giganten inmitten der leuchtenden Halme hängen. Wie ein Fels im schäumenden Meer des wogenden Grases.
„Lass uns hinauf klettern. Wer zuerst hinüber balanciert ist!“
Ich betrete die Wiese. Die Kinder toben schon ausgelassen über die Hügel hinweg, als ich meinen ersten Fuß in das erstarrte Meer aus Gras setze. Das Frösteln wird zum frieren, die Kälte schüttelt mich.
Eine Weile beobachte ich, wie kleine Wolken von Schneestaub von ihren Füßen stieben, die Atemwolken sich chaotisch ringelnd um ihre Köpfe schließen. Niemand hat diesen Platz jemals so gesehen, wie ich ihn gesehen habe und sehen werde. Ich vernehme das Murmeln der Bäume und Sträucher, ihr Tuscheln. Er ist hier. Freut er sich über meinen Besuch? Sag du es mir Baum.
Er betrat mit unsicheren Beinen den breiten Baumstamm. Der Ältere stand unten und beobachtete die Bemühungen seines Bruders. Er wollte ihn beeindrucken, freilich war ihm das bewußt. Die Angst stand dem jüngeren auf die Stirn geschrieben, in großen Lettern, wie eingebrannt. Die Eltern hatten immer gesagt, sie sollen nicht hinauf klettern. Zu gefährlich.
Sie lachen noch immer. Stehen am Baumstamm, werden weit überragt. Kleine Kinderhände greifen nach einen abgesägten Ast. Sie ziehen sich gegenseitig nach oben.
Beweg dich, nur dieses eine Mal. Beweg dich. Wieder bin ich wie festgefroren. Ich beobachte sie, sehe sie klar und deutlich. Ihre kurzen Beine, kleine Hände die sich empor ziehen. Ich will mich bewegen und kann es nicht. Sobald ich den Mund öffne, versagt meine Stimme.
Nicht auf den Stamm, nicht.
Der Ältere lachte laut, als er den jüngeren auf dem Baum zögern sah. Keinen Schritt wolle er sich weiterbewegen.
„Traust dich wohl nicht mehr“, lachte der ältere höhnisch von unten.
Ängstlich war der Blick des jüngeren starr auf die Planke vor ihm gerichtet. Er hörte das Lachen seines Bruders, zitterte.
Sie sind oben, balancieren vorsichtig, munter flachsend die ersten Schritte, dann bleiben sie stehen. Der eine verharrt, zögert offensichtlich. Er hat Angst. Ich habe Angst. Kann mich nicht bewegen. Gefesselt von meiner eigenen Kälte, sind meine Augen starr auf den Baumstamm gerichtet. Runter vom Baum, will ich schreien. Ich krächze. Sie hören mich nicht, gehen weiter.
Er war unten, spottete laut über seinen Bruder.
„Der arme Kleine traut sich nicht.“
Verzweifelt sah der Kleine auf seinen großen Bruder. Ein flehender Blick. Keine Reaktion.
„Wenn du mutig bist, lauf. So schnell du kannst, bis zum Ende.“
Hohn. Lachen.
Sie balancieren und ich bin wie zu Stein erstarrt. Geht nicht. Kommt herunter. Kein Ton entrinnt meiner Kehle.
Er balancierte, dann rannte er los. Er schloss die Augen und ließ seine Beine die Schritte machen. Schnell. Zu schnell. Das Lachen seines Bruders begleitete ihn. Stolz?
Er rutschte ab. Rechts am Stamm.
Als sein Bruder ihn erreichte, war das Gras schon gebogen. Starr wie ein heruntergefallener Ast, ein Blatt, ein Stein lag der Körper da. Neben dem gefallenen Riesen.
Die beiden haben das Ende erreicht und klettern wieder herunter. Sie haben es geschafft. Vielleicht habe auch ich es jetzt geschafft. Ein wohliges Gefühl von Wärme durchdringt mich. Vergib mir, damit ich mir selber vergeben kann. Ja, er ist hier.