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- 21.08.2005
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Gefängnisse
Nico betrachtete verträumt den Kreidestaub, den die Lehrerin gerade mit dem Aufklappen der Tafel aufgewirbelt hatte und der jetzt im Sonnenlicht schwebte. Dann schaute er aus dem Fenster in den stahlblauen Himmel. Wie gerne würde er jetzt mit Daniel und Clemens im Park oder im Wald spielen oder mit ihnen zum Freibad radeln…
Die Lehrerin redete immer noch über die „vier Fälle“. Grammatik - das war wirklich Folter! Warum konnte Schule nicht nur an Tagen mit schlechtem Wetter stattfinden?
Aber es lag schon eine Weile Aufregung in der Luft – nur noch eine Woche, dann würden endlich Sommerferien sein!
Etwas berührte ihn an der Seite. Es war Basti, der ausdruckslos auf die Tafel glotzte, ihm unter dem Tisch jedoch den gefalteten Zettel reichte, den Nico vorhin auf die Reise geschickt hatte.
Nico nahm ihn und las, als sich die Lehrerin das nächste Mal abwandte:
Gleich in der Pause am Leopard! ?
Daniel hatte geschrieben:
bin dabei
und Clemens:
ich auch.
Nico lächelte. Die würden staunen. Vielleicht konnten sie heute Nachmittag etwas wirklich Cooles unternehmen …
Endlich klingelte es. Sofort wurde es laut, alle standen auf und stürmten zur Tür. „Wohin denn so eilig, Nico?“, rief Sophia ihm nach. Er ignorierte sie, drängelte sich ins Treppenhaus und flog förmlich hinunter. Die Schüler ergossen sich in den Hof und endlich war auch er durch die Tür und rannte befreit über den Asphalt, an den Turngeräten vorbei, über den Fußballplatz und hinter die Sporthallen. Dort blieb er stehen und holte Luft.
Man durfte sich hier zwar nicht aufhalten, doch es war ein guter Platz, wenn man ungestört sein wollte.
Keuchend bogen Daniel und Clemens um die Ecke. Clemens nahm einen Zug aus seinem Inhalator, kchhh, und sagte dann mit möglichst tiefer und dramatischer Stimme:
„Luuuke …“, kchhh, „Ich bin dein Vater!“ Sie lachten, und Daniel, der noch nach Luft schnappte, stützte sich freundschaftlich auf Clemens’ Schulter.
„Na, Nico, was gibt’s?“, fragte Clemens.
„Ja, also, passt auf-“
„Ach nein, wen haben wir denn da?“, wurde er unterbrochen.
Sophia! Mist!
Sophia und ihre beste Freundin Anna standen breit grinsend hinter ihnen.
„Was seid ihr eigentlich für Babys, dass ihr euch für eure Verstecke Tiernamen ausdenkt? Leopard, Leopard! Uuuh…“, lästerte Anna.
„Und Leopard kennen wir jetzt. Und euch ist schon klar, dass wir hier nicht hindürfen, weil uns die Lehrer dann nämlich nicht sehen können, wenn uns was passiert, oder?“ Die beiden Mädchen kamen auf sie zu.
„Panther! Panther!“, rief Nico reflexartig, und die drei rannten wieder los. Sogleich trennten sie sich, nahmen unterschiedliche Wege, damit die Mädchen ihnen nicht folgen konnten.
Nico hatte keine Ahnung, was mit denen los war. Schon seit ein paar Wochen hefteten sie sich an ihre Fersen, und nervten und störten sie mit ihrem belanglosen Mädchenkram. Die allgemeine Meinung dazu schien zu sein, dass die Mädchen sie mochten, doch Nico hoffte, dass dem nicht so war, sie möglichst bald das Interesse verlieren und sie in Ruhe lassen würden!
Er hielt sich ganz außen am Zaun und lief an spielenden Kindern vorbei über den ganzen Hof in Richtung Sandkasten.
Panther war ihr Codewort für ein Gebüsch am Lehrerparkplatz.
Am Sandkasten schaute er sich nach den Mädchen um, und da er sie nicht entdecken konnte, zwängte er sich schnell in das Gebüsch. Es war kühl und dunkel unter den Zweigen und Blättern, und er bahnte sich seinen Weg bis zu der kleinen Lichtung mit der Kastanie, von der aus man die Autos der Lehrer sehen konnte. Clemens und Daniel warteten schon auf ihn.
„Haben sie euch gesehen?“, fragte Nico leise und setzte sich zu ihnen. Die Geräusche der spielenden Kinder drangen zu ihnen.
„Glaub nicht.“
„Nee, und dich?“
„Nein, bestimmt nicht. Echt nervig, die beiden.“
„Oh ja. Aber sag schon, was wolltest du erzählen?“
„Okay. Also, sagt euch der Name JVA Heidemoor was?“ Sie nickten.
„Das ist doch diese Anstalt, oder?“, fragte Clemens.
„Die irgendwo draußen im Wald, ne?“, fügte Daniel hinzu.
„Genau. Aber wisst ihr, was das eigentlich ist?“ Sie dachten kurz nach, Daniel kratzte sich am Kopf.
„Nee“, sagte er schließlich, und auch Clemens schüttelte den Kopf. „So ’ne Art Schule? Wie ein Internat oder so?“
„Das dachte ich auch, aber JVA heißt Justizvollzugsanstalt. Und das wiederum heißt Gefängnis!“ Ihre Augen wurden schlagartig größer.
„Im Ernst?“
„Ja, das ist nur ein komplizierteres Wort, wahrscheinlich, damit die Leute nicht merken, dass sie in der Nähe von einem Gefängnis wohnen und Angst kriegen...“
„Echt jetzt? Wir leben also in der Nähe von einem richtigen Gefängnis?“, fragte Daniel. Nico nickte grinsend.
„Ganz genau, mein Dicker!“
„Hey, nenn mich nicht so! Krass!“ Er schlug sich auf den Schenkel.
„Ich bin in der Bücherei darauf gestoßen, als ich was für Die Geschichte unserer Stadt für Frau Schulz gesucht habe.“ Sie nickten. „Und zu Hause hab ich nochmal im Internet gesucht und herausgefunden, dass die JVA letztes Jahr geschlossen wurde.“
„Wirklich? Warum?“
„Weil es weniger Verbrechen und damit weniger Verbrecher gibt. So wenige, dass es sich nicht lohnen würde, das Gefängnis weiter zu … betreiben, oder wie man das nennt. ‚Zu hoher Leerstand’ heißt das da.“
„Das heißt, da ist jetzt gar keiner mehr?“, fragte Clemens etwas enttäuscht.
„Genau. Aber stellt euch doch mal vor, wir könnten da hinfahren und uns alles angucken. Das ganze Gefängnis! Von innen!“ Sie beugten sich vor.
„Mann, wie die gelebt haben, die Verbrecher, die Mörder, Räuber und Betrüger… wo die gelebt haben…“
„Die Zellen, die vergitterten Fenster…“ Jetzt leuchteten ebenfalls Daniels und Clemens’ Augen und Nico lächelte.
„Vielleicht haben die an den Wänden Strichlisten geführt-“
„Oder vielleicht finden wir Geheimverstecke mit Sachen drin, geheime Nachrichten oder selbstgebaute Waffen-“
„Ja, genau, stellt euch vor, wir finden ein Messer mit getrocknetem Blut dran und… können damit einen Mord aufklären!“ Clemens prustete los und warf ein Ästchen auf Daniel.
„Einen Mord?!“
„Ach, ihr wisst schon…“, maulte der und wischte das Ästchen weg. „Jedenfalls wären wir Helden!“
„Wahnsinn!“
Nachdem sie sich die Sache noch weiter ausgemalt hatten, verabredeten sie sich für halb vier im Park. Kurz darauf klingelte es, und so krochen sie aus dem Gebüsch und trotteten wie die anderen Schüler wieder ins Schulgebäude.
Die restlichen Unterrichtsstunden vergingen schnell, jetzt, da die Jungen etwas hatten, was ihre Fantasie beflügelte.
Bevor sie sich auf dem Heimweg trennten, fragte Clemens:
„Hey, noch ’ne Runde Star Wars?!“
„Was für ’ne Frage!“, erwiderte Daniel. Sie ließen ihre Schulmappen zu Boden fallen und suchten nach Stöckern.
„Aber nur kurz. Nicht, dass unsere Eltern sauer werden und uns dann nachher nicht weglassen …“, warf Nico ein.
„Klar – ah, hier“, sagte Daniel und hob einen langen Stock auf. „Wsssmmm… Ich bin Darth Maul!“ Nico erspähte ebenfalls einen geeigneten Stock.
„Dann bin ich Qui Gon! Wsssmmm…“
„Wsssmmm… Und ich Obi Wan!“, rief Clemens und ließ seinen Ast kreisen.
„Los geht’s“, rief Daniel und wich kämpfend schnell zurück, während Nico auf ihn eindrang. Clemens folgte ihnen in einigem Abstand. Daniels und Nicos Stöcker trafen laut klopfend aufeinander.
Sie kämpften schnell, schließlich waren sie geübt.
„Die Laserwände! Klunk-klunk-klunk!“, rief Clemens von hinten. Sofort hörten Daniel und Nico auf und standen sich nur noch gegenüber. Daniel tippte mit einem Ende seines Stocks in die Luft zwischen ihnen, als befände sich dort ein Hindernis. Nico kniete sich aufrecht hin und schloss die Augen. Daniel schritt vor ihm auf und ab.
„Dschiip, und weiter!“, rief Clemens. Nico sprang auf und drang erneut auf Daniel ein, während Clemens so tat, als würde er weiter auf die beiden zurennen, bis er schließlich noch einmal „Klunk“ machte und kurz vor ihnen abrupt stehen blieb.
„Jetzt!“, rief er. Nico hob seinen Stock mit beiden Händen über den Kopf und Daniel piekste ihm mit seinem in den Bauch. Nico stutzte, riss den Mund auf, richtete den Blick zum Himmel und sank zu Boden.
„Neeein!“, schrie Clemens. „Dschiip.“ Dann stürzte er sich auf Daniel. Nico beobachtete sie unbeweglich vom Boden aus.
Es war ein guter Kampf. Daniel und Clemens wirbelten nur so umeinander herum, sprangen hin und her und rollten sich sogar auf dem Boden ab. Er meinte sogar, statt der Stöcker die blaue und die rote Klinge zu sehen. Fast wie in echt...
„Jetzt!“, rief er nach einer Weile. Clemens presste sich auf den Boden, sprang hoch und zog Daniel dabei den Stock quer über den Bauch. Der riss die Arme in die Höhe und ließ sich nach hinten fallen. Clemens stürzte zu Nico und richtete ihn halb auf.
„Meister!“ Nico stammelte etwas.
„… Obi Wan… versprich mir- dass du den Jungen ausbilden wirst…“
„Ja, Meister.“
„Er ist- der Auserwählte… Das Gleichgewicht- ahh…“ Nico erschlaffte in Clemens’ Armen. Einen Moment lang rührte sich keiner von ihnen.
Dann stand Daniel auf und Clemens nahm einen Zug aus seinem Inhalator.
„Klasse! Nächstes Mal will ich Qui Gon sein. Also, bis halb vier!“
„Bis dann!“
„Ja, macht’s gut!“ Sie setzten ihre Schulmappen auf und liefen in unterschiedliche Richtungen davon.
„Mh, Mommam“, begann Nico mit dem Mund voller Spaghetti, schluckte jedoch auf den warnenden Blick seiner Mutter hin erst einmal runter.
„So ist’s recht“, sagte sie. „Entweder essen oder reden …“
„Mh, Mama, ich hab mich heute für halb vier verabredet, das ist doch okay, oder?“
„Mit Clemens und Daniel?“
Nico nickte. Seine Mutter lächelte.
„Klar, mit wem auch sonst? Laufen euch diese Mädchen eigentlich noch hinterher?“
„Mhm. Echt ätzend.“ Sie lachte.
„Wollt ihr nicht mal mit denen was unternehmen?“
„Mama!“
„Oh, entschuldige, wie komme ich bloß auf so was Absurdes? Na, was habt ihr Jungs denn vor?“
„Ach, das Übliche. Wir wollen uns mit den Rädern im Park treffen und dann mal schauen…“
„Gut. Aber halb sieben bist du zu Hause.“
„Clemens und Daniel dürfen bis um sieben“, flunkerte Nico.
„Tatsächlich? Na gut, um sieben. Aber nicht später!“
„Danke, Mama!“
„Schon gut.“
Nach dem Essen setzte sich Nico an den Computer und rief die Seite mit den Informationen über die JVA auf.
Er hatte die ganze Sache angeleiert, er würde der Anführer sein (wie meistens), und deshalb wollte er sich gut vorbereiten.
„Wieder mit Nico und Daniel?“, fragte Clemens’ Mutter. Auch sie waren beim Essen.
„Ja.“ Sie seufzte bekümmert.
„Ach, Clemens, warum denn immer die beiden? Sie sind so wild. Du darfst nicht vergessen, dass du empfindlicher als andere bist. Du musst auf dich acht geben.“
„Das mach ich doch, Mama …“ Sie überlegte.
„Na gut, meinetwegen“, sagte sie schließlich widerstrebend.
„Klasse!“
„Aber Punkt sechs bist du zu Hause.“
„Was? Nico und Daniel dürfen bis um sieben!“
„Es ist mir egal, was andere Eltern ihren Kindern erlauben. Ich habe die Verantwortung für dich!“ Clemens grummelte.
Daniel saß allein im Wohnzimmer vor dem Fernseher und aß zwei Brote, die er sich gemacht hatte. Seine Mutter arbeitete und würde erst spät nach Hause kommen. Er würde ihr einen Zettel auf die Flurkommode legen:
Habe mich mit Nico und Clemens verabredet. Bin um sieben wieder da. Daniel
„Also, passt auf“, sagte Nico, holte einen Zettel aus der Tasche und faltete ihn auseinander. Die Jungen befanden sich mit ihren Rädern im Park. Das Papier zeigte ein großes, eiförmiges Gebilde, das von einigen Linien durchkreuzt wurde. Außerdem waren zwei Kreuze eingezeichnet. „Das ist der Wald. Hier-“, er deutete auf das Kreuz unten auf dem Schnittpunkt des Eirandes und einer Linie, „gehen wir immer rein. Das ist der Melanchthonweg. Und ungefähr hier-“, er fuhr mit dem Finger nach oben und tippte auf das andere Kreuz, innerhalb des Eis, „ist das Gefängnis.“
„Ah ja. Das heißt, wir müssen einmal fast durch den ganzen Wald“, stellte Clemens fest.
„Genau.“
„Warum sind da keine Linien? Gibt’s da keine Wege?“, fragte Daniel.
„Nein, da müssen wir uns wohl querfeldein durchschlagen“, grinste Nico.
„Klasse! Gut, auf geht’s!“
Sie stiegen auf ihre Räder und fuhren los.
Als sie den Melanchthonweg verließen und die kleine Senke in den Wald hinuntersausten, stimmte Daniel das Star Wars-Thema an, und Nico und Clemens fielen grölend ein:
„Döö-döö, dödödö-döö-döö, dödödö-döö-döö, dödödödöö …“
Es war ein Genuss, durch den Wald zu brettern. Anfangs passierten die Jungen Fußgänger und andere Radfahrer, doch je weiter sie kamen, desto weniger Leute trafen sie. Der Weg war gut, sie fuhren dicht nebeneinander, die leicht verschwitzten Hände umklammerten die Gummigriffe ihrer Lenker, und ihre Reifen surrten nur so über den Boden dahin. Die warme Sommerluft zerrte freundlich an ihren Haaren und T-Shirts, Bäume streckten ihre Äste über sie aus und die Sonne blitzte durch die Blätter auf sie herab. Es roch angenehm würzig und süß nach Erde und Pflanzen - der Geruch des Waldes im Sommer. Sie waren aufgeregt und gespannt, was sie wohl erleben würden.
Ein paar Mal hielten sie an Kreuzungen, und Nico überprüfte anhand seines Plans, ob sie noch auf dem richtigen Weg waren.
Gerade tauchte vor ihnen eine Linkskurve auf.
„Ah, stopp!“, rief Nico, und sie hielten an. Einmal mehr kramte er den Zettel hervor.
„Wir sind jetzt hier.“ Er tippte auf eine nach links abknickende Linie im oberen Bereich des Wald-Eis. Das Kreuz befand sich schräg rechts über seinem Finger. „Auf Wegen kommen wir nicht näher heran.“ Er schaute auf und deutete schräg rechts in die Bäume hinein. „Irgendwo da hinten ist sie.“
„Alles klar, dann wollen wir mal“, sagte Daniel, schaute sich um und fuhr dann in die angegebene Richtung in den Wald hinein. Nico und Clemens folgten ihm.
Sie fuhren im zweiten Gang zwischen Büschen und Bäumen hindurch. Der Boden war uneben, es war manchmal nicht leicht, die Balance zu halten, und ihre Reifen raschelten laut durch den weichen Waldboden. Zweige streiften sie, und in ihrer Nähe flogen laut schimpfend Vögel auf.
Sie waren noch nicht lange auf diese Weise unterwegs, als sie plötzlich ein weißes Schild vor sich aufragen sahen und stoppten.
„Justizvollzugsanstalt Heidemoor“, las Daniel vor, „Das Betreten des Geländes ist nicht gestattet. Zuwiderhandlungen werden verfolgt! Die Stadt. Justizbehörde – Strafvollzugsamt.“
„Mann“, staunte Nico.
„Guckt mal“, sagte Daniel und deutete nach links. „Da hinten steht noch so eins!“ Er hatte recht. Sie schauten auch nach rechts, doch dort versperrten ihnen Bäume die Sicht. „Wahrscheinlich sind die um das ganze Gebiet herum aufgestellt.“ Sie versuchten, gedanklich eine Linie von Schild zu Schild zu ziehen, um den Wald vor und hinter dieser mysteriösen Grenze zu vergleichen, konnten jedoch keinen Unterschied ausmachen. Einen Moment lang standen sie unsicher da, die Räder zwischen ihren Beinen.
„Meint ihr, da drüben gibt’s Tretminen oder so was?“, fragte Clemens.
„Ich glaube nicht“, antwortete Nico nach einer Pause skeptisch. „Sowas ist eher typisch für die Armee, und ich glaube, die hat mit Gefängnissen nicht viel zu tun.“ Er hatte einen Einfall. „Außerdem müsste dann davor gewarnt werden, oder nicht? Auf dem Schild müsste stehen ‚Vorsicht Minen’ mit einem Totenschädel oder so, richtig? Ich meine, das ist schließlich lebensgefährlich!“
„Ja“, sagte Clemens, „ich glaube, du hast recht. Was, wenn da jemand aus Versehen reingeht, weil er zufällig genau zwischen zwei Schildern war und keins von beiden gesehen hat? Dann kann der doch nicht einfach in die Luft fliegen! Da müsste hier doch zumindest ein Zaun stehen.“
„Genau!“, stimmte Nico zu. Dann standen sie wieder unschlüssig herum und lasen das Schild wieder und wieder.
„Ich glaube, wir kriegen richtig Ärger, wenn wir weitergehen und erwischt werden“, sagte Clemens. Er hoffte, dass sie ihn keine Memme nennen und stattdessen diese Aussage irgendwie entkräften würden, doch sie taten weder das eine noch das andere. Nico grinste.
„He, ich glaube, wir brauchen uns gar nicht so große Sorgen zu machen, schließlich ist das Gefängnis seit letztem Jahr geschlossen! Da ist doch überhaupt keiner mehr!“
„Ach, stimmt ja!“
„Also, ich schlage vor, dass wir unsere Räder hier lassen, da, hinter dem Busch, und zu Fuß weitergehen. Es ist jetzt nicht mehr weit, und so kommen wir besser voran.“
Gesagt, getan. Mit einem mulmigen Gefühl überschritten sie die unsichtbare Grenze.
Sie flogen nicht in die Luft. Stattdessen sprang ein Reh hinter einem Gebüsch auf und flüchtete mit großen Sprüngen. Sie lachten erleichtert. Hier konnten wirklich keine Minen sein, sonst hätten die Waldbewohner sie ausgelöst.
Der Boden war größtenteils mit schilfartigem Gras bewachsen, und nachdem sie einen kleinen Hain aus Birken durchquert hatten, standen sie vor einem hohen Maschendrahtzaun mit Stacheldraht obenauf. Es war kein normaler Maschendrahtzaun, nicht wie zum Beispiel der auf dem Sportplatz, sondern stabilerer. Er war wohl einmal dunkelgrün gewesen, doch inzwischen hatte er eine hellgraue Farbe angenommen und war spröde geworden. Hinter dem Zaun erhob sich die JVA – ein paar rötliche Backsteingebäude mit schwarzen Dächern auf einem großen freien Gelände mit ein paar Bäumen.
„Das ist es“, sagte Nico ein bisschen ehrfürchtig.
„Ja“, sagte Clemens, trat neben ihn und wollte die Finger in den Zaun haken.
„Bist du irre?!“, rief Daniel und schlug seine Arme weg.
„He, was-“
„Schon mal daran gedacht, dass da Strom drauf sein könnte?“ Clemens starrte ihn an.
„Verdammt, du hast recht!“
„Ich glaub’s zwar nicht“, sagte Daniel, „aber man kann nie wissen... Ich weiß, wie wir’s testen können!“ Er bückte sich, riss einen langen Halm aus dem Boden und hielt ihn an den Zaun.
„Hm, nein, nichts“, sagte er, „… kannst ruhig anfassen.“ Clemens berührte den Zaun und wusste irgendwie, dass er doch unter Strom stehen würde. Daniels Test hatte nicht funktioniert und jetzt würde er so richtig eine gewischt bekommen. Vielleicht würde er ein Stück vom Zaun durch die Luft wegfliegen und ohnmächtig werden, und bestimmt würde seine Mutter ihm verbieten, jemals wieder mit Daniel und Nico zu spielen … Aber nichts passierte, als sich seine Finger um die Maschen schlossen, und er lächelte Daniel zu.
„Trotzdem danke“, sagte er.
„Kein Problem“, erwiderte Daniel, während Nico am Zaun entlangging.
„He, Nico! Was machst du?“ Er sagte etwas, was sie nicht verstanden, also folgten sie ihm.
„Hier, guckt mal, ich hab hier was!“, rief Nico. Als die Jungen bei ihm waren, zeigte er auf eine Mulde im Boden, über der der Zaun hochgebogen war.
„Vielleicht zwängen sich hier Wildschweine durch“, sagte er, während er sich auf den Rücken legte und anfing, sich Kopf voran und mit den Füßen am Boden abstoßend durch das Loch zu schieben.
„Seht ihr? Ist ganz einfach. Kommt, der nächste!“ Clemens legte sich hin und Nico half, indem er an seinen Armen zog.
„So. Tja, Daniel“, sagte Nico, als Clemens neben ihm stand, „hier trennen sich wohl unsere Wege. Wir haben keine Seife dabei, um dich einzuschmieren, damit du da durchflutschen kannst. Aber sei nicht traurig, wir erzählen dir dann alles…“ Clemens und er lachten.
„Haltet die Klappe!“ Daniel legte sich auf den Bauch und begann eilig, durch das Loch zu kriechen.
„Ohoho, Vorsicht, Leute, hier kommt der Dicke“, rief Nico lachend, packte Daniels Hände und zog. Clemens versuchte, das Loch noch zu dehnen. Kurz darauf war Daniel durch und knuffte sie.
„Kein Kommentar!“, sagte er dabei, „Kein Kommentar!“
Dann wandten sie sich der JVA zu.
Nico hatte im Internet ein älteres Foto gesehen, auf dem das Gelände gemäht gewesen war und alles ordentlich und akkurat gewirkt hatte, doch diese Zeiten waren vorbei; jetzt waren die Gräser hüfthoch, und hier und da ragten kleine Büsche aus ihnen hervor.
„Na, dann wollen wir mal“, sagte er.
Ein paar Krähen flogen mit ihrem hallenden Kraa, kraa auf, als sie mit großen Schritten durch das Gelände stapften. Grashüpfer und andere Insekten sprangen ihnen aus dem Weg.
Während sie auf das mittlere Gebäude zuhielten, das größte, ließen sie die dunklen Fenster mit den schwarzen Gittern nicht aus den Augen.
Als sie näher waren, sahen sie, dass auf den Dächern, auf manchen Fensterbänken und zwischen den Steinplatten am Boden Gräser wuchsen. Aus einer Regenrinne ragte eine kleine Birke.
Das Gebäude mit seinen vergitterten, verstaubten Fenstern ragte erhaben wie eine Festung vor ihnen auf. Sie umrundeten es und standen schließlich vor einem Aufgang, der zu der großen, angelehnten Eingangstür führte.
„Die ist ja offen“, flüsterte Daniel.
„Ist doch gut, da müssen wir nicht lange überlegen, wie wir reinkommen“, entgegnete Nico und lachte etwas.
„Aber heißt das nicht, dass da jemand drin ist?“, fragte Clemens.
„Ach Quatsch, wer denn? Außerdem – guck dich doch mal um-“ Nico deutete auf die große freie Fläche, die einmal ein Parkplatz gewesen war, und auf die kleine Zugangsstraße, die weit hinten vom Zaun in Form eines großen Tors blockiert wurde. „Siehst du hier irgendwo ein Auto? Ich nicht. Vielleicht war hier mal jemand, oder sie haben beim Auszug vergessen, zuzumachen…“ Er begann, die Stufen hinaufzusteigen. „Also, kommt ihr jetzt, oder was?“
Sie betraten eine Eingangshalle. Es war angenehm kühl und ihre Augen brauchten einen Moment, um sich an das neue Licht zu gewöhnen. Am Boden lagen ein paar Bretter, Nägel und Dreck. Sie gingen durch die Halle an einem ehemaligen Empfang vorbei. Es roch ein wenig so wie in der Jugendherberge, zu der sie einmal eine Klassenfahrt unternommen hatten - nach vielen Menschen. Nico bemerkte, wie abgewetzt der graue Linoleumboden war.
Hier sind sie langgegangen, die Verbrecher, dachte er und bemerkte einen leichten Druck, der auf seiner Blase lastete. Die Jungen verspürten ein kribbelndes Gefühl dabei, sich am selben Ort aufzuhalten, an dem so viele von ihnen gewesen waren, dem Gang zu folgen, den auch sie entlanggegangen waren. Sie fühlten fast so etwas wie eine Präsenz, etwas, was sie zurückgelassen hatten. Etwas nicht direkt Böses, aber doch irgendwie Unheimliches, Verbotenes.
Sie passierten Büros; die meisten waren leer, ein paar beherbergten kaputte Tische oder Stühle. Hier und da ragten abgerissene Kabel aus Wänden, die wie mit helleren Stellen verziert wirkten, wo Gegenstände gehangen oder Möbel gestanden hatten. Der Gang machte einen Knick, sie traten durch eine schwere, offene Gittertür und befanden sich in einem Zellentrakt, an dessen Ende sie gerade einen Mann um die Ecke gehen sahen. Abrupt stoppten sie.
„Uff, das war knapp!“, flüsterte Daniel.
„Aber - hier darf doch keiner rein... Was macht der denn dann hier?“, flüsterte Clemens ängstlich.
„Ich weiß auch nicht“, entgegnete Nico leise. „Aber ich bin dafür, dass wir ihn verfolgen, vielleicht führt er irgendwas im Schilde!“
„Du meinst, wie bei den drei Fragezeichen?“, fragte Daniel.
„Genau, die stolpern doch auch oft einfach so in ihre Fälle.“
„Klasse!“
„Leute, ich weiß nicht“, nörgelte Clemens.
„Ach, komm schon, das ist doch superspannend! Los, wir müssen uns entscheiden, sonst ist er weg!“, sagte Nico und klopfte ihm auf die Schulter.
„Na gut - aber ganz vorsichtig!“
„Klar, kommt!“, erwiderte Nico und begann, leise weiterzulaufen. Daniel und Clemens folgten ihm.
Rechts und links zogen sich die Zellen dahin. Sie besaßen keine Gittertüren, sondern stabile normale, mit großen schwarzen Nummern und verschließbaren Sichtfenstern versehen. Am Ende des Trakts lugten sie kurz um die Ecke, bevor sie ihren Weg fortsetzten und ein Treppenhaus betraten. Von oben hörten sie eine Tür zufallen. Sie erklommen die Treppe und schoben vorsichtig eine gläserne Flügeltür auf. Vor ihnen lag ein weiterer Zellentrakt. Der Mann ging langsam den Gang hinunter, eine Hand ließ er dabei über Wand und Zellentüren gleiten. Er trug eine Jeans und eine ausgeblichene Jeansjacke.
„Was macht er da?“, flüsterte Clemens fast unhörbar.
„Keine Ahnung.“ Der Mann trat in eine der Zellen. Gerade als die Jungen ihm in den Trakt folgen wollten, kam er wieder heraus. Schnell ließen sie die Tür bis auf einen Schlitz zugehen.
„Er hat uns gesehen“, hauchte Clemens panisch.
„Erzähl keinen Mist“, erwiderte Daniel. Der Mann hatte die Hände in die Hüften gestemmt und sah zur Decke, bevor er sich abwandte und am anderen Ende des Trakts verschwand. Sie schlüpften hinterdrein.
„Mann, vielleicht ist der ein Dieb und lagert hier irgendwo seine Beute…“, flüsterte Daniel freudig erregt.
„Wer weiß?“, erwiderte Nico.
Die Jungen folgten dem Mann durch weitere Gänge, doch dann passierte es: Sie bogen gerade um eine Ecke - und der Mann sah sie. Eine Sekunde lang glotzte er nur. Dann rief er:
„Scheiße noch mal, was habt ihr Kinder hier zu suchen?!“
„O-oh, weg hier, Leute“, sagte Nico, und sie rannten in die Richtung, aus der sie gekommen waren, den Mann dicht auf den Fersen. Auf einmal wussten sie nicht mehr, wo sie waren, und ehe sie sich versahen, befanden sie sich am Ende eines weiteren Zellentrakts - in einer Sackgasse. Der Mann lachte hämisch, während er auf sie zukam.
„Also, was macht ihr hier, hä?“, fragte er.
„Äh, entschuldigen Sie“, stammelte Nico, „Wir… ähm, wir wollten nur mal sehen, wie das hier für die Verbrecher so war, wie die hier gelebt haben und so…“
„Was? Wie die hier gelebt haben? Scheiße, das hier ist ein Gefängnis, und wir reden hier von Menschen, klar? Das hier ist kein Ort für Kinder!“
„Aber das Gefängnis ist doch geschlossen, seit letztem Jahr schon…“, warf Nico ein.
„Halt den Mund“, fuhr ihn der Mann an. „… Wie die Verbrecher hier gelebt haben… Gut, in Ordnung. Ich werde euch zeigen, wie die Verbrecher hier gelebt haben!“ Er straffte sich. „Da rein!“, herrschte er sie an und deutete auf eine offene Zelle.
„Bitte, wir-“
„Da rein, hab ich gesagt!“, brüllte er. Sie fuhren zusammen und taten, was er verlangte.
Es war ein kleiner Raum, vielleicht drei mal eineinhalb Meter. Links stand ein einfaches Bettgestell mit einer verschlissenen Matratze, rechts ein kleiner Tisch und daneben ein schmaler Schrank ohne Türen. Eine Ecke der Zelle war gefliest, und die hellere Stelle deutete auf eine Toilette mit Waschtisch oder so etwas hin. Und über allem wachte das vergitterte Fenster, durch das vom Staub gedämpftes Sonnenlicht hereinfiel.
„Leert eure Taschen aus!“, befahl der Mann und deutete auf den Tisch. Eingeschüchtert förderten die Jungen drei Schlüssel, ein Portmonee, Clemens’ Inhalator, ein kleines Taschenmesser, ein paar Bonbons, eine Indiana Jones-Actionfigur und etwas Abfall zutage. Der Mann steckte alles ein.
„Und jetzt zieht euch aus!“ Sie rührten sich nicht.
„Ihr sollt euch ausziehen!“
„Nein. Sie-“, begann Nico, wurde jedoch von der Ohrfeige unterbrochen, die der Mann ihm verpasste. „Gleich werde ich ungemütlich!“ Zögernd zogen sich die Jungen die T-Shirts über die Köpfe.
„So ist’s richtig. Schneller, ich hab nicht ewig Zeit!“ Sie streiften die Schuhe ab und zogen die Hosen aus.
„Ganz?“, fragte Clemens leise, der als erster in Boxershorts und Socken dastand.
„Nein, das reicht!“ Der Mann nahm die Wäsche auf und warf sie in den Flur. Dann betrachtete er die Jungen.
„Du, Fettsack, du isst wohl gerne?“ Daniel schlug die Augen nieder.
„Schon…“, murmelte er.
„Zehn Liegestützen! Los! Geht mal aus dem Weg, macht ihm Platz.“ Nico und Clemens traten beiseite.
„Na, was ist denn?!“
Zwei Tränen kullerten Daniels Gesicht hinab. Er murmelte etwas.
„Was? Sprich lauter, Junge, ich bin kein Luchs!“
„Ich kann keine Liegestütze“, sagte Daniel leise.
„Was?! Ich kann dich immer noch nicht hö-“
„ICH KANN KEINE LIEGESTÜTZE!“, brüllte Daniel ihn plötzlich mit Hass im Blick an.
„Ah“, sagte der Mann. „Das werden wir ja sehen. Zehn Stück. Los, runter auf den Boden!“ Daniel schnaubte und ließ sich nieder.
„Gut, ich zähle mit. Eins!“ Daniel stemmte sich ab und brach halb wieder zusammen.
„Verdammt noch mal, wirst du wohl Liegestützen machen“, fauchte der Mann und trat ihm gegen die Schulter.
„He, lassen Sie ihn in Ruhe-“, rief Nico.
„Halt’s Maul, du!“, schnauzte der Mann zurück und richtete drohend den Zeigefinger auf ihn. „Gut, Dickwanst, heb deinen Arsch hoch, dann geht’s leichter. Nochmal, los jetzt, und hör auf zu flennen! Eins!“ Daniel streckte seinen Hintern in die Höhe und stemmte sich ab. „Gut, der nächste, los!“ Daniel ließ sich herunter, stemmte, stieß dabei Luft zwischen den Zähnen aus. „Jawoll, zwei! Gut so, weiter!“ Daniel machte „Hrrrgh“. „Drei! Gut! Weiter!“, rief der Mann. Daniels linker Arm zitterte. „Vier, klasse, seht euch das an, Jungs!“ Von der fünften schaffte Daniel die Hälfte, dann machten seine Arme schlapp und er klatschte auf den Boden.
„Fünf!“, rief der Mann. „Habt ihr das gesehen? Der Dicke hat fünf Liegestützen geschafft! Komm - steh auf. Sehr gut. Ich weiß nicht, ob ich fünf gepackt hätte, mit deiner Wampe!“ Daniel stand wieder – schnaufend und mit hochrotem Kopf.
„Und jetzt lass ich euch erstmal eine Weile allein“, sagte der Mann, verließ die Zelle und warf die Tür zu. Die Jungen hörten, wie ein Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde.
Eine Zeitlang sagten sie nichts, sondern standen nur in ihrer Unterwäsche da.
„Wer zur Hölle war das, was sollte das Ganze - und was will der eigentlich von uns?!“, sprach Daniel schließlich die drängendsten Fragen aus.
„Ganz ehrlich - ich habe keine Ahnung… Du, Clemens?“ Clemens schüttelte den Kopf. Sein Blick wirkte lebhafter als sonst.
„Ich auch nicht. Hat er uns wirklich eingeschlossen?“ Nico ging zur Tür und rüttelte daran.
„Ja, nichts zu machen.“ Sie sahen sich um – Wände und ein vergittertes Fenster.
Nico trat mehrmals gegen die Tür.
„Das ist doch scheiße!“, schrie er. Daniel und Clemens schauten ihn erschrocken an. Er befahl sich, sich zusammenzureißen. Er war der Anführer.
„Okay, ähm. Das ist also so eine Zelle“, sagte er. „Schon krass. Aber… Irgendwie auch nicht so aufregend, wie ich dachte. Was meint ihr?“ Clemens und Daniel brummten zustimmend. „Ich meine, keine Strichlisten, keine Nachrichten an den Wänden, keine Geheimverstecke...“
„Was, wenn er nicht zurückkommt?“, fragte Clemens unvermittelt. Panik schwang in seiner Stimme mit. „Niemand weiß, wo wir sind! Oder?“ Sie schüttelten die Köpfe.
„Aber dann werden wir hier … sterben!“, rief Clemens und sein Atem begann, keuchend zu klingen. Nico legte ihm die Hände auf die Schultern und schaute in seine aufgerissenen Augen.
„Versuch dich zu beruhigen, Clemens. Atme langsam. Nicht, dass du hier einen Anfall bekommst… Ähm, der Typ hat doch gesagt, er lässt uns erstmal eine Weile allein, richtig? Das heißt also, er kommt wieder. Und er wird uns rauslassen. Okay? Er wird wiederkommen, um uns rauszulassen. In Ordnung?“ Clemens’ Atem beruhigte sich allmählich.
„Okay. Okay, in Ordnung.“
„Gut“, sagte Nico und ließ seine Schultern los.
Sie wussten nicht, wie viel Zeit vergangen war, während sie abwechselnd auf und ab gegangen waren und sich auf das Bett oder den Tisch gesetzt und ihren Gedanken nachgehangen hatten. Wer war dieser Typ? Was tat er hier? Warum hatte er ihnen alles abgenommen? Was sollte die Sache mit den Liegestützen? Warum hatte er sie hier eingesperrt? Es ergab alles einfach keinen Sinn.
Das Licht, das durchs Fenster hereinfiel, war schwächer und dunkler geworden.
Nico spürte seine Blase als schmerzenden Ball im Unterleib. Er fragte sich, wann sie wohl platzen und was dann passieren würde. Warum hatte er zu Hause bloß soviel getrunken? Sehnsüchtig starrte er auf die geflieste Ecke. Und warum hatten sie ausgerechnet in eine Zelle gehen müssen, in der es keine Toilette mehr gab?
„Wisst ihr, woran mich das hier irgendwie erinnert?“, fragte Daniel. Sie schauten zu ihm. „Daran, wie Han, Chewie, Luke und Leia in der Müllpresse festsitzen und die Wände immer näher kommen, wisst ihr noch?“ Sie lächelten. Sie kannten die Stelle aus Krieg der Sterne gut, die Daniel meinte.
„Tja, aber da hat R-Zwo ihnen aus der Patsche geholfen“, sagte Clemens.
Luke hatte per Funk Kontakt mit dem kleinen Astromech-Droiden aufgenommen, und dieser hatte sich ins Sicherheitssystem gehackt und die Müllpresse zum Stillstand gebracht, kurz bevor sie die Helden zerquetscht hätte.
„Wer weiß“, sagte Nico, „Vielleicht ist irgendwo da draußen auch ein R-Zwo, der uns hier raushilft…“ Sie seufzten.
Clemens saß an die Wand gelehnt auf dem Bett. Er bekam die Szene mit den sich aufeinander zuschiebenden Wänden der Müllpresse nicht mehr aus dem Kopf und sah im Geiste vor sich, wie die Festsitzenden sich vergeblich bemühten, sie irgendwie anzuhalten. Han, wie er versuchte, eine Stange aus dem Müll zu verkanten, die ihm, Clemens, immer merkwürdig elastisch vorgekommen war… Er fühlte sich seltsam, so als wäre er irgendwie nicht mehr richtig da, und jetzt verschwamm auch noch alles ein wenig. Er spürte ein Ziehen in der Brust, dann begannen seine Beine zu zittern. Gleichzeitig beschleunigte sich sein Atem und wurde pfeifend. Unklar nahm er wahr, wie Nico und Daniel sich zu ihm drehten. Er atmete ein, konnte aber nicht mehr richtig ausatmen...
„Clemens!“, rief Nico und stürzte zu seinem Freund. „Hol den Typ, Daniel, er braucht sein Spray!“ Während Daniel an die Tür hämmerte, packte Nico den zitternden Clemens bei den Armen.
„Der Kutschersitz, setz dich in den Kutschersitz!“ Er half Clemens, sich auf die Bettkante zu setzen und die Ellenbogen auf die Oberschenkel zu stützen. Clemens’ Atem war jetzt ein einziges Pfeifen, sein Brustkorb blähte sich immer mehr auf, er hatte einen Schweißfilm am ganzen Körper.
„Hey, Mann! Hallo, Hilfe! Er hat einen Asthma-Anfall!“, brüllte Daniel an der Tür.
Nico kniete vor Clemens, nahm dessen Gesicht in beide Hände und suchte seinen Blick.
„Clemens?“ Clemens!“ Er schien ihn nicht zu hören, seine Augen schauten ins Nichts, dann fixierten sie ihn. „Gut so, schau mich an. Ganz ruhig, dir passiert nichts, es ist alles in Ordnung. Du musst jetzt die Lippenbremse machen. Du hast sie uns gezeigt, weißt du noch? Ganz langsam gegen den die geschlossenen Lippen ausatmen, so-“ Er machte es vor, seine Wangen blähten sich auf. Clemens nickte fahrig und versuchte, es ihm gleichzutun. Er war zu zittrig, seine Lippen machten Pbhpbh, wie wenn man das Schnauben eines Pferds nachmacht.
Es klickte im Schloss und die Zellentür schwang auf. Der Mann stand mit dem Spray in der Hand im Rahmen. Er warf den Inhalator Nico zu, der ihn fing, Clemens an den Mund hielt und auf den Knopf drückte.
Kchhh.
Das Zittern ließ nach, Clemens griff selbst nach dem Gerät und nahm noch einen Zug.
„Du siehst schwächlich aus, Clemens. Sind deine Eltern getrennt?“, fragte der Mann. Clemens nickte ohne aufzusehen. „Mhm. Deine Mutter ist wohl immer ziemlich besorgt um dich, was?“. Clemens sah ihn an, nickte, und der Mann tat es ihm ernst gleich.
„Das ist wahrscheinlich nicht nur Asthma, was du da hast, Clemens, weißt du das? Das ist auch ein innerer Konflikt. Du bist innerlich gefangen, und zwar von deiner Mutter. Sie hat Angst, dass dir etwas zustoßen könnte, und packt dich deshalb in Watte. Aber in dir drin spürst du, dass das falsch ist, nicht wahr? Weil man im Leben Dinge tun und auch an sich heranlassen muss. Man muss Erfahrungen machen. Und manchmal muss man dabei auch Schaden nehmen, das ist in Ordnung. Sonst macht einen das irgendwann sehr krank, immer unterdrückt zu sein.
So wie deine Kraft. Das, was deine Mutter mit dir macht, machst du mit deiner Kraft. Denn du bist viel stärker, als dir eingeredet wird und du es selbst glaubst, Clemens. Doch Du sagst deiner Kraft immer, sie wäre nicht da und unterdrückst sie. Aber manchmal bricht sie von selbst durch, stolpert, und es passiert so was wie eben. Aber hör jetzt auf, sie wieder zu unterdrücken. Du bist stark und du bist jetzt, genau in diesem Augenblick, hier, in dieser Zelle. Du kannst handeln wie jeder andere. Also lass deine Kraft raus...!“
Clemens schaute auf den Inhalator in seiner Hand hinunter und ließ ihn los. Er versuchte zu schreien, doch nur ein kümmerlicher Laut verließ seine Lippen. Er versuchte es noch einmal. Zuerst klang der Schrei zögerlich, doch dann wurde er immer lauter und kraftvoller, bis sie alle staunten, wie ein derart mächtiger Laut aus ihm kommen konnte. Clemens stand auf und hieb mit beiden Fäusten auf den Tisch, rumms! Sie sahen die Sehnen an seinem schmächtigen Körper hervortreten. Noch einmal: Rumms!
„Ja, gut so!“, rief der Mann.
Dann verebbte der Schrei, und Tränen rannen Clemens’ Gesicht hinab.
„Das ist es, spürst du’s?“, fragte der Mann leise. „Du bist nicht schwach, nicht zart, nicht empfindlich, oder was sie sonst vielleicht sagt. Zumindest nicht mehr als andere.“ Und damit drehte er sich um, schlug die Tür zu und schloss ab.
Nico und Daniel traten zu ihrem Freund und Nico legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Alles in Ordnung?“, fragte er. Clemens sah sie an, und auf einmal wirkte er älter.
„Ja. Alles klar. Er… er hat irgendwie recht.“
Nico glaubte, es nicht mehr länger aushalten zu können. Seit sie der Mann wieder allein gelassen hatte, war er auf und ab gegangen – nur so ließ sich der Druck in seinem Unterleib halbwegs ertragen. Er hatte nachgeschaut, ob vielleicht ein offenes Rohr in die Wand führte, wo die Toilette gewesen war, in das er hätte hineinpinkeln können, doch das war nicht der Fall. Dann hatte er überlegt, ob er einfach in eine Ecke machen sollte. Doch das würde stinken und außerdem würde er dabei wahrscheinlich den ganzen Boden unter Wasser setzen.
Er ging zur Tür und hämmerte mit der Faust dagegen.
„He!“, rief er, „He, Sie!“ Nach einem Moment wurde die Tür geöffnet und der Mann stand davor.
„Was ist?“
„Ich muss ganz dringend pinkeln, ehrlich, darf ich kurz in eine andere Zelle und die Toilette benutzen? Bitte!“ Der Mann sagte:
„Du bist jetzt Gefangener in einem Gefängnis, begreifst du das nicht?“, und verschloss die Tür wieder.
„Aber-“, rief Nico und schlug noch einmal gegen die Tür, doch er vernahm nur die leiser werdenden Schritte des Mannes.
Inzwischen war es fast dunkel und kühler in der Zelle.
Der Druck auf Nicos Blase hatte zum Glück etwas nachgelassen. Es war, als hätte sein Körper das Bedürfnis vorerst eingestellt, weil er begriff, dass er nicht so bald auf eine Toilette gesetzt werden würde.
Sie hatten kaum geredet; Clemens war sehr nachdenklich und Daniel hatte sich scheinbar mit der Situation abgefunden. Irgendwann hatte Clemens sich auf das Bett gelegt, wohin ihm erst Daniel und schließlich auch Nico gefolgt waren. Nun lagen sie hier eng nebeneinander auf der Matratze und hingen ihren Gedanken nach.
Nico dachte an seine Eltern. Sicher waren sie noch wach und machten sich Sorgen um ihn. Bestimmt hatten sie mit Clemens’ Mutter und Daniels Eltern telefoniert und erfahren, dass sie ebenfalls nicht nach Hause gekommen waren. Vielleicht saß seine Mutter jetzt gerade auf dem Sofa im Wohnzimmer und weinte, während sein Vater ihr den Rücken streichelte. Ob sie wohl schon bei der Polizei angerufen hatten?
Was würden seine Helden jetzt an seiner Stelle tun?
Wie würde sich der vernünftige Qui Gon Jinn verhalten? Wahrscheinlich würde er seine Kräfte schonen, auf die Macht vertrauen und auf eine gute Gelegenheit warten, zurückzuschlagen.
Sie mussten morgen etwas vorbereiten. Sich neben der Tür aufstellen und über den Kerl herfallen, wenn er sie das nächste Mal öffnete, oder so etwas…
Schließlich schliefen die Jungen ein.
Nico erwachte - ein Geräusch hatte ihn geweckt. Er richtete sich auf und lauschte eine Weile, konnte jedoch nichts außer dem gleichmäßigen Atmen seiner Freunde hören. Er verdrehte den Kopf und sah sich um. Zuerst fiel es ihm gar nicht auf, und er wollte seinen Kopf schon wieder sinken lassen, als er noch einmal herumfuhr und die Tür anstarrte.
Die angelehnte Tür.
„Daniel! Clemens!“, flüsterte er und rüttelte sie an den Schultern.
„Mh…“
„Was’n los?“
„Pst, leise, die Tür ist offen!“, raunte er.
„Was?!“ Sie richteten sich auf.
„Tatsächlich. Wa-“
„Lasst uns schnell hier abhauen!“
„Okay...“ Flink und leise näherten sie sich der Tür. Nico zog sie auf und schaute nach rechts und links. Das Sternen- und Mondlicht erhellte die Konturen ausreichend - es war niemand zu sehen.
„Los!“, flüsterte er, und sie schlüpften aus der Zelle. Mit bloßen Füßen flitzten sie durch den Zellentrakt und einen weiteren Flur. Jetzt befanden sie sich im Treppenhaus. Sie liefen drei Stockwerke hinab, so viele waren sie letzten Endes über der Erde, hatte sich Nico gemerkt, und irrten wieder durch einige Gänge.
Schließlich huschten sie durch die schwere Gittertür und an den Büros vorbei bis in die Eingangshalle. Dort lagen drei kleine Haufen: ihre Sachen! Schuhe, Hosen und T-Shirts, und daneben der Kleinkram aus ihren Taschen. Schnell zogen sie sich an. Es war ein gutes Gefühl, wieder Kleidung zu tragen.
„Mein Portmonee fehlt“, wisperte Clemens.
„Und mein Taschenmesser“, fügte Daniel an.
„Vergesst das Portmonee und das Messer“, antwortete Nico. „Raus hier!“
Sie schlüpften durch die Eingangstür und erwarteten halb, den Mann grinsend unten an den Stufen stehen zu sehen, bereit, sie abzufangen, doch er war nicht da. Sie liefen die Treppe hinunter in den Mondschein und dann um das Gebäude herum in das ungepflegte Gelände hinein.
„Stopp“, raunte Nico, als sie auf der Höhe eines der wenigen Bäume waren. „Ich muss pinkeln!“ Aus Daniels Kehle kam ein leises, zögerliches Lachen, und Clemens und Nico stimmten ein.
„Haltet Ausschau, ich beeil mich“, sagte Nico, während er seine Hose öffnete. Die Erleichterung, die er empfand, als sein Urinstrahl auf die Baumrinde prasselte, war so groß, dass seine Knie weich wurden, er sich auf sie niederließ und sich mit einer Hand am Baumstamm abstützte.
„Aaah…“
Daniel und Clemens kicherten, während sie die Umgebung im Blick behielten. „So dringend musste ich in meinem ganzen Leben noch nicht, ich sag’s euch“, seufzte Nico.
Als der Strahl endlich schwächer wurde und versiegte, fühlte es sich an, als sei ein großer Stein aus seinem Unterleib verschwunden.
Erst jetzt nahm Nico das laute, vielfache Rasseln der Grillen wahr, und den Mondschein, der einen silbernen Schleier auf die Gräser, Büsche und Bäume wob. Er hatte sich noch nie freier gefühlt.
Sie zwängten sich durch das Loch im Zaun und liefen dann weiter durch den Wald. Die Orientierung fiel ihnen nicht schwer, es war hell genug.
Ihre Räder waren noch da, wo sie sie versteckt hatten. Sie aus dem Gebüsch hervorzuholen war ein bisschen, wie Geschenke an Weihnachten auszupacken.
Holpernd arbeiteten sie sich zwischen den Bäumen hindurch, bis sie auf den Weg trafen, und ab da kannten sie kein Halten mehr: Sie traten so fest in die Pedale, wie sie nur konnten und rasten durch den nächtlichen Wald.
Sie trennten sich mit dem Versprechen, sich so bald wie möglich wiederzusehen, und legten jeweils den Rest ihres Nachhausewegs zurück.
Schließlich steckte Nico seinen Schlüssel in die Haustür, doch noch bevor er sie ganz geöffnet hatte, wurde sie aufgerissen und seine besorgten Eltern standen vor ihm im hell erleuchteten Flur.
„Oh mein Gott, Nico!“, schluchzte seine Mutter und schloss ihn in die Arme. Auch sein Vater drückte ihn.
„Alles in Ordnung mit dir, mein Sohn?“
„Ja, Papa.“
„Was ist denn bloß passiert?“, fragte seine Mutter aufgelöst.
„Setzen wir uns erstmal“, sagte sein Vater. Und dann erzählte Nico alles. Wie er bei seinen Nachforschungen auf die JVA gestoßen war, wie er mit Clemens und Daniel hingefahren war, um sie sich anzusehen, von dem seltsamen Mann, der sie eingesperrt hatte-
„Wie bitte, ihr musstet euch ausziehen?“, fragte seine Mutter fassungslos. „Um Himmels Willen, hat er euch … irgendwie berührt?“
„Berührt? Nein, er hat mir eine gelangt und Daniel einmal getreten und ihm aufgeholfen, das kommt gleich, aber-“
„Der hat euch verprügelt?!“, rief seine Mutter aus.
„Nein, Mama, lass mich doch erzählen…“
„Lass ihn ausreden, Schatz“, sagte auch sein Vater, und Nico berichtete weiter; von Daniels Liegestützen und Clemens’ Asthma-Anfall-
„Großer Gott, der Junge hätte sterben können!“, rief Nicos Mutter aufgebracht, doch Nico wiegelte wieder ab:
„Nein, nein, der Mann hat uns gleich den Inhalator gegeben, und dann ging es Clemens wieder besser, und dann hat der Mann gesagt, dass Clemens auch einen innerlichen Konflikt hat, weil seine Mutter ihn in Watte einpackt, und dann hat Clemens geschrien und auf den Tisch gehauen, und ich glaube, das hat ihm irgendwie gut getan…“ Seine Eltern warfen sich einen perplexen Blick zu, doch Nico plapperte weiter; wie er so dringend hatte pinkeln müssen, aber nicht durfte, wie sie eingeschlafen waren und er später aufgewacht war und bemerkt hatte, dass die Zellentür angelehnt war, und wie sie dann ihre Sachen vor der Eingangstür gefunden hatten und durch den Wald nach Hause gefahren waren.
Als er fertig war, telefonierte sein Vater mit der Polizei.
Zwanzig Minuten später trafen sie sich alle auf der Polizeiwache, die Eltern erleichtert, die Jungen aufgeregt.
Sie wurden von einem Polizisten namens Lohmann begrüßt. In seinem Gürtel steckten Handschellen und – soweit die Jungen das beurteilen konnten – eine echte Pistole.
Er führte sie in einen Raum mit einem Tisch und Stühlen. Als sie alle saßen, legte Lohmann einen Block vor sich, nahm einen Stift zur Hand und bat die Jungen, alles noch einmal von vorne bis hinten zu erzählen. Und das taten sie.
Nico begann, und sie wechselten sich ab oder ergänzten sich gegenseitig. Lohmann schrieb mit und bat Clemens’ Mutter, die als einzige den Bericht der drei immer wieder mit Ausrufen wie „Unglaublich, dass so etwas heutzutage passieren kann!“, oder „Mein armer Junge, sehen sie ihn sich bloß an, ganz verstört ist er…“ unterbrach, still zu sein und die Jungen erzählen zu lassen.
Von der Stelle mit seinem Asthma-Anfall ließ Clemens einiges aus. Er wechselte dabei einen Blick mit Nico und Daniel, und sie verstanden.
Als sie fertig waren, erkundigte sich Lohmann noch einmal nach dem Aussehen des Mannes und den fehlenden Gegenständen; dem Portmonee und dem Taschenmesser. Danach gab er ihnen allen die Hand, bedankte sich bei den Jungen, sagte, sie hätten das prima gemacht und versprach, dass die Suche nach dem Mann sofort anlaufen werde und es wahrscheinlich nicht lange dauern würde, bis er gefasst sei.
„Und bis dahin wird mein Junge nicht das Haus verlassen!“, rief Clemens’ Mutter, bevor sie ihren Sohn mit sich zerrte. Clemens sah seine Freunde mit diesem entschuldigenden Blick an, den er meistens hatte, wenn sie dabei war.
Nico, Daniel und ihre Eltern verabschiedeten sich vor der Wache und machten sich auf den Rückweg.
Im Auto merkte Nico, wie müde er war.
Am nächsten Nachmittag, es war Samstag, rief Lohmann an. Der Mann war noch in der Nacht in der JVA geschnappt worden. Er hatte das Portmonee und das Taschenmesser bei sich gehabt und auch gestanden, die Jungen in die Zelle gesperrt zu haben. Heute Mittag war die Vernehmung gewesen, und Lohmann bat sie nun noch einmal alle zur Wache.
Sie fanden sich alle in demselben Raum wie am Vortag ein.
Lohmann schlug einen Block auf und begann zu berichten:
„Also. Der Mann, dem ihr da begegnet seid, ist ein ehemaliger Gefangener.“ Clemens’ Mutter stieß einen erschrockenen Laut aus, und Lohmann warf ihr einen kurzen, scharfen Blick zu. „Den Großteil der Zeit, die er abzusitzen hatte, verbrachte er in der JVA.
Nach seiner Entlassung hatte sich alles verändert. Er hatte keine Freunde mehr, seinen Job machte inzwischen ein anderer, und seine Wohnung war weitervermietet worden.
Der Mann suchte sich einen neuen Job und eine neue Wohnung, und versuchte, so zu leben, wie er es vor seiner Inhaftierung getan hatte. Leider klappte das aber nicht so richtig.
Wisst ihr, im Gefängnis hatte es feste Regeln und Zeiten gegeben, zum Beispiel zum Essen oder zum Rausgehen. Außerdem hatte der Mann dort die anderen Häftlinge gekannt und auch Freunde unter ihnen gehabt. Jetzt hatte er das alles plötzlich nicht mehr. Er sehnte sich also, auch wenn das komisch klingt, nach dem Leben im Gefängnis zurück. Deswegen fing er an, die JVA zu besuchen. Da ist er dann herumgelaufen und hat an die Zeit zurückgedacht, die er dort verbracht hat.
Tja, und bei einem seiner Besuche seid dann ihr aufgetaucht.“ Lohmann blätterte weiter.
„Der Mann hat gesagt, dass er sich durch euch gestört gefühlt hat. Er sagte, ihr wärt da gewesen, um zu sehen, wie Verbrecher dort gelebt haben…“
„Ja, das stimmt, das habe ich gesagt“, sagte Nico. Lohmann nickte. „Daraufhin hat er beschlossen, euch zu zeigen, wie es in einem Gefängnis tatsächlich läuft, wie es einem da geht, wie man behandelt wird, und zwar um euch dadurch klarzumachen, dass das kein Spaß ist, und auch kein Ort für irgendwelche Mutproben oder abenteuerliche Unternehmungen.
Außerdem“, fuhr Lohmann fort, „so hat er es ausgedrückt, wollte er euch Gefängnisse zeigen, die ihr vielleicht in euch selbst habt.“ Die Jungen dachten einen Moment lang darüber nach und glaubten zu verstehen.
„Der Mann hat eingesehen, dass die Art, wie er das gemacht hat, ganz und gar nicht in Ordnung war. Er sagte, dass es ihm leid tut…“ Clemens’ Mutter machte „Ts“, „… und er hofft, dass ihr ihm das nicht allzu übel nehmt.“ Lohmann schloss den Block.
„Kommt er jetzt ins Gefängnis?“, fragte Clemens.
„Das ist noch nicht raus, aber ich denke, ja“, antwortete Lohmann. „Nötigung, leichte Körperverletzung und Freiheitsberaubung“, zählte er an seinen Fingern ab, „Und die Tatsache, dass er schon mal im Gefängnis war – ja, ich denke, er kommt rein. Aber wahrscheinlich nicht für allzu lange, es ist ja Gott sei Dank nichts wirklich Schlimmes passiert…“ Clemens’ Mutter machte wieder „Ts“.
Lohmann redete noch ein wenig mit ihren Eltern, doch das Wichtigste war gesagt.
Schließlich verabschiedete Lohmann sie und sagte zwinkernd an die Jungen gewandt:
„Und in Zukunft haltet ihr euch von geschlossenen Einrichtungen fern, klar?“ Sie versprachen es ihm.
In der Schule waren sie für eine Woche lang Helden. Die Geschichte, die ihnen passiert war, verbreitete sich schnell, und in den Pausen mussten sie alles immer wieder erzählen und wurden ehrfürchtig angestarrt. Die nervigen Mädchen, Sophia und Anna, taten das nur noch aus der Ferne, es schien, als trauten sie sich nicht mehr an sie heran.
Schließlich war er da, der letzte Schultag. In der vierten Stunde gab es Zeugnisse – ohne große Überraschungen – dann war Schluss, und das laute, penetrante Klingeln wurde noch von dem Gejubel der Schüler übertönt. Vor der Schule herrschte Aufbruchsstimmung; da standen lauter Eltern, die ihre Kinder abholten. Die Jungen verabschiedeten sich mit dem ‚Möge die Macht mit dir sein’-Gruß.
Nico fuhr mit seinen Eltern an die Ostsee, Daniel in den Schwarzwald, und Clemens an den Bodensee.
Nico dachte am Strand ab und zu an ihr Erlebnis im Gefängnis zurück und fragte sich, ob sie nicht, anstatt wie Han, Chewie, Luke und Leia in der Müllpresse, eher wie Luke gewesen waren, der mit R2 auf dem Sumpfplaneten Dagobah gelandet und Yoda begegnet war, den er jedoch erst nicht als den Jedimeister erkannt hatte…
Naja, ein bisschen vielleicht.
Als sie alle wieder zu Hause waren, redeten sie noch einmal über ihr Abenteuer, doch es kam ihnen jetzt so vor, als läge es schon Jahre zurück.
Am ersten Tag des neuen Schuljahres verbrachten ein paar Jungen die Pausen damit, auf den Fluren kleine bunte Plastikfiguren so nah wie möglich an die Fußbodenleisten über das Linoleum schlittern zu lassen. Derjenige, dessen Figur am dichtesten an der Leiste lag (ohne diese jedoch zu berühren), gewann die Figuren der anderen Spieler.
Die Gogo-Ära war angebrochen…