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Gefährten
„Das Kind personifiziert Lebensmächte jenseits des beschränkten Bewusstseinsumfangs... Es stellt den stärksten und unvermeidlichsten Drang des Wesens dar, nämlich den, sich selbst zu verwirklichen.“
- Carl Gustav Jung
Schon seit Stunden irrte sie durch diesen Frühlingstag. Ziellos, einzig auf der Suche nach ein wenig Zerstreuung. Sie war verlassen worden. Wieder einmal. Auch er war nicht bereit ihr zu geben, was sie so nötig brauchte. Sie sehnte sich danach zu spüren, dass sie liebenswert und genug war. Daran scheiterte es immer. Und daran, dass sie jede noch so kleine Kritik als Kränkung empfand. Der körperliche Schmerz, der sich dadurch in ihr eingenistet hatte, wollte auch jetzt nicht verschwinden. Sie wurde langsam müde und musste sie sich dringend setzen. In der Nähe sah sie ein Bushäuschen. Dankbar setzte sie sich auf die verwitterte Holzbank. Teilnahmslos überflog sie die obligatorischen Liebesschwüre um sie herum, welche vermutlich Jugendliche in das Holz geritzt oder darauf geschrieben hatten. Es war still, nur in der Ferne hörte sie eine Schulglocke läuten.
Es dauerte nur wenige Augenblicke und die Stille wurde durchbrochen. Einige Kinder versammelten sich plappernd an der Haltestelle. Sie wäre gerne gegangen, es wurde ihr zu laut. Sie wusste weder wohin, noch wozu. Also blieb sie sitzen und bemerkte ein Schauspiel, welches sie seltsam erheiterte. Immer wieder kamen Kinder in das Bushäuschen, betrachteten sie mit düsterer Miene, musterten sie, maßen mit ihren Blicken das Bänkchen aus. Kamen dann wohl zu dem Schluss, dass der übrige Platz zu klein sei, die Distanz zu gering und machten auf dem Absatz kehrt und plapperten vor dem Häuschen weiter. Ihr fiel auf, dass ihr das recht war. Sie mochte Kinder nicht sonderlich. Sie neidete ihnen ihre Sorglosigkeit, die unzähligen Möglichkeiten, die sich ihnen noch boten. Sie waren unverbraucht und ihr irgendwie zu rein. Die Gesellschaft von Kindern wurde ihr auf Dauer zuwider.
Der Junge der nun in das Häuschen trat war nicht Teil dieses Schauspiels. Durchbrach das ihr gelegen kommende Muster. Er schlurfte näher und setzte sich mit einigem Abstand auf die Bank. Einfach so. Es irritierte sie. "Wenigstens hatte er niemanden dabei mit dem er plappern konnte", dachte sie bei sich. Sie hoffte darauf, dass der Schulbus ihn gleich dort wegbewegen würde. Ihr wurde unbehaglich. Er saß einfach da. Unbeschäftigt. Daran, dass die anderen Kinder sich in so etwas wie einer Reihe aufstellten, wusste sie, dass der Bus sich näherte. Aus dem Augenwinkel erwartete sie, dass ihr ungebetener Gast aufstehen und sich nach seiner Fahrkarte kramend, zu den anderen gesellen würde. Er blieb regungslos. Sie dachte daran, weiter zu gehen. Verlegen betrachtete sie ihn. Wo er wohl hin wollte? Eigentlich konnte ihr das egal sein, es betraf sie nicht. Aber er sah traurig aus. Seine Kleidung wirkte liederlich, abgetragen. Er hatte die Füße auf dem Bänkchen, die Beine ganz nah an seinen Oberkörper und die Arme eng um seine Knie geschlungen. Sie sah den Dreck unter seinen Fingernägeln und auch seine Schuhe waren dreckig und zerschlissen. Vorsichtig lenkte sie ihren Blick auf das Gesicht des Jungen. Seine Augen hatten etwas Niedergeschlagenes, etwas, das unter seine Oberfläche zu reichen schien. Er hatte den Blick gesenkt, schien seine Schuhe zu fixieren. Sein Mund war lediglich eine kleine unbedeutende Linie. "Was brachte ein Kind denn in eine solche Stimmung?", begann sie zu überlegen. In einem Anflug von Ironie dachte sie darüber nach, ob seine Lieblingssüßigkeit wohl ausverkauft wäre.
Sie fühlte plötzlich eine heftige Wut über diesen Gedanken. In ihr erwachte eine leichte aber kaum zu ignorierende Solidarität. Vielleicht war er ebenso verlassen, wie sie selbst. Ihr fiel auf, dass sie ebenso reglos verharrte, wie er. Auch sie fühlte sich als Kind verlassen, war verlassen worden, schon damals. Gefühle der kindlichen Hilflosigkeit wurden in ihr wach. Trauer und Wut bahnten sich ihren Weg durch die Zeit in ihr erwachsenes Leben. Sie zog die Beine eng an ihren Oberkörper, stellte die Füße auf das Bänkchen und schlang die Arme um ihre Knie. Alte Erinnerungen wurden wach. Stimmen der Vergangenheit wurden lauter. Sie wurde sich der existenziellen Angst bewusst, die sie als Kind erlebte, begleitet von den Gesichtern, die diese Angst hervorriefen. Ihr Herz verengte sich und sie begann still zu weinen. Als sie von der aufbrechenden Hoffnungslosigkeit beinahe übermannt wurde, wurde sie sich des Bushäuschens bewusst.
Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und erlangte ihre Fassung wieder. Verstohlen sah sie zu dem Jungen, hoffte, dass er es nicht bemerkt hatte. Er hatte seine Position allerdings verändert. Nun baumelten seine Beine in einem langsamen Rhythmus kurz über dem Boden. Den Kopf hielt er nun aufrecht und ein kleines und versonnenes Lächeln umspielte sein Lippen. Verwundert über diesen Sinneswandel schaute sie auf seine Hände. Darin befand sich nun ein kleiner Plüschdelphin. Mit zärtlichen und behütenden Fingern hielt er ihn fest, ließ ihn damit über imaginäre Wellen hüpfen, streichelte über Flossen und Bauch. Es schien, als habe der Delphin eine neue Leichtigkeit, neue Freude in die Züge des Jungen gehaucht. Ganz entrückt beschäftigte er sich mit dem Plüschtier und ließ dabei doch eine gewisse Sensibilität erahnen.
Von diesem Bild ließ sie sich vereinnahmen, schaute einfach zu und ließ die Sanftheit dieses Spiels auf sich überschwappen. Sie fühlte die Kraft in sich zurückkehren. Gerne hätte sie dem Jungen zum Abschied etwas gesagt, ihn auf irgendeine Weise berührt. Doch sie stand einfach auf, verließ das Bushäuschen. Draußen sog sie die blumige Luft des Frühlings tief ein. Sie spürte den großen Drang etwas nachhaltig zu verändern. Jetzt wollte sie nach etwas suchen. Etwas, was ihr lange gefehlt hat und sie an etwas erinnern sollte. Glücklicherweise befand sich ganz in der Nähe ein Spielwarenladen.