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Gedeons Verfall
Golden glänzte der Ring am Finger Gedeons.
Mehr als einmal hatte er sich gefragt, warum die Menschen immer noch an diesem alten Ritual festhielten. In der heutigen Welt, da alles elektronisch gespeichert, verarbeitet oder verworfen wurde, erschien dieses polierte Stück Edelmetall an seiner Hand überflüssig. Der Ring war nicht mehr als das Symbol einer Antwort, welche vor langer Zeit auf eine Frage gegeben wurde - ein zumeist leicht dahin geworfenes Wort, welches zwei Menschen in Jugend und Alter verband. Warum zwang dieser Ring einen mehr als alles andere Zeit eines Lebens?
„Werden Sie zurecht kommen?“, fragte einer der Abholer während er den bleiernen Sarg mit kurzen Anweisungen seiner rechten Hand geschickt zwischen den Möbeln ihres Wohnbereiches hindurch leitete. Gedeon nickte. Der Chip in seiner Tasche brannte wie Feuer.
Während er den Ring stetig drehte, dachte er über diese Dinge nach.
Ein Leben gemeinsam.
Ewige Treue.
Warum dachte man vor dem endgültigem ‚Ja’ nie darüber nach, was nach den ersten glücklichen und gesunden Lebensjahren folgen musste? Was mit jedem geschah, was jeden veränderte, mochte man noch sehr von Gott beschenkt worden sein.
Wahrscheinlich tat man das – und verdrängte es. Unzählige Generationen vor ihm hatten den eigenen körperlichen und geistigen Verfall und vor allem den des Ehepartners durchlebt. Wie er es bei seinen Eltern mit hatte ansehen müssen.
Immer wieder hatte er sich gefragt, wie sein Vater seinen unbedingten Glauben an das Leben bewahren konnte, als Gedeons Mutter nach nicht einmal einhundert Jahren zum Pflegefall wurde. Wie er lachend mit der Tatsache leben konnte, dass sie wie ein Kleinkind versorgt werden musste. Wo war der verdammte Fortschritt in diesem Bereich nur hängen geblieben?
Unwillkürlich strich er sich über die Augen und konzentrierte seinen Blick auf die kleine Wohnung, in der sie bis heute Vormittag über siebzig Jahre zusammen verbracht hatten: Das himmelblaue Sofa, welches Meyla mit in die Ehe gebracht hatte und das sie – zur Freude eines bekannten Restaurators - nie gegen ein neues getauscht hatten. Die Bilder von Friedrichs und David, die Meyla und er liebten; damalige Epochen beschwörenden Träume, in denen Menschen noch in großen Schiffen aus Holz die Ozeane überquerten und darin vergingen.
Gedeons Blick wanderte weiter zu dem einzigen Fenster ihrer Parzelle, während er seinen Daumen auf den Scanner der Auftragsbestätigung drückte, die der Abholer ihm wortlos hingehalten hatte. Für das Fenster hatten sie mehr Geld lassen müssen, als für die gesamte restliche Einrichtung. Aber das war es ihm wert gewesen, denn er hatte es immer geliebt, ihr schönes Gesicht lachen zu sehen.
Das Fenster gab einen weiten Blick über die Ebenen vor der Stadt frei und man konnte wie mit einem Fernglas die Ansicht vergrößern; so war es möglich, dass Meyla bis weit hinaus auf den Ozean blicken konnte, welchen sie so geliebt hatte und an den sie nur so selten hatten reisen können. An vielen Tagen hatte er die Weite des Horizonts in ihren Augen erhaschen und sich daran erfreuen können. Vor ein paar Jahren hatten sie sich dann noch einen speziellen Chip leisten können, der verschiedene Epochen des Ortes simulierte, der durch das Fenster zu sehen war. Viele Nächte lang hatte sie gemeinsam die Bilder der Dörfer und Orte betrachtet, die Heimat früherer Generationen gewesen waren und sich an deren Einfachheit und Natürlichkeit erfreut. Gedeon hatte es immer wieder erstaunt, wie Vergangenes auf elektronischem Wege so perfekt erhalten werden konnte.
Und irgend wann hatte er von diesen Chips gehört.
Den verbotenen Chips.
Die Abholer hatten ihre Wohnung verlassen. Gedeon war ihnen zur Tür auf den Flur gefolgt und sah dem Sarg hinterher, verfolgte dessen gemächlichen Weg in den großen Container, welcher tagtäglich das beinahe unendliche Grau der Parzellenreihe im zweihundersten Stock abfuhr und nun einen weiteren alten Körper mit sich nahm. Neben ihm öffneten sich die Türen mehrerer Wohnungen und die Hologramme der Bewohner schwebten in den leeren Raum, verneigten sich vor ihm und sprachen Trauer aus. Ihre Gedankenfetzen
noch so jung so gesund gestern noch voller Leben ein besondere Mensch
strömten in sein Hirn und leiser Argwohn erwachte. Wusste wer Bescheid? Hatte ihn wer gesehen – oder war gar noch wer in den Slums ganz unten gewesen als er den Chip gekauft hatte? Wohl kaum. Wie wäre das schon möglich gewesen? Nicht einmal Meyla hatte es bemerkt.
Gedeon nickte trotzig zurück und zog sich in seine Parzelle zurück. Seine Tür füllte langsam den Raum hinter ihm. Er wandte sich um und sah, dass sie die Farbe der Trauer angenommen hatte. Niemand, der ihn in nächster Zeit besuchen würde. Was gut war.
Gedeons Hand zitterte. Nichts mehr von der gespielt verzweifelten Ruhe, mit der er den Ring an seinem Finger gedreht hatte.
Gleich war es soweit. Der Chip zitterte in seiner Hand, beinahe, als brauchte er einen Steckplatz, als drängte es ihn nach der Verbindung mit Fleisch. Gedeon würde Vergangenheit erleben, einen Zeitraum zur Verfügung haben, der so lange schon verstrichen war. Einen Zeitraum vor dem Verfall.
Er strich sich durch das volle, weiße Haar, hielt dann die Hand vor sein Gesicht und betrachtete den feinen Schlitz an seinem Handgelenk.
Er konnte sich ein Leben ohne diese bioelektronische Schnittstelle kaum vorstellen. Durch sie hatte er viel erlebt und erfahren. Abgesehen von den vielen Schulstunden, in denen er den Inhalt unzähliger Bio-, Physik- und andere Lernchips gierig aufgesogen hatte, hatte er dank des Slots viele Orte und Taten gesehen, die der Menschheit zum Ruhm reichten. Die erste Mondlandung, die Grundsteinlegungen orbitaler und lunarer Städte, die Besiedlung der inneren Planeten oder deren Monde. Die globale Vereinigung der Weltmächte. Schauspiele großer Geister.
Illegal hatte er auf diese Weise aber auch viele Dinge erfahren, die ihn zu dem zynischem Menschen gemacht hatten, der er heute war. Annektierung der Drittweltländer, gentechnische Reinigungsaktionen in sogenannten Krankenhäusern, Ruhigstellung kritischer Stimmen durch Manipulation von medizinischen Implantaten - kaum etwas war dank der heutigen Technik nicht mehr machbar. Und wer konnte sich schon dagegen wehren?
Es war, als würden sich die Menschen mit den stetig vollkommender werdenden Wissenschaften all ihrer Unvollkommenheiten schon im Vorfeld entledigen wollen; mit allem Fortschritt wurden Missstände immer kurzlebiger und angesichts der vielen Möglichkeiten ihre Ausrottung immer selbstverständlicher und banaler – er hatte es heute selbst bewiesen. Gedeon empfand eine kurze Abscheu vor dem Menschen, vor sich selbst, wischte sie dann aber fort. Er hatte es getan, weil es möglich war und er war sicher nicht der erste, der davon Gebrauch gemacht hatte. Das Mögliche rechtfertigte sein Tun. Sicherlich. Hatte es in der Geschichte immer getan.
Er schob die flache Scheibe in seinen fleischigen Slot; die Schnittstellen fassten ineinander, künstliche Reize jagten von Nerv zu Nerv, überrannten sein Gehirn und die Vergangenheit lebte auf.
Zuerst die jüngste.
Vor seinen Augen entstand eine Szene in ihrem Wohnbereich. Meyla lag auf dem Sofa, sah aus ihrem gemeinsamen Fenster und er näherte sich ihr, strich ihr sanft über die alternde Haut ihres Halses und ihrer freien Schulter. Sie streckte sich der Bewegung entgegen und genoss ganz offen das Gefühl von Partnerschaft und langjähriger Vertrautheit. Kerzenlicht schimmerte, ein weiteres altes und romantisches Relikt. Sie hatte es gern so. Schatten und Licht folgten fließend seiner Hand und wie eine samtene Welle verband sich Gedeons Blickfeld mit ihrem, tauchte seine Gefühlswelt in ihr Empfinden und durch ihre Augen sah er seinen Körper noch immer als die Schönheit, die sie an ihm fand und welche sie nie zu sehen verlernt hatte. Zeit verstrich.
Wieder in der Rolle des Beobachters sah er sich sanfte Kreise von ihrer Schulter hinunter zu ihrer Hand ziehen, sah sie ihre Augen schließen, sah sie lächeln. Er erinnerte sich daran, wie er jede Falte, jede raue Stelle mit bestürzter Genauigkeit erfühlt hatte. Wie das Licht der Kerzen die Furchen ihres Gesichts in Schatten getaucht und sich in den Rissen der Krähenfüsse um ihre Augen fing. Ihr Körper endete langsam.
Er war ihm wieder bewusst, wie die Panik ihn ein letztes Mal mit aller Gewalt überflutet und sich die Hand um den Chip in seiner Tasche fester geschlossen hatte. Sein gutes Herz kämpfte mit der Kraft seiner Ängste und seines Verlangens, die bittere Hoffnung, dass sich Körper, aber nicht Seele ändern würde stand gegen die erschreckenden Bilder, welche er von seiner Mutter und seinem hilflos lachenden Vater behalten hatte. Hatte er Meyla nicht ein Leben lang Treue geschworen? Doch die letztendliche Entscheidung war schon lang zuvor in seinem Leben gefallen.
Ihr Körper verkrampfte sich, als er den Chip in ihren Slot zwang. Er sah, wie ihr Blick den seinen suchte und er sich abwandte. Doch als der unbeteiligte Beobachter, der er nun war, erkannte er die Frage in ihren sterbenden Augen als das Vertrauen verraten wurde und der Chip von ihr nahm, was er brauchte, um zu funktionieren. Auf dem blauen Sofa, das Handgelenk noch immer mit der einen Hand umklammert, zitterte Gedeon und klagte leise und wortlos. Niemand hatte ihm von diesem Vorspiel erzählt. Er weinte, doch der Versuch, den Chip aus seinem Slot zu ziehen, war bei weitem zu schwach und die Gier nach dem Vergangenem siegte ein weiteres Mal und so schloss er die Finger zur Faust. Spürte den Schmerz. Und dann kamen
die alten Erinnerungen.
Meyla schwebte vor ihm, in schwaches Weiß gehüllt. Sie tanzte den Tanz ihrer ersten Begegnung, damals, als sie und er noch jung und über den Rand hinaus von frischem Leben erfüllt gewesen waren. Durch ihre Bewegungen hindurch konnte er die Umrisse seiner einsamen Parzelle erkennen. Nur hatte diese Wirklichkeit ihrem Bild nichts entgegen zu setzen. Meylas Haut leuchtete. Ihre Haare schwebten über den sanften, vollkommenen Formen ihres Gesichts. Und sie sah so jung aus. Und Gedeon war wieder verliebt.
Meyla tanzte den Tanz ihrer ersten intimen Begegnung, verlor sich in tiefen, in damals neuen Berührungen. Er jauchzte und seine Gefühle schlugen über, wie er es lange, lange Zeit nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Und er fühlte ihre Arme, die ihn auf dem einsamen Sofa zu umschlingen versuchten und doch nur Luft erreichten. Gedeon wollte sie halten, wollte diesen Moment noch einmal mit ihr teilen, doch diese Intimität, diese Erinnerung war nur für seine Augen gedacht und das Bild verblasste im Raum. Kurzer, heftiger Verlust, doch dann tanzte Meyla einen nächsten Schritt und er verspürte ihre Erregung der ersten Empfängnis. Ein einmaliges Vergnügen, dass weit über alles andere hinaus ging, eine ganz andere, ganz neue Form und ein nie tieferes Empfinden von Vertrauen und Zusammengehörigkeit. Gedeon erfuhr, dass sie nie mehr Liebe in ihrem Leben empfunden hatte und dass es ihr Leben für immer verändert hatte und er war überwältigt von dieser Flutwelle, von diesem Kometenschweif kostbarer, nie gekannter Erfahrungen.
Keine Zeit, nur einen getanzten Schritt weiter durchfuhren ihn die Schmerzen der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter. Was für Schmerzen. Und doch fühlte Meyla Erfüllung in ihnen. Als Bestätigung ihrer Verbundenheit konnte sie diese Schmerzen rechtfertigen und ertragen. Gedeon konnte es nicht. Es tat so weh und er erkannte kaum ihren nächsten Tanzschritt. Sein Körper wand sich auf dem himmelblauen, auf dem so einsamen Sofa inmitten der einsamen Parzelle.
Sie tanzte weiter und er wollte sie anflehen, es bei den ersten Schritten zu belassen. Doch sie ging voran und mit jedem Takt kamen nun Unregelmäßigkeiten in ihre Schritte. Zuerst war es nur Sorge, die sie straucheln ließ. Sorge aus dem Gefühl heraus, dass etwas nicht stimmte in ihrem gemeinsamen Leben. Etwas, das nicht zu fassen war. Gedeon sah Bruchteile eines Bildes von sich selbst, dass sich in ihren Tanz drängte und sie aus dem Takt brachte. Er verneinte. Da war nichts gewesen. Sie beide liebten sich, liebten ihre Tochter, sahen sie mit Vergnügen wachsen. Liebten es, ihre gemeinsame Beziehung mit den Jahren wachsen zu sehen. War es damals nicht so gewesen?
Meyla schüttelte sich in ihrem Tanz und zog sich in eine dunklere Ecke des Zimmers zurück. Er sah sein Bild wieder in diese Ecke eindringen und die Grenzen dehnen, sah sich diesen düsteren Bereich langsam über ihre ganze Parzelle, auf Meylas gesamtes Leben ausdehnen und sie sah immer öfter an sich herunter, stockte und versuchte mit baren Armen und Tränen in den Augen ihren alternden Körper zu verbergen. Dann ließ sie das Tanzen ganz sein und zog sich und ihren nackten Körper in die hinterste Ecke zurück, zitternd. Gedeon sah Bilder von sich, die sich von ihr abwandten. Erkannte seinen eigenen, seinen verbitterten Blick, die Ohnmacht, das Geschehen und die eigene Reaktion darauf zu ändern. Sah sich kälter werden, Farbe und Struktur von kaltem, von altem Beton annehmen und ihre letzten warmen Strahlen prallten von ihm ab, bis Meyla schließlich aufgab und sie erloschen.
Er konnte es nicht glauben. Sie hatte es die ganze Zeit versucht.
Auf dem Sofa zog Gedeon die Knie an seinen Körper und rollte sich in der Ecke zusammen. Alle Bilder waren verschwunden. Der Chip in seinem Slot schien zu brennen, doch er konnte ihn nicht herausnehmen, konnte nicht von diesem Bild lassen. War das wirklich er gewesen, der ihr jeden Rückhalt und all ihre innere Stärke genommen hatte? Hatte er sie nicht geliebt?
Ja, das hast du. Aber nicht die Konsequenzen bedacht. Nicht eure menschlichen Schwäche akzeptiert. Hättest du es nur getan.
Hab ich nicht?, fragte er sich und auch sein Körper zitterte nun und Abscheu vor dem eigenen Selbst nahm Überhand. Er bekam die Antwort, denn ein letztes Bild nahm brüchige Gestalt an: Gedeon sah in Meylas letzten Blick während ihr Körper verdorrte und ihr Geist sich davon löste, sich von ihm abwand und in einem letzten, auf ewig schönem Tanz sanft aus dem kleinen Fenster ihrer Parzelle entschwand, um in dem Ausblick unterzugehen, welcher ihr nun als einzig geliebte Erinnerung in ihrem Leben verbleiben würde.
Gedeon verblieb lang in seiner Stellung auf seinem Sofa. Weit in die kleine linke Ecke gedrückt, verharrte er zwischen den weichen Kissen, die in dem von Meyla ausgesuchtem Himmelblau der Welt die einzige Fabe gaben, die es je gegeben hatte.
Zu spät erkannt.
Nie akzeptiert.
Stumm und mit Tränen in den Augen zog er den Chip aus dem Schlitz an seinem Handgelenk und schloss die Faust darum.