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Gedankenwelt

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05.05.2008
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Gedankenwelt

Das kleine Mädchen weinte. Mit weiten Sprüngen lief sie über die grüne Wiese, ihr weißes Sommerkleid wirbelte duftende Blütenblätter hinauf in die angenehm laue Sommerluft und bunte Vögel flatterten zwitschernd um sie herum. Tränen flossen über ihre zarten Wangen.

"Können Sie mich verstehen, Thomas?"
Die Worte, vielmehr ihre Bedeutung, waren ihm bewusst. Thomas dachte eine Bestätigung.
"Das System läuft nun. Ich werde dir zur Kalibrierung aus dem Langzeitgedächtnis übertragen. Die Anpassung an deine Gehirnströme sollte wenige Sekunden dauern."
Und im Zweifel die Reißleine ziehen, denken, vorstellen ...
Die Gedanken explodierten.
Ein Kissen flog blumenweit. Schmeckte nach Glas mit Klängen zu Mozart. Dunkelheit und Zittern. Die Erde aus dem Weltraum, eine Blume im All. Sturz. Vater, Großvater saß mit seinem Rechner am Fenster und trank Kaffee, langsam drehte er sich um, über seinen rissigen Lippen wölbte sich zitternd der weiße Bart und eine Träne glitzerte im Sonnenlicht. Trauer. Aus der Thermoskanne floss ein Kaffeefleck, wuchs auf der ausgebreiteten Wolldecke zu einer Wolke, wie auch die erste Menstruation an den Innenseiten der weißen Strumpfhose. Erstaunen. Ein fester Händedruck und Fanfaren, weiße Fahnen im Wind, der ungläubige Blick auf die Urkunde, zackige Drehung und die ernsten Gesichter der stolzen Kameraden. Wieder früher. Mutter liest mit ernstem Gesicht am Bettrand, einen Arm zwischen Kopf und Kissen geschoben, sanfte Stimme. Sanft. Der erste Kuss eines Jungen, leicht alkoholisiert, Tränen im Kissen, einen Tag später der zweite zum Abschied. Unvergessen ungelenk und sanft. Schweben.
Orientierung.
"Gibt es Probleme mit der Einstellung?"
Keine Probleme. Wie eigene Erinnerungen. Nur klarer.
"Gut. Dann schauen wir mal, was wir in den aktiven Gebieten finden werden."
Noch keine vollständige Kopplung?
"Nein, ich möchte erst herausfinden, wo wir die besten Chancen haben, das Bewusstsein zu reaktivieren."
Gut.

Das kleine Mädchen hatte den Rand der endlosen Wiese erreicht. Abrupt stürzte die Welt in eine undurchdringbare Schwärze hinab. Sie starrte in den Abgrund. Zwei der Vögel hatten sich auf ihre Schultern gesetzt, einer der beiden steckte ihr fröhlich Blütenblätter in das zerzauste Haar, der andere zwitscherte leise vor sich hin. Die Tränenschleier waren versiegt, doch kaltes Entsetzen hatte sich wie eine Fessel um ihren Magen geknotet und zog sich mit jedem Atemzug fester. Sie stieß einen Brocken fester Erde in die Tiefe, er fiel, zerbrach in kleinere Stücke, die wie ein Meteoritenschwarm durchs All trudelten. Einer nach dem anderen löste sich auf, und mit jedem starb ein Stück ihrer Hoffnung. Die Welt bröckelte unter ihren Füßen hinweg. Hinweg. Ein Schluchzen stieg aus ihrer Brust, schob sich durch ihre Kehle und brach mit einem erneuten Tränenstrom aus ihr heraus - was war geschehen, dass sich die Welt nicht mehr erneuerte?

Thomas entspannte sich, wartete kurz ab und war nicht mehr Thomas.
Eine Bilderserie.
Rauchwolken nach der Explosion. Verletzte und panikerfüllte Kameraden. Ein Mechaniker im hastig übergezogenen Blaumann seiner Vorgesetzten. Mühevoller Ausstieg durch die Wartungsluken. Austretende Atmosphäre aus der Bruchstelle. Glühende Außenpanzerung. Ungelenke, verzweifelte Akrobatik im Vakuum. Erfolgreicher Blick auf die versiegelte Bruchstelle. Ein grelles Aufblitzen. Das Universum als elektromagnetisches Muster. Dunkelheit.
Ein Gedankenstrom.
Es war komisch, die letzten Wochen des Flugs hatte sie sich auffallend und erfreulich infantil gefühlt. Kein Wunder, nach der langen Mission und dem Unfall, der sie fast das Leben gekostet hatte, versicherte ihr der Mannschaftsarzt. War sie während der Landemanöver sonst schon professionell gelangweilt, hing sie diesmal an den Monitoren wie ein aufgedrehter Rekrut nach seinem ersten Flug. Die Kameraden zog es in Rotlichtviertel, Freizeitparks - oder den Schoß ihrer jungen Familien. Sie suchten das schnelle, laute Glück oder die leise, lächelnde Geborgenheit. Sie kannte die Verhaltensmuster, doch diesmal war es anders. Sie gierte förmlich nach all den kleinen Erlebnissen, die ihr auf dem langen Flug verwehrt waren. Eissorten. Lichtspiele. Sonnenstrahlen auf nackter Haut. Gras unter den Füßen. Lachen und Weinen. Der Geruch eines alten Buches. Der vorrückende Schatten einer nahenden Dämmerung. Unermüdlich zog es sie hinaus, kein Freizeitpark konnte ihrem Rhythmus folgen, kein Verwandter die Tiefe ihrer Emotionen teilen. Unstet und konzentrationslos irrte sie durch die Welt. Genoss das Sein. Und konnte sich die Ursache nicht erklären.
Ein Alptraum.
Sie saß beim Mannschaftsarzt. Innere Feuer brannten sie aus. Er blickte in ihren Mund, hielt die Zunge mit einem Holzstab niedergedrückt. Flammen spiegelten sich auf seinen Pupillen. Der Holzstab brannte, als er ihn schemenhaft lächelnd zurückzog. Wir müssen sie im All löschen. Sprach er. Und sie flog ohne Raumanzug aus der Bruchstelle. Sie schrie einen stummen Schrei. Das Feuer brandete aus ihrer Kehle, formte sich zu einem Feuerball, der sie umkreiste und dann auf sie zurückstürzte. Ein grelles Aufblitzen. Das Universum als elektromagnetisches Muster. Dunkelheit.
Ein Gedankenstrom.
Sie kämpfte. Das Kind in ihr war unerbittlich in seiner Gier. Sie brauchte Ruhe, Entspannung, ein paar Tage am Strand oder bei den Eltern im Apartment. Doch es zog sie weiter. Nachts ließen sie die Alpträume nicht schlafen, am Tage beobachtete sie das Kind bei seiner Herrschaft über ihren Körper. Es trieb sie weiter, Erlebnis um Erlebnis, Augenblick für Augenblick. Die Euphorie war längst verflogen, der Panik gewichen. Sie hatte Angst. Sie hatte kaum noch einen eigenen Willen und dennoch wartete sie auf den Moment sich zu befreien. Doch sie musste kämpfen.

Thomas wurde sich langsam wieder seiner selbst bewusst. Beeindruckend. Verwirrend.
"Meine Güte, Thomas, da haben wir diesmal einen vollkommen irren Patienten bekommen."
Selbstmord?
"Nein, ein Unfall. Überhöhte Geschwindigkeit an der Küstenstraße, ein Fahrfehler."
Doch Selbstmord.
"Wenn du meinst. Die Militärs bestehen auf einem Unfall. Ich denke, wir sollten mit Bildern der Familie beginnen. Klassisch. Vielleicht können sie vertraute und beruhigende Bilder noch einmal aus dem Koma holen."
Ich bin bereit. Aber pass bloß auf, das nichts von dieser Psychotour an mir hängenbleibt.

Das kleine Mädchen saß auf der Spitze eines Gebirges und strich vorsichtig die Falten aus ihrem weißen Kleid. Sie hatte viele Erinnerungen durchquert, war über unzählige Abgründe gesprungen und hatte doch keine lebendigen Erlebnisse gefunden. Es war einfach nicht fair. Sie drückte ihre Arme an den Körper und betrachtete wie der feine Stoff des Sommerkleids spielend über ihre Knie fiel. Sie wusste nicht mehr weiter. Mit fragendem Blick wandte sie sich an den Vogel auf ihrer linken Schulter, den einzigen, der ihr noch verblieben war. Doch der drehte nur stumm seinen rot schimmernden Kopf zur Seite und starrte zurück. Die Angst vor der ewigen Kälte schüttelte sie. Niemals wollte sie dorthin zurück. Sie kämpfte gegen die Tränen an. Eine vorbeiziehende Erinnerung schreckte sie aus ihrer Lethargie auf. Sie stutzte, diese war anders. Blass und kalt. Sie fühlte sich unecht an. Das kleine Mädchen beobachtete und dachte nach, wenige Momente später zogen weitere Erinnerungen an ihr vorbei, die rissig und bruchstückhaft wirkten. Künstlich erstellt. Sie ließ ihre Gedanken schweifen, spürte nach dem Ursprung und fühlte in der Ferne etwas. Etwas kraftvolles, anziehendes, jenseits ihrer Welt. Der Vogel spürte es auch, er richtete sich auf und tschilpte sehnsuchtsvoll. Eine lebendige Welt. Erlebnisse. Ein Zuhause. Mit einem Jubelschrei stieß sie in die Höhe. In einem grellen Aufblitzen erweiterte sie ihr Selbst und tauchte ins elektromagnetische Muster.

Dunkelheit.

Spät am Abend ging Thomas erschöpft über den Parkplatz. Sie hatten noch lange versucht eine Reaktion des Gehirns, einen Hinweis auf ein verbliebenes Stück Bewusstsein, zu erhalten. Ohne Erfolg. Er seufzte. Zum Glück konnte er sich an keinen Gedanken, keine Erinnerung aus dem sterbenden Gehirn erinnern. Die Technik funktionierte. Müde schloss er seinen Wagen auf und ließ sich in den Sportsitz fallen. Es war ein langer Tag gewesen, aber er spürte den Drang, noch etwas zu unternehmen.

 

Hallo snord,

zunächst mal ein herzliches Willkommen auf kg.de und in der "Kaderschmiede" SF-Rubrik :thumbsup:

Ich muss sagen, wir hatten schon länger keine so gelungene Premiere mehr. Deine Story ist absolut sauber geschrieben, hat sprachlich einige gelungene Stellen und das Thema ist auch nicht völlig ausgelutscht (ein bisschen aber schon ;) ). Für meinen Geschmack einen Tick zu sehr auf die Tränendrüse gedrückt an ein paar Stellen, und das zwangsläufig fragmentarisch präsentierte Geschehen erschließt sich erst gegen Ende. Man könnte fast eine melancholische Todessehnsucht erkennen; ein Gefühl, dass mir höchst fremd, wenn nicht gar zuwider ist. Deshalb berührt mich der Text emotional nicht bzw. verursacht Widerwillen. Das ändert aber nichts an meiner Auffassung, dass die Story gelungen ist und lesbar. Ich bin gespannt auf weitere Texte von Dir.

Beste Grüße

Uwe

 

Danke für die Begrüßung und das Lob. Und ich behaupte mal, es sei eine besondere Fähigkeit, aus ausgelutschten Themen noch brauchbare Gedanken zu ziehen ... oder so.

Die Tränendrüse stimmt schon, wobei ich hoffentlich nicht ins Pathetische abgerutscht bin.

Die latente Todessehnsucht streite ich als Autor ab - interessant finde ich jedoch, auch als Leser, immer wieder diesen schmalen Grat zwischen der Gier nach dem Leben und der Inkaufnahme des Todes. Die philosophischen Diskussionen dazu sind aber wohl wirklich ausgelutscht, oder?

Sonntag Abend.

snord

 

Hallo snord!

Ich kann mich meinem Vorredner nur anschließen, zumindest in der Beziehung der Lesbarkeit des Stückes. Und im Gegensatz zu Uwe kann ich mich teilweise hineinversetzen, auch wenn der Vorwurf der Tränendrüsendrückerei nicht von der Hand zu weisen ist.

Ich war zunächst ziemlich verwirrt, was deine Intention betrifft, erst ganz kurz vor Schluss des Text erschloss er sich mir halbwegs - zumindest denke ich das.:D

Aus den Tränen kann man vielleicht auch die Kryptik (heißt das so?) des Stückes vorwerfen. Die Frage mag erlaubt sein, wieviel davon der KG nützt und wieviel im Gegenzug Koketterie ist.

Aber wie vorangestellt: absolut lesbar und interessant.

Viele Grüße von meiner Seite!

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi snord zum Zweiten und ein herzlich Willkomen!
(ist wohl noch immer angebracht)
Erst ein klein wenig Textgedöns

Das kleine Mädchen weinte. Mit weiten Sprüngen lief sie …
Hmm… ein weinendes Kind stolpert in meiner Vorstellung eher als das es beschwingt durch Weltgeschichte hopst. Könnt man aber so stehen lassen.
Moment mal... ach verdammt, jetzt hast' mich gekriegt vlt. ein Absatz damit der Bruch deutlicher wird?

Die Worte, vielmehr ihre Bedeutung, waren im bewusst.
ihm

Ich werden dir zur Kalibrierung aus dem Langzeitgedächtnis übertragen.
werde
und was wird da aus dem Langzeitgedächtnis übertragen? (ist schon klar geworden am Ende; aber so bin ich erstmal böse gestolpert, vlt. kann man die Stelle durch umformulieren entschärfen?)

Und im Zweifel die Reißleine ziehen, denken, vorstellen ...
Kein Leerzeichen vor diesen drei Punkten (oder allg. vor drei Punkte).
Außerdem klingt die Reißleine komisch, warum nicht (r)ausdenken oder so was?

Dunkelheit und Zittern.
Sturz.
Trauer.
...

Diesen kurzen Sätzen (und allen weiteren) würde ich einen eigenen Absatz spendieren das bremst den Lesefluss zwar etwas, räumt dem Leser aber dadurch auch etwas Zeit ein, deine "Vergleiche" auf sich wirken zu lassen und ihnen zu folgen (sonst gerät man so aus der Puste).

die Zunge mit einem Holzstab niedergedrückt.
Die haben immer noch Holzstäbe? keine Plastikspatel? man wie rückständig... :D

Wir müssen sie im All löschen. Sprach er.
Diesen Sätzen würde ich wieder einen eigenen Absatz gönnen.
Außerdem glaube ich: „…All löschen“, sprach er.

Und wieder muss ich sagen: WOW!
Ich hab recht daran getan eine weitere Geschichte von dir zu Lesen. Sie ist zwar absolut anders als die „Kaffeemaschine“ (ernst & traurig) aber sehr schön ausformuliert.
Im Sprachstil bist du sehr sauber und es ist ein regelrechtes Vergnügen deinen Worten zu „lauschen“.

Auch das sich der Sinn der einzelnen (im ersten Moment total vermurkst anmutenden) Sätze erst zum Schluss erschließt hat mir richtig gut gefallen.
Zitat von Uwe:

Ich bin gespannt auf weitere Texte von Dir.
Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.

les’ dich
Nice

 

@Nice
Auch hier Danke für die Vorschläge/Korrekturen. Die zwei Fehler sind raus. An die Absätze traue ich mich nicht so ganz ran, da ich befürchte sonst die übergeordnete Struktur zu verlieren. Denke ich aber noch einmal darüber nach.

Und zu den drei Punkten:

Abgebrochene Worte mit drei Punk...
Abgebrochene Sätze mit drei Punkten ...

So habe ich es bisher gehalten, kann aber nur auf wikipedia verweisen (Satzzeichen, Punkte). Oder?

snord

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey snord!

Ja okay, das Thema ist recht klassisch, aber welches gute[!] ist das nicht? :aua: Mich spricht deine Story vor allem stilistisch sehr an, da sind ziemlich geile, surreal verwobene Fäden drin, die mir sehr gut gefallen:

Ein Kissen flog blumenweit. Schmeckte nach Glas mit Klängen zu Mozart. Dunkelheit und Zittern. Die Erde aus dem Weltraum, eine Blume im All. Sturz. Vater, Großvater saß mit seinem Rechner am Fenster und trank Kaffee, langsam drehte er sich um, über seinen rissigen Lippen wölbte sich zitternd der weiße Bart und eine Träne glitzerte im Sonnenlicht. Trauer.
Kopfkino! :D

Kurz und knapp!

Liebe Grüße!

Dante

 

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