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Gedankenherbstlaub
Gedankenherbstlaub
Sie klammern sich an, sie sträuben sich, sie werden losgerissen und fallen taumelnd zu Boden. Sie leuchten noch einmal auf in der späten Sonne und reihen sich ein in den großen, bunten Teppich aus braungelbrötlichen Herbstfarben. In mir steigen Gedankenbilder auf. Bin ich wie der Baum, der immer kahler wird und sich der rotgelben Herbstsonne entgegenreckt, oder wie eines seiner Blätter, welches sich sinnlos gegen das Fallengelassen werden sträubt?
Bin ich, wenn ich wie so ein Blatt bin, im Moment des Loslassens nicht auch durchdrungen vom herzzerreißenden Gefühl des verloren – seins, des gewaltsam getrennt werdens?
Losgelöst von der vorher beschützenden Gemeinschaft und hinab gerissen in die neue Gemeinschaft der Entwurzelten?
Wie vielen mag es gerade gleich ergehen? Entwurzelt zu sein? Haltlos zu taumeln, unfreiwillig?
Auch denen, die sich selber losgerissen haben um zu fliegen, dem Traum von selbst bestimmter Freiheit zu folgen, nur um erkennen zu müssen, dass der kurze Flug am Boden endet ergeht es nicht besser. Die scheinbare Besonderheit jener Freiheitssucher erlischt, wie sie mit dem bunten Herbstleuchten begann, über Nacht. Der Schmerz der nun einsam in der Masse herumliegenden Freiheitshelden ist bestimmt tief und eisig. Zur Sonne fliegen wollten sie, um Weite und Freiheit zu spüren. Nun finden sie sich betäubt von raschem Fall und Aufprall, vor dem Sie keiner gewarnt hatte, am Boden wieder. Sie werden nur ab und zu noch durch böige Winde herumgewirbelt, vielleicht von Würmern in die schwarze Erde hinab gezogen, oder zu Laubhaufen zusammengekehrt, um im herbstlichen Feuer eines sorgsamen Gärtners zu enden.
Alle gleichermaßen gehen sie dann in Rauch auf. Ohne Unterschiede, ob selber gewählt, oder nicht. Gefallen sind sie alle. Ein letzter Gruß ihrer bisherigen Existenz im kühlen, strahlenden Himmel, blassblau, sich verwirbelnd und sich in Unsichtbarkeit auflösend.
Alle wandeln wir uns zu neuem. Phönixe. Herbstlaub im Garten des Lebens.
Oder der Baum? Bin ich wie der Baum? Kahler werdend, einen Sommer älter geworden? Ich habe einen Jahresring mehr um mich geschlossen. Ich habe Vögeln unter meiner Krone Obdach gewährt. Nun sind sie, flügge geworden, davongeflogen. Nach Süden in die Wärme die ich jetzt auch so dringend brauchte. Meine Gedanken folgen ihnen nach.
Ihre Nistspuren weht der kälter werdende Wind aus meinen schützenden Astgabelungen, die sie, liebevollen Fingern gleich, zärtlich gehalten hatten. Aus Raupen sind Schmettrelinge geworden. Sie kamen zurückgeflogen um in meinem Schatten auszuruhen. Nun sind auch sie fort.
Eine grau getigerte Katze mit weißem Bauchfell hält mir noch die Treue, denn ich gebe ihr Obdach zwischen meinen Wurzeln. Nur eine Zweckgemeinschaft? Wohl nicht. Sie schnurrt mir ihre Ergebenheit entgegen, und reibt ihr Köpfchen an meiner Rinde.
Ich weiß wohl um die Gezeiten des Lebens, dem stetigen Werden und Vergehen. Dennoch trägt mein Baumherz schwer daran es zu akzeptieren, immer wieder aufs neue entblättert, nackt, frierend und mich hässlich fühlend dastehen zu müssen, wenn es dem Leben gefällt mich unter seine Herrschaft zu zwingen. Aber wird nicht vielleicht auch bald schon wieder jemand an mir vorbeigehen, meine filigranen Astspitzen bewundern und mich in all meiner entblößung schön finden?
So schön, dass er, oder sie meine Gesellschaft sucht, sich an meinen rauen Stamm lehnt und zu träumen beginnt, von Sonne, Wärme, Duft und Glück?
Ja, es werden wohl auch wieder neue Blätter kommen, falls ich den Winter überstehe. Ja, es werden neue Frühlings – und Sommertage kommen, neue Vögel auf mir nisten, neue Käfer und Larven unter meiner Rinde wohnen. Auch das ist wohl der Lauf der Dinge. Das Leben wohnt in mir.
Als Baum weiß ich, dass jedes meiner Blätter durch die darunter hervorkeimende neue Knospe abgestoßen wird. Das gibt mir die Gewissheit des erneuten Werdens.
Ein Trost in der Nacht, ein Trost während des langen Wartens.
Aber all das ist noch einen langen, kalten Winter weit weg.
Mögen wir alle diesen Winter überstehen…
Ich versenke meine Wurzeln noch ein Stückchen tiefer in die Erde, um einen festen Stand zu haben wenn die Nordstürme an mir rütteln, um mich mit Stumpf und Stiel auszureißen und mir den Rest zu geben.
Ich werde tief in meinem Inneren, wo ich all meine Lebensenergie, meinen Lebenswillen, meine Liebe und meine Zärtlichkeit wie einen kostbaren Schatz verborgen habe, standhaft bleiben und an einen neuen Sommer glauben.
Wie schon all die Jahre zuvor.
Möge er kommen.
Ich bin bereit.
Und die Junge Frau stand mit dem Besen im Garten und fegte Laub zusammen.
"Scheißherbst" dachte sie, "Nix als Ärger und Arbeit damit, wie nach dem Ende einer Beziehung, die man nicht gleich verdrängen kann."
Und auch sie sehnte sich einen neuen Sommer herbei, während der Baum, unter dem sie stand, leise erschauerte.
© 10/08 Nick L.Arion /AP