Gedankengänge
Ein Klopfen an der Tür lies sie zusammenfahren. „Sag’ mal, lebst du noch?“ Mühsam kam ein betont stimmungsneutrales „hm“ in ihrer Gurgel zu Stande, überbrachte der Außenwelt ein Lebenszeichen. Wie lang hatte sie so dagesessen? Dagesessen, in die Leere gestarrt, den Kopf auf die Knie gelegt und ihren Tränen freien lauf gelassen, war regelrecht zerflossen in ihren stillen Tränen, von denen sie nicht wusste, woher sie so plötzlich gekommen waren, die Schwere, die sie in sich verspürt hatte. Es hatte gut getan, war ein erleichterndes Gefühl gewesen, auch wenn sie das Warum nicht explizit benennen konnte. Sie wischte sich mit den Händen die angetrockneten Tränen weg, stand auf und lief zum Waschbecken um ihr Gesicht zu waschen. Es hätten Stunden sein können. Gedankenverloren sah sie in den Spiegel, wendete sich aber gleich wieder ab. An manchen Tagen ist das eigene Spiegelbild unerträglich, und heute war so ein Tag. Langsam schüttelte sie ihre Träume und Gedanken ab. Immer noch bloß im Schlabber-T-Shirt bürstete sie ihre Haare, die an den Spitzen mittlerweile schon trocken waren und begannen, sich zu kräuseln. Langsam kehrten ihre Lebensgeister wieder…
Abends, keine 2 Stunden später, saß sie an ihrem Schreibtisch. Sie wollte wenigstens noch dieses Kapitel zu Ende lesen. Nebenher lief Musik, französische Chansons, Moustaki. Das hörte sie immer dann, wenn ihre Stimmung ihr traurig, bedeckt schien und sie nicht benennen konnte, was es war. Mit den Anfangstakten von „Chanson Pour Elle“, ließ sie das Buch sinken. An Weiterlesen war nicht zu denken. Sie hielt inne- darum. Darum also hatte sie geweint. Natürlich, sie kannte sich gut genug um zu wissen, dass es sich wieder mal um „ihn“ drehte, seit 1 ½ Jahren schon, und eigentlich schon ihr Leben lang, doch hatte sie nicht verstanden warum genau. Wegen ihrer Ohnmacht. Das trügerische Gefühl der Erlösung, erfahren zu haben, dass es damals nichts für die eine, die ihm Avancen gemacht hatte, empfunden hatte, das sich sofort im Keim abtötete, da seine Interessen einer anderen gehört hatten, gehörten?, diese jedoch längst vergeben war. Das Wissen, nie DEN Platz in seinem Herzen einzunehmen, nie ein Teil seines Lebens zu sein. Sie vermisste ihn mit jeder Faser ihres Herzens. Vermisste seine Arme, obwohl sie sie nie gespürt hatte, vermisste seine Augen, die sie manchmal anzusehen schienen, vermisste seine Lippen, auch wenn sie noch nie in ihrem Leben geküsst hatte, vermisste ihn so sehr, dass es weh tat. Sie schnaufte, sich selbst belächelnd, durch die Nase aus, sie kannte ihn doch gar nicht. ‚Oh doch, und wie.’ ‚Wie kannst du jemanden kennen, mit dem du noch nie ein Gespräch über die enorme Länge von einer Minute geführt hast und die Anzahl der Gespräche unter diesem Zeitlimit nicht einmal eine halbe Handvoll ausmachen?’ Eine Person, die ihre Gefühle nicht zeigt, nie zeigt, zumindest nicht offensichtlich? Bist du unter diesen Umständen berechtigt zu sagen, du liebst ihn?’ ‚Jain. Ich sehe keinerlei Zusammenhang zwischen Anzahl und Dauer der Gespräche und dem Vertrautheitsgrad zweier Personen. Manche reden jeden Tag miteinander und sagen sich doch Nichts, oder nur Nebensächliches. Seine Art dagegen spricht Bände. Seine Art: still aber nicht schweigsam, selbstbewusst aber nicht arrogant, introvertiert aber nicht kalt, einfach liebenswert zu sein…’ ‚Du sagst es ja selbst: still und introvertiert! Wie bitte soll seine Persönlichkeitsstruktur mit der deinigen vereinbar sein? Du, die Enttäuschung, Wut, Verzweiflung, überschäumendes Glück, Himmelhochjauchzen, jede Facette von Emotion direkt und ohne Zeitverschiebung lebt, wie bitte soll das funktionieren?’ ‚Und ich sage, dass ich das nicht als unüberbrückbaren Gegensatz sehe, sondern als ausgleichenden Pol, für beide Seiten.’ ‚OK, selbst wenn du in diesen Punkten recht hättest, wie bitte willst du es anstellen, dass es sich die Mühe macht herauszufinden, dass du nicht dieses dumme, kleine Wesen von vor einem Jahr bist, es nie wirklich warst? Dass das nicht du warst, die du damals nach außen gezeigt hast? Dass du selbst heute noch teilweise Verstecken spielst? Und selbst wenn er das herausfände, was wäre dann? Dann dürfte er dich für eine langweilige Streberin mit Komplexen und Kontaktscheu halten, sehr liebenswert. Komm, sei ehrlich. Seitdem deine Freundschaft mit Vroni nicht mehr stimmt, kapselst du dich vollkommen ab.’ ‚Jetzt schnauf erst mal kurz durch. Ich gebe dir ja Recht. Kontaktscheu ist sogar noch untertrieben. Berührungsängste mit panischen Anfällen trifft es besser. Was musste er sich auch im Bus damals plötzlich neben mich setzen. Dazu an einem Tag, an dem ich meinen Kopf überall hatte, mich ein letztes Mal dagegen aufbäumte, dass alles nur Illusion gewesen sein sollte Das Buch, in dem ich gelesen hatte, war seit seiner Frage ‚Aber da ist schon noch Platz frei?’, die er mehr im Sitzen als im Stehen gestellt hatte, obwohl doch so viele andere Plätze auch frei gewesen wären, nur noch zum Festhalten, und auch wenn ich vor lauter Nervosität nichts anderes tun konnte als jeden Buchstaben, jedes Staubkorn zu fixieren, so habe ich doch nichts mehr von dem, was da stand, als Text realisieren könne, konnte die Wörter nicht mehr in ihrem Zusammenhang verstehen.’ ‚Ja, eben. Nachdem du diese Situation erfolgreich vergeigt hast (Talent dazu hast du, dass muss man dir alles andere als neidvoll anerkennen), dürfte dir ja klar sein, dass du, sobald du eins und eins zusammenzählst und das Ergebnis nicht in diese höchst überflüssige rosa Farbe tauchst, mit der du alles färbst, was dir in den Sinn kommt und endlich wieder aus den Boden der Tatsachen stehst, spätestens zu diesem Zeitpunkt jedes eventuell aufkeimende Interesse von seiner Seite erstickt hast. Zumal du nicht einmal fähig bist einen Blickkontakt zu halten. Zufrieden?’ Selbstgespräche können höchst nützlich sein, zumindest manchmal.
Mit einer abrupten Handbewegung endete sie, als ob sie ihre Gedanken beiseite schieben wolle. Bettzeit. Sie war in keinster Weise müde. Sie lag da, drehte sich mal auf den Rücken, mal auf die linke, mal auf die rechte Seite (sie bemühte sich ihre auf-dem-Bauch-Schlafhaltung aufzugeben, was ihr bisher nur mit mäßigem Erfolg gelungen war, wenn man von den Tagen, an denen sie der Wecker rausklingelte mal absieht) und ihre Gedanken fuhren Karussell. Sie sah ihn vor ihrem inneren Auge, jede kleine Geste, die ihn zu der Person machte, für die sie so viel empfand. Ja, mittlerweile nahm sie sich hin und wieder das Recht heraus sogar von ‚lieben’ und nicht länger von ‚verliebt sein’ zu sprechen, da sie ja dachte, ihn durch beobachten mittlerweile zu kennen. Alles ließ sie Revue passieren. Ab und zu krümmte sie sich ein wenig, kniff die Augen zu, während sie die Bettdecke fest umklammerte und in ihr Kissen biss um kein Geräusch von sich zu geben, dann durchlebte sie die Zeit, die sie am liebsten sowohl aus ihrem als auch aus seinem Gedächtnis gestrichen hätte, die Zeit vor etwa einem ¾ Jahr. Sie war so wenig sie selbst gewesen, hatte ihre Individualität, die ihr sonst so viel bedeutet hatte, verdrängt, fast geleugnet, so sehr bemüht es ihrer damals besten Freundin gleichzutun dass sie sich selbst benahe aufgegeben hätte. Doch diese Gedanken verdrängte sie nur allzu gerne. Langsam nahmen in ihrem Kopf Gefühle, Wünsche und Hoffnungen Gestalt an, formten sich zu Worten, Phrasen… Sie knipste das Licht an und holte sich Stift und Zettel…
„ Obwohl ich es mir nicht vorstellen kann, wünsche ich mir doch nichts sehnlicher, als dass es zwischen dir und mir zu einem Gespräch kommt, weiß ich doch genau, dass ich dazu immer zu schüchtern, zu feige sein werde, dass mich diese Schüchternheit in nächster Zeit daran hindern wird dich anzusehen, diese Feigheit mich dazu veranlassen wird, dir aus dem Weg zu gehen, (ich sollte endlich zum Punkt kommen, ansonsten wird der Satz vor lauter Einschüben unverständlich), trotz dieser Tatsache (ich arbeite an mir und dieser Eigenschaft, nicht die der Vielzahl an Nebensätzen, doch, an der auch, doch die meine ich nicht, kann aber versichern, dass ich mich auf diesem Gebiet (noch?) erfolglos versuche) schreibe ich dir, vielleicht auch gerade deshalb.
Warum? Warst du nicht deutlich genug? Doch, warst du. Doch, vielleicht kannst du’s wenigstens in Ansätzen nachvollziehen, da gibt es so etwas, das nennt sich unberechtigte Hoffnung, die Hoffnung, dass du, dass Gefühle einfach erwidert werden müssen, und dieses Etwas ist einfach nicht totzukriegen. Erst recht nicht seit Freitag vor den Winterferien. Freitag vor den Winterferien? Ja, ach so…. Für dich ist dieses beinahe Nichts wahrscheinlich schon eine Ewigkeit her Rückblickend könnte ich mich aufhängen, doch, wie gesagt, da gibt es seit dieser Busfahrt etwas, das manche Momente zu den zuversichtlichsten manche zu den niedergeschlagendsten werden lässt. Wie gesagt, eigentlich warst du deutlich genug. Aber, ja, hm,…
Ich weiß so wenig von dir. Und doch ist mir, jedes Mal wenn ich dir sehe, und daran at sich all die Zeit nichts geändert, auch wenn sich meine Art mich zu leben, meine Definition meiner selbst geändert hat, als entdeckte ich eine vertraute Fremde, würde ich ein neues Ich finden. Wie du im letzten Satz gelesen und vielleicht auch schon bemerkt hast: … Nein, nicht ich habe mich verändert, zumindest nicht sehr, nur die äußere Schicht, meine Geben nach außen.
Wieso öffne ich mich eigentlich? So sehr? Vertraue dir das alles an. Sage dir so viel über mich, meine Gefühle, bedeutend mehr als jedem, jeder anderen, wobei ich mir noch nicht einmal sich er sein darf, dass es bei dir auch gut aufgehoben ist. Es mag damit zu tun haben, dass ich mir nicht vorstellen kann, du könntest dies indiskret behandeln, auch damit, dass ich an einem Punkt angekommen bin, von dem 2 Wege abführen. Teilweise hängt die Wahl des Weges von dir ab, aber meine Inkonsequenz und deine Ausstrahlung, deine Art einfach zu sein, zu existieren, legen immer wieder ihr Veto ein, sobald ich ernsthaft versuche dich zu vergessen, was aber nicht heißt, dass ich den Kampf nicht eines Tages bestehen werde.
Es tut mir leid. Für dich. Nicht aber für mich, nein, denn du bist das Beste, das mir je in irgendeiner Weise begegnet ist. Für dich aber tut es mir leid, das alles hier. Der Brief, das was er sagen will. Entschuldige meine Offenheit.
Carolin
P.S.: Tut mir leid, ein zweiter Zwieback bin ich leider nicht, ich bitte also mir Formfehler nachzusehen.
Und noch etwas: Sollte sich deine Einstellung nicht geändert haben, so versuche bitte nicht aus Mitleid oder ähnlichem dein Verhalten zu ändern um es mir zu erleichtern.“
[Beitrag editiert von: Caro S am 08.03.2002 um 10:25]