Gedankendrache
Ich zog die Tür hinter mir zu, drehte den Schlüssel im Schloss und prüfte nochmal, ob die Tür auch wirklich zu war. Hatte ich auch das Licht ausgemacht? Ja, bestimmt. Ich klopfte nochmal kurz meine Hosentaschen links und rechts ab. Handy? Anwesend. Geldbeutel? Hier.
Mit ruhigen Schritten stieg ich die knarzigen alten Holzstufen hinunter Richtung Haustür und betrat die Außenwelt. Es war ziemlich kalt heute. Ich zog die Jacke weiter hoch, bis zu den Ohren. Vielleicht wäre ein Schal nicht schlecht gewesen. Aber was man nicht besitzt, kann man auch nicht mitnehmen. Die Luft roch heute auch wieder ganz schön schlecht. Aber daran hatte ich mich mittlerweile irgendwie auch gewöhnt.
Gedanklich zuckte ich mit den Schultern und ging los. Vorbei an der Baustelle, von der ich auch nicht wusste, welchen Zweck sie eigentlich irgendwann einmal erfüllen sollte.
Es waren nur wenige Menschen unterwegs. Was vermutlich an der recht frühen Tageszeit lag. Am Wochenende schliefen die Menschen eben meist etwas länger. Der Weg war nicht weit und ich ließ die Straßenbahnhaltestelle links liegen. Anstatt 5 Minuten auf die nächste Bahn zu warten konnte ich auch einfach zu Fuß gehen. Vorbei an kleinen Läden, einem Supermarkt, Restaurants und grauen Hausfassaden.
Auf halber Strecke kam mir eine Straßenbahn entgegen. Das schrille Quietschen als Sie langsam um die Kurve fuhr musste selbst die Vögel auf den Dächern aufschrecken.
Ich warf einen kurzen Blick auf die kleine Kirche zu meiner Linken, bevor ich den Zebrastreifen passierte. Nur ein einziges Mal hatte ich die Kirche von innen gesehen. Und auch nur aus Neugier. Auf der anderen Straßenseite blieb ich kurz stehen. Links oder rechts rum? Es machte eigentlich keinen Unterschied. Ich blickte kurz in beide Richtungen. Erst links dann rechts, wie als Kind in der Schule gelernt. Beim Überqueren der Straße hatte ich das nicht gemacht. Ich schüttelte kurz und kaum wahrnehmbar den Kopf, entschied mich für Links und ging weiter. Der Weg hier entlang gefiel mir besser. Weniger Verkehr und mit den Bäumen, die den Straßenrand säumten auch irgendwie schöner.
Ich ging noch ein paar Minuten gemächlich weiter, in Gedanken versunken. Fast hätte ich nicht bemerkt, dass ich schon am Ziel war. Ich blieb stehen und sah mich nach einem guten Plätzchen um. Nach kurzer Überlegung ging ich noch ein paar Schritte weiter und lehnte mich gegen das Geländer. Selbst durch die dicke Jacke merkte ich, wie kalt der Stahl in meinem Rücken war. Meine Rückenmuskeln jammerten schon, aber sie würden sich schon daran gewöhnen. Ich ließ ihnen da auch nicht viel Auswahl.
Hinter mir glitt der Fluss ruhig dahin und vor mir stand er. Schweigend. Auf seine Art und Weise gleichzeitig bedrohlich aber auch majestätisch. Den Kopf hoch erhoben. Ab und zu stieß er eine lodernde Flamme aus seinem weit geöffneten Maul. Man konnte beinahe die Uhr danach stellen.
Ich stand eine ganze Weile da und betrachtete ihn, ohne mich zu bewegen. Die Sonne wärmte mein Gesicht, Gedanken und Erinnerungen tanzten durch meinen Kopf, kamen und gingen. Es waren schöne Erinnerungen und sie brachten mich unweigerlich zum Lächeln.
Ich schloss die Augen, gab mich ihnen hin. Mein Atem floss langsam und ruhig, inspiriert von dem Fluss hinter mir. Ein paar Vögel sangen eine farbenreiche Melodie und in der Ferne war das fröhliche Kichern spielender Kinder zu hören.
Mit jedem Atemzug fühlte ich mich leichter und leichter. Luft durchströmte meine Lungen.. Wo ich eben noch festen Boden unter meinen Füßen spüren konnte, war nur noch Leere, als sie sich langsam hoben. Erst die Fersen, dann auch die Zehen, bis ich auf einem Kissen auf Luft zu stehen schien.
Meine Arme bewegten sich, wie von Schnüren gezogen, langsam seitlich von meinem Körper weg.
Ich atmete noch einmal tief ein und aus und öffnete dabei meine Augen. Als ich mich umsah, stand ich nicht mehr an dem Geländer. Mein Blickwinkel hatte sich um 180 Grad gedreht. Ich schwebte über dem Felsen, den ich gerade eben noch betrachtet hatte. Mein Atem war heiß, meine Arme waren zu großen schwarzen Schwingen geworden. Mit kräftigen Schlägen erhob ich mich hoch in die Luft, über die Bäume, über die Häuser. Immer höher hinaus in den wolkenfreien Himmel. Die Stadt unter mir wirkte klein und friedlich. Hier oben war die Luft sauber und verströmte einen frischen Duft nach Freiheit. Ich flog in Kreisen über die Stadt, tanzte durch die Luft. Losgelöst von allen Fesseln und selbst auferlegten Zwängen.
Der Horizont erschien mir so unendlich weit weg und doch so nah. Ich verharrte kurz bevor ich mich in seine Richtung aufmachte und mit der Freiheit meiner Gedanken alles hinter mir ließ.