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- 16.04.2003
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Gedanken
Man sagt, im Nachbardorf wäre ein Mädchen ertrunken. Eine tragische Sache. Ich verspüre das Verlangen, an den Fluss zu gehen und ins Wasser zu schauen. In das Wasser, in dem das kleine Mädchen um sein Leben gekämpft hat.
So mache ich mich also auf meinen Weg. Ich gehe zu Fuß, so wie ich es immer mache, wenn ich Zeit brauche meine Gedanken zu ordnen.
Wahrscheinlich kannte ich dieses junge Ding noch nicht einmal, aber schon die Tatsache, dass sie ein so trauriges Ende gefunden hat, ist für mich ein Grund an sie zu denken.
Ich achte kaum auf meine Umgebung, während ich den Weg entlang gehe, bin ganz in meiner Gedankenwelt versunken. Doch im Endeffekt drehen sich meine Gedanken nur im Kreis. Ist der Tod den wirklich das Ende oder ist es einfach nur eine Möglichkeit, in etwas einzutreten, das wir Menschen nicht kapieren, während wir noch leben? Wenn er das Ende von allem ist, warum haben wir dann überhaupt gelebt? Was für einen Sinn hätte unser Leben denn dann gehabt? Aber aus einer anderen Sichtweise betrachtet: Wenn wir nach dem Tod in etwas eintreten, von dem die Lebenden nichts wissen, was ist das Leben dann? Nur eine Art Vorbereitung oder einfach nur Zeitverschwendung? Wenn es nur Zeitverschwendung sein sollte, dann frage ich mich wieder nach dem Sinn. Diese Gedanken verwirren mich ganz schön, denn ich weiß, dass ich mich schwer tue in meiner jetzigen Situation die Antwort auf so viele Fragen zu finden.
Der Weg steigt leicht an und ist steinig. Nun, im Grunde kann man diesen Feldweg mit dem Leben mancher Menschen vergleichen. Es geht immer wieder bergauf, auch wenn kleine Hindernisse vorkommen. Es ist mir allerdings ein Rätsel mit was ich mein Leben vergleichen soll... denn mein Leben ist kein Weg. Nein, niemals. Bei mir geht es nicht bergauf... alles bleibt eben.
Warum stelle ich mir all diese Fragen? Warum muss ich alles hinterfragen? Was helfen mir denn die ganzen Antworten, die ich vielleicht erhalten werde? Warum reicht mir mein Wissen nicht aus? Ich weiß es nicht, doch je mehr ich nachdenke, desto mehr Fragen steigen in mir auf und versuchen mich zu verwirren. Woher kommen diese Fragen? Aus meinem Herzen? Aus meinem Verstand?
Ich hebe meine Hand vor mein Gesicht und sehe sie an, balle sie zur Faust, entfalte sie wieder. Mache das immer wieder, bis ich die Fragen in meinem Kopf vergessen habe. Ich weiß, sie werden wieder kommen, und ich weiß sie werden mich wieder verwirren. Und ich weiß, dass ich nichts dagegen machen kann.
Warm scheint die Sonne auf mich herab. Die Wärme durchfließt meinen ganzen Körper, und ich gehe mit langsamen Schritten immer weiter, lasse meinen Blick nun durch die Gegend schweifen.
Es ist Herbst geworden, ohne dass ich es bemerkt habe. Die Blätter an den Bäumen haben wunderschöne warme Farben angenommen, und bald werden sie zu Boden fallen, um ihn zu bedecken. Beeren hängen an den Sträuchern entlang des Weges, der mich langsam aber sicher an mein Ziel führt. Ein sanfter Wind weht mir ins Gesicht, fast scheint es mir, der Geruch von Ernte liegt darin.
Ein leichtes Lächeln liegt auf meinen Lippen und ich genieße das Gefühl der Ruhe das die Umgebung ausstrahlt. Dies ist einer der seltenen Momente, die ich so liebe, denn er ruft ein angenehmes Gefühl in mir hervor. Ein Gefühl der Geborgenheit, das Wissen, dass irgendwo all die Antworten auf meine Fragen existieren.
Meine Gedanken sind jetzt wieder bei dem toten Mädchen. Ich stelle mir vor, wie sie ausgesehen hat. Ich weiß nichts von ihr, nur dass sie etwa 9 Jahre alt war. Sie hatte also ihr ganzes Leben noch vor sich, wie es so schön heißt.
Der Weg, auf dem ich gehe, führt langsam in ein kleines Waldstück. Auch hier sieht man den Herbst schon ganz deutlich. Ein Eichhörnchen huscht über den Weg. Wahrscheinlich sucht es gerade Vorrat für den Winter zusammen, aber für mich ist das ohne Belang.
Meine Schritte führen mich zielsicher dahin, wo ich hin will. Leise höre ich schon Wasser plätschern, ein Geräusch, das ich liebe, weil es mich schon so oft aus meinen Gedanken gerissen hat.
Ich folge dem Weg weiter, immer tiefer in den kleinen Wald, immer näher an mein Ziel. An den Ort, den ich sehen will, aus Gründen, die ich nicht weiß. Es ist einfach ein Gefühl, tief in mir, das mir sagt, ich solle mir diesen Ort einfach mal anschauen. Ein Gefühl, dem ich nicht widerstehen kann und auch nicht will.
Der Boden unter meinen Füßen hat sich verändert, aus dem harten, steinigen Feldweg ist ein weicher, an manchen Stellen mit Moos bewachsener Pfad geworden. Ein wenig Sonnenlicht fällt auf den grünen Waldboden, der so voller Leben ist. Doch das alles interessiert mich mit einem Schlag nicht mehr, denn ich sehe den Fluss, sehe das klare Wasser.
Meine Schritte beschleunigen sich etwas und schon im nächsten Augenblick stehe ich am Ufer. Das fröhliche Plätschern von Wasser liegt in der Luft und ich sehe den Grund weswegen ich hierher gekommen bin - der Fluss.
Das Licht bricht sich an der Oberfläche des Wassers und blendet mich förmlich. Ich atme erst einmal einige Male tief ein und aus. Mein Puls ist schneller geworden, das Blut rauscht in meinen Ohren. Ich kann mir nicht erklären, was mit mir plötzlich los ist. Hier ist nichts, was ungewöhnlich wäre und ein solches Empfinden in mir auslösen könnte.
Meine Augen sind auf die Wasseroberfläche gerichtet während ich noch näher ans Ufer gehe.
In diesem Moment sind alle Fragen in meinem Kopf wie weggewischt, in mir ist nur noch eine Leere, die bis in die letzten Ecken meines Körpers reicht.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dastehe, meinen Blick auf das Wasser gerichtet und meine Arme vor meiner Brust verschränkt.
So etwas ist mir noch nie passiert. Nie vorher habe ich diese tiefgehende Leere in mir gespürt. Es ist komisch, aber ich habe mich in diesen Momenten wohler gefühlt als je zuvor.
Und da sind sie wieder, die Fragen in meinem Kopf, doch es sind nicht die üblichen Fragen.
Warum war dieses Mädchen hierher gekommen und was hatte es hier gemacht? Warum ist sie in das Wasser gefallen?
Normalerweise würden diese Fragen mich nicht interessieren, doch aus einem unerfindlichen Grund brennen sie sich tief in meine Gedanken ein. Ich bin gewiss kein Mensch, der sich in das Leben anderer einmischt und darin herumschnüffelt, aber jetzt hätte ich große Lust dazu.
Ich schüttle meinen Kopf. Was geht plötzlich in mir vor? Das kenne ich ja gar nicht an mir.
Ich lausche dem Wind, der durch die Blätter und Nadeln der Bäume streicht und schaue weiter auf den Fluss. Eigentlich habe ich erwartete, dass sobald ich das Wasser sehe, die üblichen Fragen in mir wieder kommen, aber dem ist nicht so. Das verwirrt mich irgendwie.
In diesem Moment wird mir eigentlich klar, wie wenig ich über mich selbst bescheid weiß. Ich kenne mich kaum selbst...
Der Rest des Nachmittags vergeht wie im Flug. Ich mache mich nach ein oder zwei Stunden wieder auf den Nachhauseweg, lasse es mir allerdings nicht nehmen, an das Grab des Mädchens zu schauen. Es ist ein komisches Gefühl, auf dem Friedhof zu stehen. Ich kannte dieses Mädchen doch noch nicht einmal, warum bin ich jetzt überhaupt hier?
Der Himmel hat sich zugezogen, als ich über den Friedhof wandere und der Wind ist kälter geworden.
Da erinnere ich mich an etwas, was mir neulich widerfahren ist. Es war während einer Theaterprobe, glaube ich. Ein kleiner Junge kam auf mich zu und sah mich mit seinen großen, dunklen Augen an, während ich versuchte Jana zu erklären, dass sie zwar keine schlechte Schauspielerin sei, aber sich noch mehr anstrengen muss, damit sie sich in die Herzen des Publikums hineinspielen kann. Die Szene spielte auf einem Friedhof.
Ja, jetzt erinnere ich mich ganz genau, an jedes einzelne Wort, das ich von mir gab, auch Janas verletzen Blick habe ich wieder vor meinem inneren Auge. Kaum stand Jana wieder auf der Bühne und versuchte ihr bestes zu geben, damit ich zufrieden bin, sprach der Kleine mich an.
Ich weiß nicht, was er in der Halle zu suchen hatte, aber ich schickte ihn auch nicht weg, denn das vermochte ich einfach nicht.
"Was spielt ihr da gerade?"fragte er mich mit seiner piepsigen Stimme und zeigte auf die Bühne, auf der Jana immer noch versuchte meine Anweisung zu befolgen.
Ich musste einen Augenblick überlegen, ehe ich ihm den Titel des Stückes nennen konnte.
"Das Stück, das gerade geübt wird, heißt "Kinder der Nacht"."
Er sah mich an, blickte dann kurz auf die Bühne und fragte dann weiter.
"Um was geht es in dem Stück?" seine Stimme klang in meinen Ohren sehr neugierig. Ich setzte mich wieder auf meinen Stuhl und er nahm neben mir Platz.
"Nun, es ist eigentlich ganz einfach. Es geht um eine Frau, die nach etwas sucht, und sich dabei in jemanden verliebt." mir fiel auf, dass meine Stimme im Gegensatz zu seiner etwas gelangweilt klang.
"Warum weint die Frau auf der Bühne dann. Meine Mama hat gesagt, wenn man sich verliebt, dann ist man glücklich und lacht die ganze Zeit." forschte der kleine Junge weiter nach.
"Hm..." machte ich. Ich musste überlegen, wie ich ihm die Geschichte des Stückes erklären konnte, so dass er es vielleicht sogar verstand. Ich war nie gut im Umgang mit Kindern gewesen. Zugegeben, ich habe mir nie wirklich Mühe gegeben. Aber wie konnte ich dem Jungen jetzt erklären, dass es in dem Theaterstück um eine Hure ging, die sich nicht damit abfinden will, dass die Gesellschaft sie verachtet und auch dagegen vorgehen will?
"Nun, die Frau weint, weil jemand gestorben ist." gab ich ihm schließlich zur Antwort. Wieder blickte der Kleine mich an. Ich hätte mich fast ein seinen Augen verloren.
"Das ist traurig, habe ich Recht?" fragte er mich. Ich nickte, ohne etwas zu sagen. Der Junge schwieg eine Zeit und sah mit mir Jana zu, die sich immer noch abmühte ihr Spiel zu perfektionieren.
"Warum kommen Leute, die Tod sind eigentlich auf den Friedhof und warum müssen sie sich unter der Erde verstecken?" seine Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Ich habe ihn sehr überrascht angesehen, denn das was er gesagt hatte, überraschte mich sehr.
"Was meinst du mit "unter der Erde verstecken"?" Hackte ich nach, denn das waren die Worte, die mich überrascht haben.
"Nun... alle die Tod sind werden eingegraben, fast so, als wollten sie sich verstecken. Warum wird das gemacht?"
Diese Worte gaben mir Grund zum Überlegen. So hatte ich die Sache noch nie gesehen. Ja, eigentlich hatte der kleine Junge ja Recht. Es scheint wirklich so, als ob die Toten sich unter der Erde verstecken. Auf diesen Gedanken wäre ich nie im Leben gekommen.
"Ich weiß nicht, warum das so gemacht wird." gab ich ihm zur Antwort, wohl wissend, dass er sich damit wohl nicht zufrieden geben wird. Mein Blick war von nun an starr auf die Bühne gerichtet, ich hörte seine Worte nicht mehr...
Hier auf dem Friedhof muss ich wieder an die Fragen des kleinen Jungen denken. Auch wenn er noch so klein ist, er hat interessante Gedankengänge. Zum ersten Mal wird mir klar, dass ich vielleicht nicht die einzige Person bin, die von so vielen Fragen gequält wird. Ich lächle und gehe weiter, bis ich zum Grab eines Freundes komme, der auch hier begraben liegt. Ich bleibe davor stehen und lasse meinen Blick über die goldenen Lettern des Grabsteines wandern. Dann knie ich mich hin und sage:
"Sag mal Marcus, versteckst du dich dort unter der Erde? Wie ist es da unten in deinem Versteck? Vor was versteckst du dich da unten?"
Ich weiß ganz genau, dass das wahrscheinlich ein riesiger Unsinn ist, aber ich kann mich nicht zurückhalten. Ich habe keine Antwort erwartet, und nach einigen Minuten stehe ich wieder auf, werfe noch einen kurzen Blick auf das Grab, dann drehe ich mich um und gehe.
Werde ich denn je eine Antwort auf all meine Fragen finden? Oder werde ich ewig in der Dunkelheit der Unwissenheit herum suchen? Ich weiß es nicht - noch nicht. Das Leben eröffnet mir immer neue Wege, die ich gehen kann und auch gehen werde. Heute habe ich verstanden, dass ich nicht der einzige bin, der sich Fragen stellt, auch der kleine Junge von neulich ist so wie ich.
Vielleicht brauchen manche Antworten einfach nur Zeit, um gefunden zu werden. Vielleicht ist es auch besser auf manche Fragen keine Antworten zu finden. Wer weiß? Ich weiß nur, dass ich es nicht weiß, aber ich werde alles daran setzen um es herauszufinden.