Gedanken eines Kindes
Mein Erinnerungsvermögen an meine Kindheit setzte ungefähr im zarten Alter von etwa 2 bis 3 Jahren ein. Damals bin ich ein ausgesprochen „braves“ Mädchen ge-wesen. So jedenfalls wurde ich von den Erwachsenen betitelt. Wenn ich so liebenswürdig, mit meinen langen, zauseligen Haaren, die stets am Oberkopf zu ei-nem wippenden Pferdeschwanz zusammengebunden waren, dasaß und jeden angrinste, kam es nicht selten vor, dass man mir mit der flachen Hand auf den Kopf fasste und dann in extremste Streichelorgien verfiel. Nie ohne die begleitenden Worte: „Duuuu bist aber ein braves Mädchen!“ Ein „braves Mädchen“ war etwas Positives. Das hatte ich früh erkannt. Dieses exzessive Kopfstreicheln gefiel mir nicht. Dennoch ließ ich es geschehen, weil es einfach Vorteile bot, wenn man ein braves Mädchen war. Man bekam Schokolade, ab und zu mal einen „Taler“, den man dann stolz ansah und sich überlegte, welches Stück der großen weiten Welt wohl damit zu kaufen war. Außerdem brachte man noch ein weiteres Attribut mit mir in Verbindung: „Niedlich“ hörte ich die Erwachsenen im Zusammenhang mit meiner Person oft sagen. Ich war also ein niedliches, braves Mädchen. Man hat mir Rüschenkleidchen angezogen und Lackschühchen. Das gefiel mir ausgesprochen gut. Denn, wenn ich in diesem Outfit steckte, war noch öfter von „niedlich“ die Rede. Die Eltern präsentierten mich stolz. Ich fand das in Ordnung und durchaus angemessen.
Die Kunst des Sprechens erlernte ich relativ früh. Im Alter von 2 Jahren konnte ich bereits perfekt ganze Sätze sprechen. Meine ersten Lebensjahre sind eigentlich geprägt von dem Bild, dass ich ständig am Rockzipfel meiner Mutter hing. Ich ließ meine Mutter keine Sekunde aus den Augen. Meist thronte ich auf einem dicken Kissen auf der Bank in der Küche. Von dort oben hatte ich einen perfekten Überblick und Mama konnte sich nicht meinem Blick entziehen. Ich saß dort stolz und aufmerksam. Musste Mama dann doch mal irgendetwas erledigen, wobei sie mich nicht in ihrer unmittelbaren Nähe gebrauchen konnte (was mir stets missfiel), wurde ich in ein kleines Gehege gestellt oder gesetzt. Dieses Gehege hatte einen buntbedruckten Boden, der mit Decken, Kissen und Spielzeug übersät war, weiße Netzwände und ein poppig orangefarbenes Geländer rundum. Wenn ich dort abgesetzt werden sollte, kam Mama stets an und hob mich lächelnd empor, wobei sie dann fröhlich sagte: „Mein braves Mädchen! Jetzt kommst Du in Dein Laufställchen.“ Dieses Gehege war also ein Laufstall. Nur, laufen konnte man dort nicht. Es befand sich zuviel Spielzeug darin. Außerdem fand ich es entwürdigend, hinter weißen Netzwänden dahinzuvegetieren, während draußen das Leben tobte, Mama interessante Dinge tat und ich nicht daran teilhaben konnte. Da hätte ich doch dabei sein können! Was sollte ich also in diesem blöden Laufstall? Regel-mäßig überkam mich eine depressive Phase in diesem orange eingefassten Gehege. Ich entschied mich, regungslos sitzen zu bleiben und in ganz schlimmen Fällen stellte ich auch mein unaufhörliches Geplapper ein. Dies veranlasste meine Mutter nämlich stets, einen verstohlenen Seitenblick auf mich zu werfen. Und schlagartig erschien eine steile Sorgenfalte auf ihrer Stirn. Ich sah mich bestätigt, dass meine Entscheidung, schweigend und unbeweglich mein Schicksal in dem Laufstall anzunehmen, mich aber auch am schnellsten wieder befreien konnte. Wer kann schon ein depressives Kind sehen? Diese grossen fragenden Augen, der leicht geöffnete Mund und die hängenden, runden Wangen. So können nur Kinder dreinschauen. Diesen Blick beherrschte ich geradezu perfekt. Und er funktionierte prima! Mama ließ sich davon beeinflussen, hob mich aus dem Laufstall und platzierte mich wieder auf dem dicken Kissen auf der Bank in der Küche.
Nun war ich zufrieden. Das Mundwerk stand nicht still und die depressive Phase war vorbei, noch bevor sie richtig begonnen hatte.
Bekam meine Mutter Besuch, war es für mich klar, dass ich sie keine Sekunde aus den Augen lassen würde. Dann saß ich auf meinem „Thron“ und betrachtete den jeweiligen Besucher argwöhnisch, wobei ich natürlich höflich lächelte und mir dachte: Hoffentlich gehst Du bald wieder! Ich ließ mir auch die Streichelarien und das fast tägliche Abschmatzen meiner Patentante gefallen. Das Bild eines braven Mädchens sollte nicht getrübt werden, ich war immer bestrebt, stets ausgesprochen niedlich auf die Erwachsenen zu wirken. Mama bot dem Besuch dann Kaffee an. Ich wurde dabei stets übersehen. Keiner dachte daran, auch mir einen Kaffee anzubieten. Damit ich mich über diese Geste nicht bis in alle Ewigkeiten ärgern musste, beschloss ich in frühester Kindheit, niemals Kaffee zu trinken. Man brauchte mir also gar keinen anzubieten, ich hätte ihn sowieso abgelehnt. Nein, stattdessen hat man mir eine rosa Tasse vor die Nase gestellt, vorne und hinten mit einem kleinen Tiermotiv bedruckt. Sie war aus Kunststoff. An den Seiten hatte sie zwei Henkel und oben drauf einen milchig-weißen, leicht durchscheinenden Deckel mit einer speziellen Trinktülle. Diese Tasse war meist mit leckerem Tee oder erfrischender Milch gefüllt. Aber niemals mit Kaffee! Sie hatte zudem im Boden ein Gewicht, das dafür sorgte, dass die Tasse nicht umkippen konnte. Sie konnte sich leicht zur Seite, nach vorne oder nach hinten neigen, aber stets hatte sie im Nu ihre aufrechte Ausgangsposition wieder erreicht. Ja, dies war eine ganz besondere Tasse und hatte richtig tolle Vorteile gegenüber anderen Tassen. Z. B. konnte man die Tasse aufsetzen, den Kopf ganz weit nach hinten biegen, die Henkel loslassen und dann unter hektischem Saugen an der Trinktülle, die Tasse freihändig leeren. Das war mit anderen Tassen nicht möglich. Meine Tasse konnte man auch an beiden Henkeln packen und sie dann mit Schwung auf dem Tisch kreiseln lassen, bis den aufgedruckten Tieren ganz schwindelig wurde. Auch das funktionierte mit allen anderen Tassen nicht. Und ausgerechnet ich durfte so eine tolle Tasse mein Ei-gen nennen.
Einmal, als die ältere Dame vom Haus nebenan meiner Mutter einen Besuch abstattete und Mama für sich und die Nachbarin Kaffee kochte, sollte auch mir etwas Köstliches vergönnt sein. Meine heißgeliebte Tasse wurde an diesem Tag mit Kakao gefüllt! Wir drei Frauen, Mama, die Nachbarin und ich saßen also gemütlich beisammen in der Küche und verzehrten unser Getränk. Ich saß da und lächelte in einem fort.
Dann dachte ich mir, dass ich doch auch einen interessanten Beitrag zu diesem in meinen Augen ansonsten eher langweilig verlaufenden Gespräch bringen müsse und so fing ich an zu überlegen. Meine Gedanken schweiften ab. Es galt, einen interessanten Einwand zu bringen, bevor die Unterhaltung noch einschlief. Während meinen Überlegungen sah ich mir die ältere Dame, unsere Nachbarin, etwas genauer an. Mir fiel ihr weißes Haar auf, ihr recht kräftiger Körperbau. Sie hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit einer Romanfigur von Agatha Christie, nämlich „Miss Marple“. Jener „Miss Marple“, die seinerzeit schrullig, eigensinnig und sehr erfolgreich von Margret Rutherfort verkörpert wurde. Genau wie Margret Rutherford war auch die nette Nachbarin durch leicht maskuline Gesichtszüge gezeichnet. Außerdem fiel mir die große, rote Nase auf. Eine jener Nasen, wie man sie in Kinderfilmen z. B. beim Räuber Hotzenplotz entdecken konnte. Eine Nase in Form einer kleinen Kartoffel. Die Haut spannte sich großporig in matter rot-lila Tönung über dieses Wunderwerk an Nase. Unsere Nachbarin hatte eine einzigartige Nase, die es verdient hatte, dass man sie mal anerkannte und eine höfliche Bemerkung diesbezüglich machte. Außerdem mochte ich die ältere Dame sehr gern und ein liebes Kompliment würde sie bestimmt erfreuen.
Ich überlegte mir diesen einen Satz ganz genau, bevor ich ihn aussprach. Schließlich sollte mein Einwand dem, meiner Meinung nach, mittlerweile eher schleppend verlaufenden Gespräch zwischen meiner Mutter und der Nachbarin eine ganz neue Wendung geben. Mein Hirn arbeitete auf Hochtouren, ich hatte den Satz in meinen Gedanken bereits gebildet, grammatikalisch perfekt. Dann atmete ich tief durch und sagte in einer Redepause der Erwachsenen freundlich lächelnd, im Brustton der Überzeugung: „Tante Grete, Du hast aber eine wunderschöne große, rote Nase!“
Ich war sehr stolz auf meinen Einwand. Nun konnte das Gespräch in für mich interessantere Bahnen gelenkt werden. Z. B. warum die Nachbarin überhaupt eine so einzigartig große Nase hatte oder warum sie so rot-lila in der Farbe war. Aber stattdessen verstummte das Gespräch jetzt vollends. Schon dachte ich, man hätte meinen Einwand womöglich überhört und ich wollte gerade zu einer Wiederholung ansetzen, als mir auffiel, dass Mamas Gesichtsausdruck auf eine gewisse Verlegenheit hin deutete. „Tante Grete“ schwieg ebenfalls, mit geweiteten Augen und leicht geöffnetem Mund. Ich dachte schon, dass ich nun doch endlich den Satz wiederholen musste, als die Nachbarin in ein lautes Gelächter ausbrach! Nun verstehe mal einer die Erwachsenen! Machte sie sich jetzt etwa lustig über mich? Über mich, die sich diesen einen Satz so sorgfältig und gut im Geiste zurecht gelegt hatte? Nein, das durfte nicht sein. Gerade als ich schon heulen wollte, weil ich mich von der Erwachsenenwelt völlig unverstanden fühlte und ausgelacht wurde, holte unsere Nachbarin mit ihrem Arm weit aus und hatte wohl vor, mir mit der Hand über’s Gesicht zu streicheln. Ich kannte diese Geste, die sie öfter anwandt. Stets fand sie mich dann niedlich. Also, dachte ich mir, lacht sie dich nicht aus. Nein! Die Nachbarin freute sich wohl doch über mein Kompliment und lachte vor Freude! Dass ich das aber auch so missverstehen konnte!
Nun freute ich mich auch und wippte ausgelassen auf meinem dicken Kissen hin und her. Die Nachbarin konnte so gar nicht meine Wange erreichen, um sie zu streicheln. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung und irgendwann stieß die Nachbarin mit dem Arm hinter meine heißgeliebte Tasse und fegte sie mit einem Wisch in hohem Bogen vom Tisch. Die Tasse flog quer durch die Küche und kam auf dem Fußboden, kurz vor der uns gegenüberliegenden weiß tapezierten Wand zum Stehen. Ich wollte schon wütend aufbrausen, weil niemand das Recht hatte, meine Tasse so durch die Gegend zu schleudern, als mich der Anblick der wippenden Tasse, aus der gleichmäßig in alle Richtungen der Kakao spritzte, in wahres Entzücken versetzte! Die weiße Tapete hatte nun braune Tupfen. Der helle Küchenteppich ebenfalls. Es war eine Freude, mit anzusehen, was diese Tasse alles konnte! Meine Tasse! Mama lachte ebenfalls. Ihr schien der Anblick der um sich spritzenden Tasse genauso viel Vergnügen zu bereiten wie mir. Die Nachbarin verharrte leicht und lachte weniger. Na, sie hatte sich ja schon so über mein Kompliment gefreut und so herzlich gelacht, dass sie nun wohl nicht mehr so laut lachen konnte. Dann entschuldigte sich die Nachbarin doch tatsächlich bei meiner Mutter. Wieso bei meiner Mutter? Ich meine, sie hatte doch MEINE Tasse runtergestoßen! Ach, ich hätte ihr sowieso verziehen. Diese Tasse war unverwüstlich und sorgte an diesem erst so langweilig begonnenen Nachmittag schließlich doch noch für allgemeine Erheiterung.
Meine Mutter und die Nachbarin haben den Vorfall nie wieder erwähnt. Ich hingegen dachte noch oft an diesen lustigen Nachmittag und war stolz, dass ich mit meiner Äußerung „Tante Grete“ ein freudiges, lautes Lachen entlocken konnte.