Gedanken einer Taube
Es war eines Frühlings, als die Taube gerade mit einem Stöckchen im Schnabel zu ihrem Nest flog. Während des Fluges bemerkte sie, wie ein junger Mann sie beobachtete. An seinem Mund konnte die Taube eine Andeutung eines Lächelns erkennen. Die Taube wunderte sich schon immer über die Menschen. „Ob die wohl auch Nester bauen?“ fragte sich die Taube und flog weiter.
Diesen Frühling hatte sie den perfekten Platz für ein Nest gefunden. Weit oben in einer Baumkrone. Mehrere schwere Äste und dichtem Blattwerk, schützend vor Wind. Hoch genug, um keine Räuber erwarten zu müssen und was noch viel wichtiger war, Ruhe; keine lärmenden Straßen in der Nähe und keine Spielplätze. Die Taube freute sich auf diesen Frühling, wie auf keinen zuvor.
Immer wieder ging ihr der Mann durch den Kopf, der sie beim Vorbeifliegen beobachtet hatte. Sie begegnete vielen Menschen, aber wenige beachteten sie. Diejenigen, die sie beachteten versuchten meist sie zu verscheuchen. Einige wenige wollten sie füttern, mit altem, ranzigem Brot. Davon hielt die Taube nicht viel. Sie wollte in keinem Fall, auch nur in irgendeiner Art und Weise auf den Gedanken kommen, abhängig von den Menschen zu werden, wie so viele ihrer Artgenossen. Sie missbilligte es, wie untertänig die meisten Tauben um die Menschen herumstreunen, suchend nach jedem kleinen Körnchen liegengebliebener Nahrung; Abfall der Menschen. Die wenigsten machten sich offensichtlich Gedanken darüber. Es war der einfachste Weg als Taube über die Runden zu kommen, aber sie hatte sich geschworen diesen Weg nicht zu gehen.
Die Taube hatte keine Lust sich noch länger Gedanken über die Menschen zu machen, sie wollte viel lieber ihr Nest weiter aufbauen und den Frühling genießen. Irgendetwas sagte ihr, dass sich die Menschen schon genug selbst Gedanken über sich machen.
Es war eines Frühlings. Der junge Mann kam gerade aus der S-Bahn heraus und wollte in Richtung seiner Wohnung gehen. Gedankenversunken schlenderte er die Straße herunter. Es gab viele Dinge, die ihn beschäftigten. Es raubte ihm manchmal nachts den Schlaf.
Der junge Mann blieb kurz stehen und schaute sich den blauen, wolkenlosen Himmel an. In diesem Moment flog eine Taube mit einem Stöckchen im Schnabel vorbei. Dieses Bild erfüllte ihn mit einer unglaublichen Ruhe und Frieden. Er konnte es nicht erklären und im Innersten seines Herzens fragte er sich: „Was denkt diese Taube wohl?“