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Gedanken der Josefine

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07.03.2002
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Gedanken der Josefine

Als ich die Tür aufschließe spüre ich bereits seine Gegenwart. Er ist noch da, all meinen Ängsten zum Trotz. Leise, damit er mich nicht hört, schiebe ich mich durch die Tür, doch er hat bereits auf mich gewartet, steht im Zwielicht, bei den Gegenständen und Übergängen, ganz unmenschlich wie ein Ding. Und er pulst vor Leben. Ich spüre ihn wie das Vibrieren des Windes am Fenster. Tief in mir kann ich schon seinen Herzschlag hören. Einen doppelten Herzschlag. Meinen und seinen zusammen, in einem völlig chaotischen Rhythmus.
Eine Berührung unserer Finger würde genügen um das zu synchronisieren.
Es war nur eine halbe Stunde. Und er hat mir so sehr gefehlt, als wären Wochen vergangen.

Manchmal nachts… da teilen wir Träume. Dann wenn wir weiter gegangen sind als uns nur zu küssen. Das ist in den letzten zwei Wochen oft passiert. Und das hier jetzt? Ist das auch ein Traum? Ich weiß nicht genau. Die Grenze zur Fiktion und die Grenze zum Verbrechen, die ist in unseren Köpfen doch schon lange überschritten. Was fehlt, ist eigentlich nicht mehr als eine körperliche Formalität.

Meinen ersten Orgasmus den ich in Gegenwart eines anderen Menschen erlebte, war nicht mein eigener sondern seiner. Aber ich spürte die Wellen und die anschließende Entspannung durch mich fließen, nicht nur durch ihn. Es war fremd und anders. Schön. Kaskadenartig trieb er durch die feinen Härchen auf meiner Haut, durch die Adern und Muskeln in einem Körper, der plötzlich mehr war als nur meiner. Seit diesem Moment will ich mit ihm schlafen. In was für eine abgründige Tiefe könnte so eine Verbindung noch führen?
Mit jedem Schritt den ich ihm nun näher komme, kehren auch die Farben zurück, die sein Verlust im Park vorhin ausgebleicht hat. Anfangs nur das intensive Blau und das Rot der Acrylbilder an der Wand. Dann das sanfte Grün des Drachenbaumes, das zitronige Gelb eines Regenschirmes auf dem Schuhschrank, das bleiche Braun meiner Stiefel auf dem Boden und die winzigen blaugrünen Sprenkel im Grau seiner Iris, als Alexis ganz dicht vor mir steht.

„Es tut mir leid. Das vorhin. Ich hab es nicht so gemeint. Ich…“
Er schweigt. Worte sind Sklaven. Worte sind wertlos.
Unsicher sehe ich mich um, während er mich aufmerksam fixiert. Wenn ich jetzt an ihm vorbei gehe kann ich ihn anfassen. Ich sehne mich danach seine Haut mit meinen kühlen Fingern zu streifen. Doch als ich tatsächlich einen Schritt auf ihn zugehe, weicht er zur Seite und lässt mich durch, ganz ohne Körperkontakt. Dabei atmet er aus, als würde die Nähe ihn verletzen. Das aber ist kein Schmerz. Das ist Sehnsucht.
Es gibt so viele Versionen in meinem Kopf, von dem was jetzt passiert. Keine von ihnen hat irgendwas mit dieser Realität hier zutun. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich atme nicht. Viele kleine Funken die zwischen uns hin und her springen, blitzen und knistern. Unsichtbar, unhörbar. Es zieht mich unwillkürlich zu ihm. Ich kann nicht anders. Meine Hand nähert sich sehr bedacht und langsam seinem Gesicht. Und auch jetzt noch, mit allen Sinnen erfassbar, ist dieser Magnetismus am anschwellen. Wird immer stärker, je näher ich ihm komme.

Als meine Fingerspitzen seine weichen Lippen ertasten, spülen Gefühle wie das Wasser eines gebrochenen Staudammes durch ihn. Eine fremde Mischung aus unsagbarer Angst und warmer, bebender Erregung. All seine Erfahrung bringt ihm jetzt gar nichts mehr. Es wird für uns beide ein erstes Mal sein, weil so andersartig und seltsam, heimatlos im Vokabular der normalen menschlichen Erfahrungen.
Nun gibt es keine Sprache mehr. Sie ist überflüssig. Bilder fressen sich von der Stirn hinab durch den Nacken, durch die Brust, verteilen sich in Blut und Faser und lassen seinen Mund zittern als er meine Hand küsst. Er kämpft dagegen an um die Spannung zu halten, die jetzt wirklich anfängt weh zu tun. Mir auch. Sein Wille wird von ihr langsam, Stück für Stück, angemeißelt und abgetragen. Meiner ist längst weg.
Ich weiß was er sich wünscht. Ich kenne jedes noch so winzige Detail und die Ehrfurcht, die ihn bisher gezwungen hat nicht weiter zu gehen. Er will mich vollkommen und er glaubt, es wäre irgendeine Art von Garantie dafür, dass ich nicht mehr gehen kann wenn ich mich offen zu ihm bekenne. Was braucht er mehr an Versicherung als dieses unglaubliche Geschenk unserer geistigen Verbindung, als unser Blut das fließt als gäbe es nur einen Kreislauf?

Ich presse meinen Körper an seinen und stelle mir vor wie er sich in mir anfühlen wird, auch wenn ich es noch gar nicht weiß, aber ich kann nicht anders. Hitze in Fieberwellen rast dabei durch uns. Er antwortet mit dem Gefühl von Verschmelzung.
Manchmal umschleichen wir gefährlich dicht diese Grenze. So nah waren wir aber einem endgültigen Kontrollverlust noch nie. Es fehlt nicht mehr viel. Das ist so betörend, macht besessen. Ich kann nicht mehr aufhören. Genau das ruft die Angst die sich mit Hunger paart und Wahnsinn gebärt. Sie sind völlig irrational und so furchtbar stark. Ich glaube ihm nicht wenn er sagt, wir wären in der Lage das jemals zu kontrollieren.
Wenn wir jetzt vorsichtig sind und uns langsam voran bewegen, ist es als würde jeder sich selbst berühren, im Körper des anderen. Wir folgen einem gemeinsamen, sehr schmalen Pfad an Eindrücken, der uns voran trägt. Solange wir ihn nicht verlassen, bleiben wir eine Einheit. Aber meistens dauert dieses Ineinandergreifen nur wenige Sekunden. Ich wünsche mir, dass es für immer anhält. Könnte ich es irgendwie, würde ich ihn sofort verschlingen, damit uns nichts mehr trennt.


Doch plötzlich, sehr unvermittelt, schlägt er meine Hand weg und schubst mich so grob von sich, dass ich hart an die Wand hinter mir pralle und eine Vase mitreiße. Das habe ich nicht kommen sehen. Damit habe ich nicht gerechnet, obwohl ich ihm schon so nahe war. Ich schreie auf, mehr vom Krach des zerbrechenden Glases als von seiner Gewalt. Der Schmerz schleudert mich in meinen eigenen Körper zurück. Ich war noch nie so präsent wie jetzt. Aber das ist nur eine erste, kurze Endladung und vielleicht sein letzter Versuch sich dagegen zu wehren.

Alexis atmet angestrengt tief durch die Nase und schiebt sich so weit wie möglich von mir weg. Doch ich stürme wieder auf ihn zu und meine Hände greifen nach seiner Kleidung an der ich zerre. Ich muss ihn küssen. Nicht sanft. Nie wieder aufhören. Er gehört nur mir! Zerbeiße seine Lippen und Wangen. Und schlage dabei so fest auf ihn ein, dass ich selbst fast weine. Mit aller Kraft versucht er mich von sich weg zu drücken, doch es gelingt ihm nicht, seine Muskeln versagen. Er gibt auf. Jetzt ist alles zu spät. Grob beginnt auch er an meiner Jacke zu reißen. Zerrt an meiner Hose und der restlichen Sachen bis ich nackt auf dem kalten Boden liege, er über mir. Ich zurre an seinem Gürtel und brauche eine gefühlte Ewigkeit bis ich die Hose endlich offen habe.
Es gibt kein Zurück mehr. Mit einem heftigen Ruck der mich aufschreien lässt, dringt er in mich ein. Gierig und heiß. Es tut einen Moment furchtbar weh. Aber dieser Schmerz macht mich so lebendig und ganz wie noch nie zuvor. Was gefehlt hat ist jetzt endlich da. Es ist vollständig.

Eine ganze Dimension aus Gefühlsnuancen wächst, wie tausend Welten im blauweißen Licht der Stadtdämmerung. Der Wind am Fenster. Draußen die Bäume im Regen. Das Holz. Die Wand. Der Lack. Ich rieche das Salz in meinem Bruder und in mir selbst die warme, schwarze Erde. Heißes Blut rauscht durch meine Ohren. Ein wenig wird mir schwindlig davon. Aber da existiert eh schon nichts mehr außerhalb der Berührung, außerhalb der Grenzen unserer Haut, die nirgendwo endet. Wir fließen in diese Verbindung hinein, zu keinem Unterschied ob Ich, ob Du, ob Es.

Dann wagt er es nicht mehr sich zu bewegen. Sein Körper ist meiner. Unsere Gefühle weichen nicht mehr voneinander ab, fließen analog wie ein einziger breiter Strom. Dieser vorher so flüchtige Faden ist ein festes, materielles Etwas, das nicht reißen wird, solange wir uns so nahe bleiben. Es tut ihm leid, dass er mir weh tut. Es tut mir leid, dass ich ihm wehtue, mit meinen Fingernägeln in seinem Rücken. Wir spüren einander. Wir atmen einander, fest umklammert, gibt es keine Hindernisse mehr zwischen uns. Erinnerungsfetzen, seine, meine, sie vermischen sich und verschmelzen zu neuen Bildern und Worten. Völlig wirr und sinnlos. So ein heftiges Dröhnen im Kopf und es dauert lange bis es stiller wird.

In der ganzen Zeit rühren wir uns nicht. Nur unsere Lippen die sich in einem Kuss verfangen haben. Ich spüre ihn: wie er mich spürt und sich selbst. Und er fühlt mich, wie ich ihn wahrnehme. Wie eine endlose Reflektion die ins Nichts führt. In eine endgültige Auflösung. Wie Auslöschung von Identität oder Persona, Auslöschung von allem, das jemals außerhalb von uns war, abseits des Kernes den man Seele nennt. Das ist unaussprechlich. Es gibt keine Worte dafür, und gleichzeitig ist es so körperlich, wie ich noch nie etwas empfunden habe. Ich dachte nicht, dass das überhaupt möglich ist. Es zieht mich in die äußersten Fasern seiner Haut, presst mich ins Jetzt. Alles an mir beginnt zu fühlen, sogar meine Haarspitzen. Jeder Lufthauch wird wie ein Streicheln. Seine Lippen an meinem Hals sind wie ganze Umarmungen. Die Finger an meiner Schulter erschließen Welten.

Ich weiß jetzt warum ich ihn wie eine Wahnsinnige Tag und Nacht suchen musste. Warum er mir so gefehlt hat. Er ist der Schlüssel. Wir sind ganz. Wir sind viel mehr als das und dehnen uns weit darüber hinaus, lassen Körpergrenzen hinter uns. So etwas kann niemand kontrollieren. Das ist nicht Nähe. Das ist…
Als er meine, nein seine Hand probeweise auf den kalten Boden setzt, spüre ich das aufglühende Beigebraun der Materie, die millimeterkleinen Unebenheiten des Parketts, die Rückstände des einstigen Lebens im Holz, das geatmet und gefühlt hat. Darunter Beton, darunter vibrierender Stein und Erde, darunter irgendwo pulsierende, dröhnende Magma. Ich schiebe ihm mein Becken entgegen und er beginnt sich langsam zu bewegen. Aber ich kann nicht unterscheiden ob ich oder er Lust dabei empfindet oder was Leben von Tod trennt.

 

Alexis schrieb zu ihrer Geschichte (bitte Anmerkungen immer in einen separaten Beitrag):

Sorry noch kurz bevor ihr das lest: die Geschichte gehört eigentlich zu einer Serie an Kurzgeschichten die lose zusammen hängen. In den Vorgänger-Stories erfährt man u.a. das die beiden Protagonisten Empathen sind. Das nur zur Erklärung (warum, werdet ihr merken). Ich habe nicht vor, die restlichen Teile auch hier zu posten, daher markiere ich den Thread auch nicht als "Serie".
Ich würde sehr gerne eure Meinung dazu wissen. Hab jetzt schon länger nichts mehr hier hoch geladen aber meistens mitgelesen.
Ich habe das Gefühl, dass diese Geschichte sehr zäh und schwer zu lesen ist. Es gehört zwar zum Charakter der Figur "Josefine" einen trägen Erzählstil zu haben aber es sollte ja auch nicht unlesbar sein.

Was denkt ihr darüber?

 

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