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Gedächtnislücken
Gedächtnislücken
Als ich die Tür aufschliesse, sehe ich sie. Tom, der hinter mir steht, sieht sie auch. »Was grinst du so blöd?« frage ich ihn etwas pikiert, »nur zu deiner Erinnerung - du wolltest sie sogar tragen.«
»Typisch Frau, regt sich so über ein altes Kleidungsstück auf, spöttelt Tom schadenfreudig.
»Oh nein, mein Lieber, nur keine Ausflucht jetzt. Es geht nicht um ein altes Kleidungsstück, sondern dass wir beide uns geirrt haben. Du sitzt also im gleichen Boot, wie ich!« Die Schadenfreude meinerseits kann ich mir schlecht verkneifen.
Auch wenn wir beide schon im vorgerückten Alter sind, Gedächtnislücken kennen wir eigentlich noch nicht. Im Gegenteil, wir sehen uns immer noch als flexibel und rüstig. Aber die Geschichte der Reihe nach erzählt:
Wir wollen nach einem kurzen Wochenende im Ferienhaus nach Hause fahren. Als ich mich ins Auto setze, stelle ich fest: »Ich habe meine Jacke im Haus vergessen.« Tom zieht die Augenbrauen hoch und sagt suffisant: »In letzter Zeit macht sich eine gewisse Vergesslichkeit bei dir bemerkbar.«
Seine Meinung ist mir jetzt egal. Auch wenn die Jacke alt und abgetragen ist, der Kragen wie eine Speckschwarte glänzt, am Ärmel ein paar kleine Löcher von spitzen Welpenzähnchen sind, für mich ist sie immer noch schön und sie gehört einfach zu mir. Immer das gleiche, Männern müssen etwas zu meckern haben. Es bringt nichts, ihm erklären zu wollen, dass eine Lederjacke erst mit einer gewissen Patina und deutlichen Altersspuren interessant ist. Männer sehen das einfach ganz anders. Ich bin sicher, dass ich die Jacke von zuhause mitgenommen habe; in der Hast des Packens vom Haken genommen und auf den Rücksitz ins Auto geworfen.
Dann schliesse ich die Tür im Ferienhaus nochmals auf und - oh Schreck - da ist die Jacke nicht. Ich kann die Garderobe noch so anstarren, sie wird nicht wie durch Zauberhand plötzlich dort hängen. Hm.., wo könnte sie denn noch sein? Bestimmt habe ich sie beim Metzger liegen lassen, kommt mir in den Sinn. Ja, ich bin sicher, dort habe ich sie ausgezogen und liegen gelassen.
Ich eile zurück zum Auto. Tom spielt nervös mit den Fingern am Steuer.
Atemlos lasse ich mich auf den Beifahrersitz fallen und verkünde: »Ich habe sie beim Metzger vergessen.«
Das sieht Tom überhaupt nicht so: »Kann nicht sein, du hast die Jacke erst nach dem Einkauf beim Metzger ausgezogen. Ich habe dir darauf angeboten sie für dich zu tragen.« Von diesem höflichen Angebot weiss ich hingegen nichts, lasse ihn aber in diesem Glauben. Dann fügt er noch hinzu: »Es ist Sonntag, der Laden ist zu.«
Insgeheim freut er sich, ich sehe es ihm doch an. Komisch, ich meine die Jacke beim Metzger vergessen zu haben und Tom ist sich sicher, dass er sie für mich tragen wollte. Er sieht meine Stirnrunzeln und meint: »Kauf dir eine doch Neue!« Genervt startet er den Motor. Ein rational denkender Mann, der Tom! Wie unsensibel Männer doch sind. Das ärgert mich. Auf der Heimfahrt beschäftigt mich das Thema immer noch. Um Tom nicht noch mehr zu reizen, verliere ich kein Wort mehr darüber, rekonstruiere aber in Gedanken, wo meine Jacke noch sein könnte. Dann fahren wir zuhause in die Garage ein. Ich steige aus, schliesse die Tür auf - und da hängt meine Jacke am Haken, wo sie immer ist.
»Ich grinse gar nicht blöd«, sagt Tom, »und was heisst im gleichen Boot sitzen? Bist du sicher, dass ich etwas von Tragen gesagt habe?« Ich erwidere nun auch süffisant: »Ganz sicher, sollen wir jetzt über deine Vergesslichkeit sprechen?"