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Gedächtnislücke

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16.07.2003
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Gedächtnislücke

Das müsste bei dir schonmal vorgekommen sein.
"Erinnern Sie sich nicht mehr an mich?"
-Du erinnerst dich nicht mehr an ihn. Hastig überfliegst du noch einmal deine Kindheitserinnerung, in Eile durchsuchst du dein gesamtes Gedankenhaus nach dem Gesicht deines Gegenübers und dem dazugehörenden Namen. Unsicher wirst du dabei, willst die Erinnerung aus dir hinauspressen, aber du schaffst es nicht. Und du hast keine Zeit mehr, denn er sitzt vor dir, mit lächelnden Augen, aufrecht, deine Antwort erwartend. Erinnern Sie sich nun oder doch nicht?
Eine peinliche Situation, dieses Erinnerungspiel. Aber irgendetwas musst du antworten, bei so viel Erwartung. Was aber ist nun die angemessene Reaktion? Du hast drei Wege, denen du folgen kannst.
Weg eins:
- "Nein."
Das ist sehr ehrlich und direkt. Aber soviel Mut haben nur wenige, und es gehört auch eine gewisse Überwindung dazu, weil du ja dadurch zugibst, dass dein Gegenüber dir aus deinem Gedächtnis entfallen ist. Du wirst dich fragen, wie dein Gegenüber darauf wiederum antworten soll und dir vielleicht vorwerfen, durch deine Direktheit sowohl dein eigenes Gesicht als auch das des Vergessenen verloren zu haben.
Da ist es schlauer, dem subtileren Weg zu folgen. Du musst einfach so tun, sein Name läge dir auf der Zunge.
- "Ich weiß wer du bist. Sag’s nicht! Sag’s mir nicht! Du bist doch der......."
Bitte bemerke hier, dass "Sag’s nicht!" in Wirklichkeit "Sag’s mir! Sag’s mir! Bitte bitte sage doch deinen Namen" bedeutet. Du kannst kaum erwarten, dass dein vergessenes Gegenbüber sich endlich enthüllt und dir seine Identität preisgibt - und versuchst, diesen Moment noch irgendwie herbeizuführen, um dann mit einem übertriebenen "Natürlich!" vorzugeben, dass nur ein kleiner Moment noch zum triumphalen Erinnerungsmoment gefehlt hat und er durch seine Namensverraterei dir diesen Triumph grausam genommen hat. Aber selbst wenn du eine Variation dieses Weges, wie zum Beispiel ein
- "Verrate es nicht! Ich brauche manchmal eine kleine Weile, bei Namen..."
benutzst, heißt das doch auch nur im Klartext etwas anderes. Denn was du wirklich sagen wollest, war "Bitte foltere mich doch nicht noch länger... Gib mir keine kleine Weile - Bitte bitte sage mir doch wer du bist..." Genaus das ist es. Folter. Wir wollen andere nicht verletzen und begehen dabei eine Lüge - eine Lüge, die unseren eigenen Stolz und das des Gegenübers schützen soll. Tut sie es aber wirklich? Statistiken zeigen, dass die meisten gewalttätigen Auseinandersetzungen der menschlichen Geschichte ihre Wurzel in so einer eigentlich doch sehr höflichen Feigheit vor der Wahrheit haben. Der Drang des Menschen, andere nicht verletzen zu wollen, hat in dieser Form Menschenleben um Menschenleben gekostet und ungezähltes Unleid über die Menschheit gebracht. Aber trotzdem gehen wir immer wieder dem kleineren Übel aus dem Weg, um dann dem größeren folgen zu müssen. Wie auch im dritten Weg, dem leider meist gewählten, und dem mit der größten Schicksalhaftigkeit:
- "Natürlich erinnere ich mich an DICH!"
Wenn du diesen Weg gewählt hast, darfst du auf keinen Fall vergessen, dass er nicht mehr rückgängig ist. Du musst nun der vorgeschriebenen Bahn folgen und das Spiel der Lüge mitspielen. Natürlich wirst du versuchen, durch geschicktes Nachfragen an die so heißbegehrten Informationen zu kommen. Und zwar so schnell wie möglich, damit du aus dieser Zwangsgesprächssituation herauskommst und endlich ein ehrliches und genießbares Gespräch mit deinem Gegenüber anfangen kannst.
"Schön, dass du mich nicht vergessen hast."
"Wie könnte ich nur! Bei so vielen Erinnerungen..."
"Ja, die gute alte Zeit... wann haben wir uns denn das letzte Mal gesehen?"
Hier der erste Hinweis für dich. Ihr habt euch lange nicht mehr getroffen. Du erhälst die wichtige Chance, deinen Unbekannten in einen zeitlichen Rahmen einzuordnen.
"Weiß nicht... vor 10 Jahren?" - er zieht die Augen zusammen und gafft komisch - "oder 20?" - er schaut etwas weniger misstrauisch, und du entscheidest dich, ein Risiko einzugehen, in der Hoffnung, noch mehr herauszubekommen: "Abschlussfeier der Schule, oder?"
"Ja, das müsste das letzte Mal gewesen sein..."
"Lange her, nicht wahr?"
'Lange her.."
Während du das Gespräch mit so unpersönlichem Schnickschnack noch weiter über Wasser hälst, gehst du vorsichtig der heißen Fährte nach und erinnerst dich an einen damals doch sehr unauffälligen Mitschüler, sein Name war
"Thomas?"
Schweigen. Mittellanges Schweigen und ein unsicherer Blick deines Gegenübers. Mist, misslungener Versuch. Aus dieser doppelt steifen Situation musst du nun irgendwie wieder herauskommen und du versuchst, sie irgendwie zu retten.
"Ich meine, weißt du, was aus Thomas geworden ist? Ich habe ihn auch seitdem nicht mehr gesehen, glaube ich..."
"Thomas? War der in unserer Klasse? Ich weiß nicht, aber ich kann mich nur an einen Thomas in unserer Fußballmannschaft erinnern."
Fußballmannschaft? denkst du. Habe ich da mitgespielt? Vielleicht in der achten, ein Jahr... Ist "unsere" Fußballmannschaft die aus der Schule? Muss doch so sein, aber einen Thmas gab es da nicht. Oder doch? Dir wird das mit Thomas zu kompliziert und du entscheidest dich, oder vielmehr überwindest dich dazu, das Gespräch etwas natürlicher werden zu lassen.
"Zu wem hast du denn heute noch Kontakt?"
"Eigentlich mit fast gar keinem mehr, außer vielleicht Natalie"
"Die Natalie?" - die erste Person, an die ihr euch beide zu erinnern glaubt - "wie geht es ihr?"
"Ziemlich gut, so scheint es. Sie hat leztes Jahr einen Türken geheiratet und heißt jetzt Özdemir mit Nachnamen."
"Haha.. Natalie Özdemir.. wie witzig!"
Endlich lacht auch dein Gegenüber und du versuchst weiterhin, die lezten Ecken deiner verstaubten Gedächtnisbibliothek zu durchleuchten und irgendwie auf den Namen der Person zu kommen, mit der du dich gerade so nett unterhälst. Aber auf keinen Fall darfst du das Gespräch unnatürlich scheinen lassen, deshalb sagst du
"Ja! Grüße sie sehr herzlich von mir!"
"Das werde ich tun, natürlich. Sie wird sich freuen, wieder von dir gehört zu haben."
"Dankeschön."
"Bitteschön."
"Und wie geht es dir? Was hast du so getrieben in der ganzen Zeit?"
Mist, denkst du, diese Frage sollte eigentlich aufgespart bleiben - bis zum Moment der erlösenden Erkenntnis. Aber du musst sie nun verwenden, damit keine komischenn langen Pausen entstehen.
"Ich? Ich bin Lehrer geworden. Ist das nicht witzig? Und dabei war ich doch so verhasst bei denen, bei so viel Unaufmerksamkeit. Ein Hans-guck-in-die-Luft im wahrsten Sinn..."
Bingo! denkst du. Hans? Ist Hans sein Name? Du entscheidest dich nun, volles Risiko zu gehen und betrachtest sein Gesicht wie ein Detektiv.
"Also, Hans..."
Keine Zuckungen! Keine Grimassen! Endlich hast du die erste Hälfte dieser Schlacht gegen das Vergessen für dich entschieden, und könntest vor Freude in die Luft springen, aber leider darfst du sie dir auf gar keinen Fall anmerken lassen. Aber wer zum Teufel ist Hans? Du suchst weiter in deinen Erinnerungen, schaust in Hans' Gesicht, suchst, versuchst, aber du scheiterst.
"Hans, das ist ja drollig! Lehrer! Du?"
"Ja!"
"Ausgerechnet du?"
"Ja. Kaum zu glauben, nicht wahr?"
"Das hätte ich ja nie gedacht!"
"Ich eigentlich auch nicht."
Gut, dass Hans nun Lehrer ist. Aber wer ist dieser Hans? Du verfluchst deinen Erinnerungsapparat, der dir absolut nicht das Geheimnis um diese Person lüften will.
"Es ist doch unglaublich, wie sich die Menschen ändern."
"Ja. Unglaublich."
"Aber es war schön, noch einmal von der alten Zeit zu reden..."
"Und ich habe gedacht, du hättest mich vergessen."
"Nein, nein", lügst du nun, "dich kann man doch nicht vergessen."
"Dich auch nicht, Peter."
Peter? denkst du. Peter? Du heißt doch gar nicht Peter? Jetzt geht dir ein Licht auf - Hans hat dich verwechselt. Er war genauso verwirrt und hat sich nicht getraut, es zu sagen. Nun trägt er genausoviel Schuld wie du. Jetzt sich irgendwie aus dem Staub zu machen. Das ist die Gelegenheit. Du schaust auf die Uhr und machst eine etwas erschrockene Grimasse.
"He, ich muss gehen, Hans."
"Gut. War schön dich wieder gesehen zu haben, Peter."
"Ja, ich denke, wir sollten uns wieder öfter treffen."
"Genau."
"Und grüße Natalie von mir ganz herzlich."
"Mach ich."
"Tschüß!"
Nun hast du es endlich hinter dir. Und du hast veranlasst, dass eine Natalie von einem Peter durch einen Hans gegrüßt wird. Aber eine Lebensweisheit kennst du nun:
Wenn dich das nächste Mal einer mit "Erinnern Sie sich noch an mich?" anspricht, sage nicht nur "Nein." Sondern mache dich so blitzschnell wie möglich aus dem Staub.

(frei nach einer Idee von Luis Fernando Verissimo)

 

Hallo esprungo!

Hm, eigentlich ist die Idee gar nicht so schlecht - besonders das Ende hat mir gefallen.
Was mir weniger zusagt, ist die Form. Der Anfang klingt eher wie ein Aufsatz als wie eine Geschichte - du könntest besser mit einer Situation anfangen und das "du" durch eine Person ersetzen.
Sehr missfallen haben mir Sätze wie dieser hier:

Bitte bemerke hier, dass "Sag’s nicht!" in Wirklichkeit "Sag’s mir! Sag’s mir! Bitte bitte sage doch deinen Namen" bedeutet.
Das klingt, als hältst du deine Leser für ziemlich dumm. Das kannst du vermeiden, indem du es in die Gedanken der Hauptperson einbindest: Frau XY lächelte und hoffte, dass ihr Gegenüber erkennen würde, dass hinter ihren Worten ein verzweifeltes "Sag’s mir! Sag’s mir! Bitte, bitte sage doch deinen Namen!" steckte. (ok, dieser Satz von mir war jetzt etwas blöd ausgedrückt, aber ich hoffe, du erkennst das Prinzip).

Etwas unglücklich fand ich die Stelle mit dem "Hans-guck-in-die-Luft" - klang wie eine billige und leider peinliche Notlösung. So ziemlich das Unglaubwürdigste und Unrealistischste, was ich je gelesen habe. Da musst du dir unbedingt etwas anderes einfallen lassen.

Insgesamt ist der Text ganz ordentlich - aber müsste wirklich umgeschrieben werden. Mach aus dem Aufsatz eine Geschichte, und sie hat wirklich Potential.

dayvs GE-ve
xka

 

Hi,esprungo.

Nette Geschichte, hat mir sehr gefallen. Ist doch immer wieder so ... Menschen verwechseln Menschen und sagen es nicht. Hat Spaß gemacht.

Liebe Grüße

 

Deine Geschichte ließ mich sehr oft schmunzeln. Ich hocke jetzt noch da mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Mir gefällt die Erzählweise, nämlich der Wechsel zwischen Dialog und Gedankengänge von "wir-nennen-ihn-mal-Peter". Das ganze ist aus einer Sicht geschrieben, als sei man selbst dieser "Peter".
Wie Anja hatte auch ich viel Spaß beim Lesen deiner Geschichte.

SpookyNooky

 

Der Text hat mir insgesamt auch ganz gut gefallen, nur lässt sich diese Geschichte vielleicht nicht 100%ig in die Kategorie "Humor" einordnen, sondern eher in die Rubrik "Gesellschaft".

Immerhin beschäftigst du dich ja in deiner Story mit den verschiedensten gesellschaftlichen Zwängen innerhalb Gesprächen, gesellschaftlichen Erwartungen, etc.

Außerdem hast ein paar Mal IHM mit IHN verwechselt, prüfe das noch.

Ansonsten kann ich mich der Meinung von xkaxre nur anschließen, die Geschichet hat Potenzial, du durchleuchtest geschickt die unterschiedlichen Erwartungen der einzelnen Gesprächspartner sowie deren Folgen. :thumbsup:

 
Zuletzt bearbeitet:

danke für die schnellen antworten!
jingles, lol, ich wusste auch nicht, wo die geschichte hinsollte - und da habe ich sie einfach zweimal veröffentlicht (alltag und humor). wo ist die stelle mit "ihm" und "ihn"?
xka, das ende hat dir gefallen? ich muss zugeben, dass ich das sehr schnell und schlampig geschrieben habe (daher auch das mit dem hansguckindieluft, aber nun kam mir die idee, ihn ganz wegzulassen, wie du siehst). der anfang nicht? naja, eigentlich habe ich mir auch überlegt gehabt, die situation näher zu beschreiben und das "du" wegzulassen, aber bin dann zum ergebnis gekommen, dass dadurch die geschichte durch eine einleitung ihren witz verliert... was genau ist der unterschied zwischen einem aufsatz und einer geschichte?
aber dankeschön für die kritik
esprungo

 

Moin esprungo,

Insgesamt hat mir deine Geschichte ziemlich gut gefallen. Die Ausgangssituation ist gut gewählt und das ganze locker und pointiert geschrieben.
Sehr gut fand ich vor allem im zweiten Teil (dem Dialog) die Einschübe "Gut, dass er nun Lehrer ist. Aber wer ist er?".

Was ich nicht so toll fand, war der Anfang. Den empfand ich als doch sehr langatmig und, wie xka (ich kürz das einfach mal ab, weil ich sonst bestimmt mit den X'en durcheinander komm ;)) schon sagte, mehr wie einen Aufsatz. Deine Sätze waren zum Teil sehr lang und es war ziemlich schwer, den Gedanken zu folgen.
Ich persönlich hätte es besser gefunden, wenn die Geschichte nach dem ersten Absatz ("Erinnerst du dich nun oder doch nicht?") gleich mit der vierten Variante weitergegangen wäre. Würde das Ganze um einiges kurzweiliger machen.
Und den letzten Satz (die Lebensweisheit) würde ich vielleicht weglassen. Die Pointe, daß Natalie von Peter gegrüßt wird, ist mMn ein guter Schlußgag, der die Geschichte schön abschließen würde.

Insgesamt eine gute Geschichte, die mir besonders zum Ende hin gefallen hat.

 

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