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Gebrochen
Kaum zu glauben, aber auch Rainer hat Gefühle.
Hier nun eine meiner wenigen "romantischen" Geschichten, wenngleich diese sich natürlich außerhalb der üblichen Bahnen bewegen.
Somit gebe ich diese Geschichte zum Abschuss bereit!
Erinnerungen sind grausam.
Nur zu oft klagen sie unsere Versäumnisse, Fehler oder Dummheiten ein, ohne dass uns die Folgen dessen bewusst wären. So ergeht es auch mir. Wenn ich zurück an meine Schulzeit denke, fühle ich instinktiv meine Unfähigkeit, die Irrtümer vergangener Jahre einzugestehen.
Meine größte Schwäche war gewisslich Janine, die Schwester von Victor.
Victor, mein bester und vielleicht einziger wahrer Freund, den ich jemals hatte.
Wir kannten einander von frühester Jugend an und waren schier unzertrennlich.
Seine Eltern waren im Gegensatz zu meinen Eltern sehr wohlhabend. Dennoch verspürte ich nie wirklich herbe Neidgefühle, was möglicherweise damit zusammenhing, dass ich einen beträchtlichen Teil meiner Freizeit im Anwesen der Garrets verbrachte.
Ich war nicht einfach ein geduldeter Gast in der riesigen Villa, nein, vielmehr gehörte ich zu der Familie.
Zwar zähle ich mich selbstgefällig zu der eloquenten Schar an Zynikern, die auf Partys durch peinliche, destruktive Verbalakte unangenehm auffallen, aber ich bin nicht autoaggressiv genug um einzugestehen, dass die Garrets unter Umständen nur einen sympathischen Spielkameraden für ihren etwas schwierigen Sohn in mir erkannten - Oder zu erkennen vermeinten.
Vic und ich frequentierten die selbe Schule und die selbe öde Klasse.
Wir waren gleich alt.
Wir trugen die selben verwaschenen Jeans der selben Marke.
Wir sahen uns die gleichen öden Filme im Kino an.
Wir waren fast perfekte Klone.
Janine, die eigentliche Protagonistin dieser erbärmlichen Nacherzählung (Ich will meine mangelhafte literarische Begabung nicht verbergen), überragte uns an Jahren, deren zwei, und, nun, lasst es uns Esprit nennen.
Um genau zu sein: Witzig und charmant war sie nur in Gegenwart ihrer widerlich gestylten Schönlinge.
Audrey hatte Janine nicht weniger als sechs Lebensjahre voraus, aber sie konnte sich in keiner Weise mit ihr messen. Sie waren so ungleich, wie Geschwister nur sein konnten. Weder Vic noch ich brachten ihr Sympathie entgegen, was diese allerdings nicht einzufordern imstande schien.
An einem wohl gewöhnlichen Freitagabend nahm meine Naivität eine sicher entscheidende Wendung.
Das Jahr, der Monat, ja, nicht einmal die Uhrzeit spielen dabei keine Rolle. Wichtig sind die äußeren Umstände dieses Abends, der meine Träume der Irrealität, des Wunschdenkens, nachgerade in eine unerbittliche Realität verwandelte, die mich zu dem formte, was ich heute bin.
Der Ich-Erzähler wälzt sich in Nachbetrachtungen des Vormittags betreffenden Tages. Es war ein schwüler Sommertag, dies erachte ich als erwähnenswert, nebst der Tatsache, dass die Sommerferien anstanden.
Mr. und Mrs. Garret befanden sich an der Copacabana, schickten fast täglich eine dieser dümmlichen Postkarten, die eher wie vorgedruckte Rundschreiben, denn wie persönliche Dokumente der individuellen Wahrnehmung wirkten.
Zum Glück hatte Audrey die Mitreise nicht abgelehnt. Vic hatte eine ziemlich gute Ausrede geltend gemacht, die Reise nicht antreten zu müssen: Niedergeschlagen verwies er auf seine linke Hand, die einem jahrtausendefernen Pharao gleich einbandagiert war, als sollte sie Äonen überdauern, um eines gottgewollten Tages von neugierigen Wissenschaftern seziert zu werden.
Er war während der Gymnastikstunde etwas zu lässig über ein schulterhohes Hindernis gegrätscht und fiel wie ein Stein auf der gegenüber liegenden Seite runter. Dummerweise knickte seine Hand bei der unsanften Landung ein und benötigte die weiteten zwei Monate lang ein weißes Gipskorsett.
Er war ohnedies nicht scharf auf Brasilien gewesen.
Janine auch nicht.
Der Grund war folgender: Sie wollte drei Wochen ungestört mit ihren diversen Beaus zubringen.
Zu jenen Tagen war ich sechzehn und in schier nie enden wollender Liebe zu Janine entbrannt. Das Feuer loderte, obgleich es nie entzündet worden war.
Ich kannte sie so lange, akzeptierte sie stets als Schwester meines besten Freundes, aber plötzlich, zu einem Zeitpunkt, den ich nachträglich unmöglich mit Bestimmtheit datieren könnte, sah ich in ihr mehr als das zwei Jahre ältere Mädchen.
Sie war eine junge Frau, und gerade diese Feststellung schmerzte.
Schon als kleines Mädchen verbreitete sie Ahnungen ihrer künftigen Schönheit, und doch erschlug es mich ganz einfach, als ich dieser gewahr wurde.
Nie zuvor spürte ich dieses Verlangen, diese völlige Hingabe an einen Menschen. Sie war nun nicht mehr die Schwester von Vic, sie war ein Engel, der mich in das Land des Regenbogens führen sollte.
Ich weiß nicht, ob sie es wusste oder zumindest vermutete, aber wenn dem so war, reagierte sie auf seltsame Weise: Sie stieß mich nicht ab, nahm mich aber auch nicht an ihre Seite. Jede Nacht, welche ich im Gästezimmer der Garrets verbrachte, ließ mich an meinem Verstand zweifeln. Nicht selten fürchtete ich, verrückt vor Verlangen, Angst und Verzweiflung zu werden. Meine Seele wechselte zwischen Himmel und Hölle, und manchmal, wenn ich wach lag, ertappte ich mich bei dem abstrusen Gedanken wegzugehen, weg von diesem Ort, der mir solch unsägliche Pein bescherte. Es hätte vollends ausgereicht, mit Vics Freundschaft zu brechen, dann hätte ich mich in die selbstgewählte Isolation begeben können, aber ich brachte es nicht übers Herz.
Welch Schande, es zu gestehen: Weniger Vie, als vielmehr Janine zerstreute diesen Gedanken.
Oh, ich wünschte mir ein klares Wort aus ihrem Mund, wie "Musst du dauernd bei uns 'rumhängen?" oder "Ich habe nichts gegen dich, aber...“
Doch nichts dergleichen geschah. Mittags, wenn sie von den Anstrengungen der vergangenen Nacht gezeichnet sichtlich erschöpft in einem der gepolsterten Liegestühle vor dem Pool kauerte und in einen undefinierbaren Gefühlszustand zwischen Wachen und Träumen versank, saß ich zumeist in ihrer Nähe und beobachtete sie verstohlen aus den Augenwinkeln heraus.
Vic und ich hielten uns tagsüber sehr lange vor dem Swimmingpool auf.
Wir sprachen viel, jedoch galt meine ganze Aufmerksamkeit ihr. Wie vollkommen sie mir schien, wie wunderbar, nicht von dieser Welt, zerbrechlich, immer am Rande des Abgrunds tänzelnd, wartend auf jemanden, der sie lieben konnte.
Unnötig zu erwähnen, dass ich jener Retter sein wollte. Und nachts quälte mich die Ungewissheit. In perfekter masochistischer Geißelung stellte ich mir vor, wie ein älterer Junge sie leidenschaftlich auf dem Rücksitz eines Sportwagens an sich drückte, sie küsste, ihre kastanienfarbenen Haare zärtlich streichelte ... und mehr, versinken und liebkosen, und sie würde ihn gewähren lassen, und mehr und mehr, weiter und weiter, den Gipfel ihrer Träume erstürmend.
Ich Narr sah sie vor mir, wie ich es sei, der ihr Herz zu erobern verstehen würde. Unverhohlenen Hass schürte ich gegen ihre Begleiter. Mir stockte der Atem, wenn ich eine jener hämischen Fratzen zu Gesicht bekam. Fratzen - kein zweiter Ausdruck, der meine Gefühle treffender schildern könnte.
Sie waren hübsch, aber nicht wirklich. Es waren Masken, die sie trugen. Ich versteckte mein Antlitz niemals. Ich verblieb immer jener Junge, der weder besonders hübsch, noch besonders hässlich war. Ein Junge, einer von Tausenden. Ich wollte ihnen die Masken herunterreißen, aber dazu kam es nie.
Auf ewig verdammt, ein sympathischer Freund zu sein, kostete ich ihre Nähe so gut es ging aus. Ein Privileg, welches ich in Anspruch nehmen durfte, war es, Janine zu kennen.
Ich meine, wirklich zu kennen. Ihren Beaus klappte die Kinnlade bis zur Brust runter, wenn sie sie abholten, nachdem sie mühsam an ihrem ohnehin makellosen Äußeren herummanipuliert hatte. Sie sahen jene Janine, die hautenge Röcke trug, welche ihre schlanken Beine betonten, jene Janine, die ihre Haare flocht, jene Janine, die Parfüm und Schminke auftrug.
Ich hingegen sah jene Janine, die unbekümmert Hosen trug, welche ihre schlanken Beine wie ein süßes Geheimnis verbargen, jene Janine, die ihre Haare offen über die Schulter hängen ließ, jene Janine, die kein Parfüm auftrug und trotzdem herrlich duftete.
Dies war ein kleiner Trost für mich.
Morgens, und ihre zerzausten Haare hingen in dicken Strähnen in ihr müdes Gesicht. Ich kannte sie. Ich kannte auch die blutjunge Janine, die weinte, als sie nicht zum Konzert der Stones durfte. Janine, die mir anvertraute, sie wäre unsterblich in Brian Connolly, den Sänger der 'Sweet' verliebt; und ich glaube, ich werde zeit ihres Lebens der einzige Mensch sein, der es wusste. Sie zeigte mir beschämt einen Brief, den sie geschrieben hatte und an Brian schicken wollte. Sie drohte mir, sie würde mich umbringen, wenn ich es jemandem erzählen würde.
Das tat ich nicht.
Ich war es, der von ihrem Vorhaben abriet, da sie enttäuscht sein würde, wenn sie eine der üblichen Karten mit kopierter Unterschrift erhalten würde. Es war so ungemein vertraulich, so wunderbar, dass ich es nicht in Worten fassen kann und es deshalb gar nicht erst versuchen möchte.
Und an jenem Freitagvormittag bewunderte ich ihre Schönheit, die sich in einen knappen Badeanzug gezwängt hatte.
Sie dämmerte dahin, regungslos, in Erwartung einer weiteren Nacht, die sich bieten sollte. Vics Sandalen klapperten auf dem Steinweg.
„Nehme er dies Getränk zu sich.“, sagte er kurz angebunden und drückte mir ein Glas in die wartende Hand.
Es war eine Whiskey-Cola, mein bereits vierter Drink. Plump schwammen zwei Eiswürfel obendrauf.
Ich nahm einen Schluck. Vic setzte sich neben mich und ließ die Beine ins Wasser baumeln. Im Gegensatz dazu hockte ich mit unterschlagenen Beinen auf eine der harten Terracotta-Platten.
„Denkst du, es gibt ein Leben nach dem Tod?", fragte er.
Ich blickte in seine Richtung. In den getönten Gläsern seiner Sonnenbrille spiegelte sich das Sonnenlicht.
"Nimm das blöde Ding ab. Ich kann diese ekelhaften Dinger einfach nicht leiden! Das gibt mir das Gefühl, mein Gegenüber will nichts mit mir zu schaffen haben, verstehen du?"
Er verstand, denn er nahm mit einer raschen Bewegung die Sonnenbrille ab.
Ich streifte mit meinem umherschweifenden Blick Janine.
"Die ultima ratio sei vielmehr: Gibt es ein Leben vor dem Tod?"
"Hä?", meinte Vic verwundert.
"Ach, es ist nur ... manchmal ereilt mich der Gedanke, ich könnte sterben, ohne jemals wahrlich gelebt zu haben.", sagte ich.
"Ich mag es nicht, wenn du so geschwollen redest. Dann habe ich das Gefühl, ein geduldeter Idiot neben einem Genie zu sein."
Ich lächelte.
"Ich bin ein Genie, das weißt du doch!"
"Das weiß ich, aber wissen es auch deine Eltern?", flüsterte er und grinste übers ganze Gesicht.
Wahrscheinlich sollte es ein Scherz sein, den ich allerdings nicht kapierte. Die Stunden schlichen sich heimlich wie Diebe davon und überließen uns unserem Schicksal.
Unvergessen der Abend.
Ich war, fast wäre ich geneigt zu sagen wie üblich, stockbesoffen. Legionen an alkoholischen Mixturen hielten sieh an meinem Verstand gütlich und verwirrten mich, was nicht unwesentlich zu meinem Untergang beitrug.
Bedeutend schlimmer hatte es Vie erwischt. Ich schleppte ihn in sein Zimmer und warf ihn ungeschickt auf das Bett, wo er augenblicklich eindöste. Leicht schwankend verließ ich das Zimmer und setzte mich an die Bar im Wohnzimmer. Eine Flasche Martini verführte mich zu einem Schlaftrunk. Ich wähnte mich unbeobachtet und trank direkt aus der Flasche.
"Hast du nicht schon genug?", mahnte eine Stimme hinter mir.
Erschrocken verschluckte ich mich und hustete mehrmals befreiend. Natürlich wusste ich sofort, dass sie es war. Sie trug einen weißen Bademantel, was in mir seltsame Assoziationen mit Engelsgeschöpfen auslöste.
"Genug? Wovon? Vorn Leben? Ja!", sagte ich, ohne in jene lallende Sprechweise zu verfallen, die Betrunkenen zumeist eigen ist.
Sie setzte sich neben mich und nahm die Flasche aus meiner Hand. Ich ließ sie widerstandslos gewähren, zu stark war ich gefangen im Elfenbeinturm meiner Gefühle.
"Wo ist Victor?", fragte sie mich. Sie nannte ihren Bruder immer Victor, niemals Vic.
"In seinem Zimmer.", antwortete ich und versuchte, mich aus dem Bann ihres Blickes zu befreien, was jedoch nicht gelang.
Bedächtig nickte sie. "Du solltest jetzt auch zu Bett gehen."
"Ich sollte mein Herz verschenken, adrett verpackt wie ein Geburtstagspräsent."
Sie schüttelte den Kopf. "Ich werde einfach nicht schlau aus dir: Entweder bist du genial oder ein Dummkopf."
Sie hatte natürlich recht, ich rede oft wirres Zeug, ohne mir dessen bewusst zu sein.
Wahrscheinlich hielt ich mich schon damals für ein verkanntes Genie.
"Bizarr anzunehmen, ich sei genial, spiegeln sich doch Narreteien in meinem Antlitz."
Janine seufzte. "Hör zu, du Trottel, ich werde in etwa einer Stunde von jemandem abgeholt, habe also keine Zeit, für dich Kindermädchen tu spielen. Bitte geh jetzt zu Bett, ja?"
Betroffen starrte ich sie lange an. "Welch böse Absicht. Du weichst von meiner Seite?"
Sie erhob sich vom Hocker. "Ich mag dich ganz gerne, aber wenn du solchen Unsinn quasselst hasse ich dich."
Gewissermaßen war dies eine Art Stichwort für mich. „Das ist Unsinn, ja? Klar, so intelligente Unterhaltungen wie deine Hampelmänner bin ich nicht zu führen imstande! Etwas wie ´Deine Haare sind wie Feuer.' oder 'Du bist das schönste Mädchen, das ich kenne.'
Ist es das, wonach du dich sehnst? Bestätigung?"
Röte stieg ihr ins Gesicht. Ich triumphierte innerlich – und verabscheute mich zugleich.
"Du bist betrunken. Geh jetzt zu Bett, du Blödmann!"
Fast überflüssigerweise fügte sie noch hinzu: "Keiner meiner 'Hampelmänner' ist so von sich eingenommen wie du. Nicht im entferntesten."
"Ja, eingenommen, das bin ich - von dir! Verdammt, ich liebe dich und du scheinst es nicht mal zu merken. Kann dieser Mort von sich behaupten, er kenne dich beinah ein Leben lang? Ich kann es beweisen. Hast du ihm je ein Geheimnis anvertraut? Kaum! So viele Jahre, und nun behandelt du mich wie einen Fremden, wie ein Stück Ballast, welches man nicht mehr benötigt!"
Einen kurzen Moment zögerte sie. Wie töricht war ich doch zu denken, sie könnte es verstehen.
"Ich weiß nicht, ob du das eben Gesagte ernst meinst, aber ich-“
„Ja!“, schrie ich außer mir vor Wut und Hoffnungslosigkeit. "Ja, ich liebe dich, und das ist mein Ernst! Was soll ich denn noch alles tun, um ein Zeugnis dessen abzulegen?"
"Vielleicht glaubst du das, aber ich empfinde nicht das Geringste für dich, außer Mitleid für dein erbärmliches Gehabe! Und das war nie anders, nicht in all den Jahren. Nie etwas anderes!"
Pathetisch formuliert brach mein Herz entzwei.
Sie knallte die Tür ins Schloss und seither habe ich sie wahrhaftig nie wieder gesehen.
Noch am selben Tag verließ ich das Haus der Garrets - für immer. Meine Freundschaft mit Vic blieb bestehen, obwohl es ihm recht seltsam anmutete, dass ich es entschieden ablehnte, noch einen Fuß auf das Anwesen seiner Eltern zu setzen.
Ich sagte, ich hätte zu viel teilgenommen am Leben seiner Familie, das sei nicht gut, und so weiter.
Inzwischen bin ich darüber hinweggekommen; das versuche ich mir jedenfalls einzureden. In Wahrheit sehne ich mich nach ihr.
Dieses Sehnen wird fortbestehen, einerlei ob gut oder schlecht. Wäre mein Leben ein Film, hätte sie sich bei mir entschuldigt, mir recht gegeben und gesagt, dass sie mich ebenfalls liebe.
Doch das ist kein Film und so kann ich nur in manch seltenen Träumen bei ihr sein.
Vielleicht mussten die Dinge in diesen Bahnen verlaufen.
Ich bin nicht kalt und gefühllos, wie man es mir nachsagt, ich bin geläutert.
Das ist alles.
Ich habe mein Herz verschenkt und das ist alles.